# taz.de -- Interview David Cronenberg: "Etwas Tiefes, Dunkles"
       
       > "Eastern Promises - Tödliche Versprechen" heißt der neue Thriller von
       > David Cronenberg. Ein Gespräch über russischen Akzent,
       > Stalin-Tätowierungen und multikulturelle Träume
       
 (IMG) Bild: Spielt mal wieder den Gangster mit doppelter Identität: Viggo Mortensen.
       
       taz: Herr Cronenberg, Ihr neuer Film, "Eastern Promises", und Ihr
       vorangegangener, "A History of Violence", haben eine Gemeinsamkeit. Sie
       verbinden zwei eigentlich getrennte Sphären, nämlich die der Familie und
       die des organisierten Verbrechens. Wie beschreiben Sie das Verhältnis der
       beiden Filme zueinander? 
       
       David Cronenberg: Natürlich kann ich die Verbindung zwischen den beiden
       Filmen sehen. Aber zugleich sind sie vollkommen verschieden voneinander. "A
       History of Violence" spielt in Amerika. Alle Figuren sind Amerikaner, alle
       sprechen amerikanisches Englisch, ihre Familie entspricht dem
       amerikanischen Modell. Fast alles trägt sich bei Tageslicht zu, in einer
       Kleinstadt auf dem flachen Land.
       
       Während "Eastern Promises" in London spielt. 
       
       Und meistens in der Nacht. Keine der Figuren ist Amerikaner, fast alle
       sprechen Englisch mit Akzent. Was den Schaffensprozess angeht, gleichen
       sich die beiden Filme überhaupt nicht - bis zu dem Punkt, dass es in "A
       History of Violence" eine Menge Schusswaffen gibt, in "Eastern Promises"
       keine einzige. Das Wesen der Gewalt ist ziemlich unterschiedlich. Und die
       Hauptfiguren in "A History of Violence" sind miteinander verheiratet, sie
       haben eine Familie, das trifft auf "Eastern Promises" nicht zu.
       
       Dann sind die Ähnlichkeiten - zum Beispiel dass Viggo Mortensen in beiden
       Filmen einen Gangster mit doppelter Identität spielt - zufällig? 
       
       Ich weiß, das klingt unglaubwürdig. Aber es ist auch rührend, wenn Leute
       denken, man könne als Regisseur immer genau den Film machen, den man sich
       vorstellt. In Wirklichkeit ist es so schwierig, einen Film finanziert zu
       bekommen, dass es ein Wunder ist, wenn man überhaupt etwas zustande
       bekommt. Nach "A History of Violence" hatte ich andere Projekte, die ich
       beinahe realisiert hätte. Wäre es so gekommen, dann sprächen wir jetzt über
       einen ganz anderen Film. Deswegen ist es eher ein bizarrer Zufall, dass die
       beiden Filme ähnliche Sujets haben. Als ich "Eastern Promises" drehte, habe
       ich keinen Gedanken auf den Vorgänger verwendet.
       
       Denken Sie denn überhaupt an Ihre früheren Filme, wenn Sie drehen? 
       
       Nein, ich muss sie vergessen. Konzentrierte ich mich darauf, welche
       Erwartungen die Leute aus meinem letzten Film mitbringen, wäre ich gelähmt.
       Ich könnte keine Entscheidungen treffen. Ich widme mich stattdessen voll
       und ganz der Erschaffung der neuen Welt, in diesem Fall also der Welt der
       russichen Mafia in London.
       
       Was hat Sie an diesem Hintergrund gereizt? 
       
       Den hat Steven Knight, der Drehbuchautor, ausgewählt. Er kommt aus London,
       er hat auch "Dirty Pretty Things" für Stephen Frears geschrieben; die
       Erfahrungen von Einwanderern in London interessieren ihn. Mich sprach