# taz.de -- Verschollener Stummfilm: Josef von Sternbergs Erbe
       
       > Von "The Case of Lena Smith", Josef von Sternbergs berühmtem Stummfilm,
       > existieren nur noch wenige Minuten. Eine Publikation geht ihrer Spur
       > nach.
       
 (IMG) Bild: Zu Zeiten des Tonfilms: Josef von Sternerg (li.) mit Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque in Hollywood, 1938.
       
       Eine junge Frau steht vor der Fensterfront eines Wiener Kaffeehauses.
       Drinnen sitzt eine Gruppe von Offizieren. Als sie zögerlich vor der
       Eingangstür stehen bleibt, erweckt sie deren Aufmerksamkeit. Sie geht
       weiter; einer der Männer greift seine Mütze und folgt ihr in sicherem
       Abstand. Ein Zwischentitel verrät seinen Unmut über die Begegnung. "Willst
       du mich vor meinen Kameraden in Verlegenheit stürzen? Wir können in der
       Öffentlichkeit nicht zusammen gesehen werden." Das Mädchen, Lena, sagt dem
       Mann, dass die Behörden ihr das Sorgerecht für ihr gemeinsames Kind
       entzogen haben und den Jungen nur gegen die Zahlung von 1.000 Kronen
       zurückgeben werden. Ungerührt entgegnet der Offizier, dass er so viel Geld
       nicht habe. Als sie droht, ihre Ehe öffentlich zu machen, erklärt er, dass
       sie nichts gewinne, wenn sie einen Skandal provoziere. Höflich grüßend
       wendet er sich ab und lässt Lena auf der Straße stehen. Abblende.
       
       Diese Schlüsselszene aus Josef von Sternbergs berühmten Stummfilm "The Case
       of Lena Smith" markiert den tragischen Wendepunkt in der Geschichte des
       Wiener Hausmädchens Lena Smith. Seit über fünfzig Jahren wurde sie von
       niemandem gesehen. Ihre einzige Überlieferung stammt aus der Feder des
       Filmkritikers Takada Masaru, dessen Szenentranskription 1929 in der
       japanischen Filmzeitschrift Eiga Orai veröffentlicht wurde. Vermutlich
       stellt diese Transkription heute das beste Zeugnis davon dar, wie von
       Sternbergs Film bei seiner Premiere einmal ausgesehen haben mag. Die letzte
       Filmkopie wurde in den Fünfzigerjahren von der Produktionsfirma Paramount
       Pictures zerstört.
       
       Eine kleine Sensation 
       
       Anfang der Fünfziger stieg die amerikanische Filmindustrie vom
       hochempfindlichen Nitrozellulosematerial auf das chemisch vermeintlich
       stabilere Zellulosetriacetat um, nachdem sich die Lagerung der Nitrofilme
       als unkalkulierbares Risiko herausgestellt hatte. Im Zuge dieser Säuberung
       wurden unzählige Kameranegative und Filmkopien, die sich noch auf Nitrofilm
       befanden, für immer vernichtet. Es war die zweite große Säuberungswelle
       nach dem Umstieg der Filmindustrie auf Ton Ende der Zwanzigerjahre. Damals
       war quasi über Nacht die gesamte Stummfilmära mit einem Fingerschnipsen
       entwertet worden. Historiker beziffern den Anteil der verlorenen Filme aus
       der Stummfilmära heute auf erschütternde 85 bis 90 Prozent. Es hatte die
       Studiobosse ein müdes Lächeln gekostete, die kostbaren Negative von
       inzwischen klassischen Stummfilmtiteln den Bulldozern zu überantworten.
       
       Josef von Sternbergs "The Case of Lena Smith" ist der Willkür der Studios
       gleich zwei Mal zum Opfer gefallen. Als er im Januar 1929 als einer der
       letzten großen Stummfilme in die amerikanische Kinos kam, hatte der Tonfilm
       bereits seinen Siegeszug angetreten. Von Sternberg wurde im Gegensatz zu
       vielen seiner Kollegen von den Kritikern wenigstens noch besprochen. Das
       Publikum aber war, wie auch der Kinobetrieb, längst auf Tonfilm
       eingestellt. Als im folgenden Jahr von Sternbergs erster Tonfilm
       "Thunderbolt" anlief, überaus erfolgreich noch dazu, war "The Case of Lena
       Smith" vergessen. Die organisierte Vernichtungsaktion der Hollywoodstudios
       in den Fünfzigerjahren, die von einigen Zeitzeugen als wahres Massaker
       beschrieben wurde (in Filmjournalen tauchen immer wieder Fotos von
       Vorschlaghämmer schwingenden Studioangestellten auf), gab dem Andenken von
       von Sternbergs letztem Stummfilm den Rest. Heute gilt "The Case of Lena
       Smith" als einer der bedeutendsten verlorenen Filme der Filmgeschichte.
       
       Es kam einer kleinen Sensation gleich, als der japanische Filmhistoriker
       Komatsu Hiroshi 2003 auf ein vierminütiges Fragment von "The Case of Lena
       Smith" stieß: in einem Altwarenladen in der Mandschurei. Wie die Filmrolle,
       mit englischen Zwischentiteln, hierher gelangte, bleibt bis heute ein
       Rätsel. Sicher ist, dass sie vorerst das einzige physische Überbleibsel von
       von Sternbergs Film ist. Zugleich enthält das Fragment eine der
       signifikantesten Szenen des Films. Es zeigt Lena und deren Freundinnen Pepi
       und Poldi beim Schlendern über den Wiener Prater, vorbei an Spielbuden und
       Schaustellern, und beim Flirt mit zwei jungen Offizieren. Von Sternberg hat
       die aufgekratzte Jahrmarktsstimmung mit viel Chuzpe eingefangen;
       Doppelbelichtungen und relativ kurze Schnitte vermitteln ein schönes Bild
       vom hektischen Amüsement im Wien des späten 19. Jahrhunderts: eine
       nostalgische Rückschau auf lokale Traditionen mit den gestalterischen
       Mitteln der Moderne.
       
       Dass ausgerechnet diese Szene die Jahre unbeschadet überstanden hat, ist
       vielleicht ein Wink des Schicksals. Für von Sternberg, der Ende der
       Zwanzigerjahre längst in Amerika sesshaft war, bedeutete "The Case of Lena
       Smith" eine Rückkehr in seine alte Heimat, die er Jahre später in seinen
       Memoiren noch einmal äußerst lebhaft beschreiben sollte. Das
       Jahrmarktsfragment scheint fast so etwas wie das Herzstück des Films zu
       sein, in dem, völlig isoliert vom Rest, eine autobiografisch angehauchte
       Sehnsucht zum Ausdruck kommt, die der Kosmopolit von Sternberg bis zu
       seinem Tod mit dem Ort seiner Jugend verband.
       
       Kraus und Schnitzler 
       
       Die Wiener Synema-Gesellschaft und das Österreichische Filmmuseum haben
       Josef von Sternbergs verlorenem Klassiker "The Case of Lena Smith" nun mit
       einer Buchveröffentlichung ein kleines Denkmal gesetzt. Es dürfte das erste
       Buch sein, das sich gänzlich einem Film widmet, der nachfolgenden
       Generationen nicht erhalten geblieben ist. Mitherausgeber Alexander
       Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums, beschreibt das Ziel der
       Publikation folgendermaßen: Zunächst unternimmt "Josef von Sternberg - The
       Case of Lena Smith" den Versuch, basierend auf einer Vielzahl von Schrift-
       und Bilddokumenten, von Sternbergs Film möglichst akkurat zu
       rekonstruieren. Diese historische Studie sollte in einem ästhetisch
       ansprechenden Rahmen geschehen, was nichts anderes heißt, als dass dabei am
       Ende, wie Horwath es unverwechselbar wienerisch-lapidar ausdrückt, ein
       "schönes Buch" herauskommen sollte. Beides ist geglückt.
       
       Horwath und seine Mitstreiter konnten dabei auf einen umfassenden Fundus
       von zeitgenössischen Kritiken, Drehbuchsynopsen und Zensurkarten,
       überlieferten Zwischentiteln, Standbildern, Produktionsnotizen und
       -rechnungen sowie ebenjene Szenentranskriptionen zurückgreifen, die Takada
       Masaru 1929 anfertigte.
       
       Sie ziehen selbst Texte aus der zeitgenössischen Literatur heran (unter
       anderem vom unverwüstlichen Karl Kraus und Arthur Schnitzler, daneben von
       Sternbergs eigene Erinnerungen sowie Felix Saltens Milieuschilderung
       "Wurstelprater"). Die eigentliche Leistung ihres Buches besteht jedoch
       darin, einen Präzedenzfall für die Rekonstruktion verlorener Filme
       geschaffen zu haben. Seit Jahren beschäftigt Archivare und Historiker das
       Problem, wie sie Filme in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückbringen
       können, von denen keinerlei bewegte Bilder, vielleicht nicht einmal mehr
       Standbilder existieren. Was bleibt überhaupt vom filmischen Erlebnis ohne
       die zeitliche Erfahrung, die das Kino doch ausmacht?
       
       Eine Herkulesaufgabe 
       
       1999 versuchte sich der amerikanische Stummfilmexperte Rick Schmidlin an
       der Herkulesaufgabe, die vierstündige Version von Erich von Stroheims
       Klassiker "Greed", die von der MGM noch vor Veröffentlichung im Jahr 1924
       brutal verstümmelt worden war, mithilfe der knapp zweieinhalbstündigen
       überlieferten Fassung und 589 Filmbilder in der ursprünglichen Länge zu
       rekonstruieren. Das Ergebnis ist eine gelungene Annäherung an das Werk
       Stroheims, die allein mit der äußerst erfindungsreich eingesetzten
       Kinestasistechnik (dem Abfilmen von Standbildern) eine Ahnung davon
       vermittelt, was für ein epochales Meisterwerk mit "Greed" verloren gegangen
       ist.
       
       "Josef von Sternberg - The Case of Lena Smith" muss sich damit begnügen,
       ein hypertextuelles Patchwork zu liefern, in dem sich das geschriebene
       Wort, Milieubeschreibungen, Skizzen und Fotos zu einem reichen und
       anschaulichen Bild verdichten. Die Deutsche Kinemathek, die derzeit in
       Zusammenarbeit mit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, dem Centre
       National de la Cinémathographie, dem tschechischen Filmarchiv und dem
       Filmarchiv Austria eine Dokumentation der 33 wichtigsten verlorenen Filmen
       aus Deutschland erstellt, sei empfohlen, sich Ansatz und Struktur des
       Von-Sternberg-Buchs zum Vorbild zu nehmen.
       
       Gleichzeitig wirft das Buch auch ein neues Licht auf das wiederaufgefundene
       "Lena Smith"-Fragment - so wie überhaupt auf den Umgang mit filmischen
       Fragmenten, die immer noch zu den Stiefkindern der Archive gehören. Ein
       Stück Film, das lediglich als narrative Ruine besteht, hat für die meisten
       Menschen keinen bleibenden Wert. Dem Publikum ist die Schönheit eines
       Filmfragments aus sich selbst heraus - im Gegensatz zu archäologischen
       Fundstücken - schwer vermittelbar. Der italienische Restaurator Cesare
       Brandi schrieb in den Sechzigerjahren, dass jedes Fragment ästhetische und
       gestalterische Anlagen des Gesamtwerks enthält und somit auch als
       eigenständiges Werk einen künstlerischen Wert habe. Die Jahrmarktsszene aus
       "The Case of Lena Smith" unterstreicht Brandis These eindrucksvoll.
       
       Alexander Horwath, Michael Omasta (Hg.): "Josef von Sternberg - The Case of
       Lena Smith". Synema, Wien 2007, 304 Seiten, 20 Euro
       
       26 Oct 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Busche
       
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 (DIR) Deutscher Film
 (DIR) Film
       
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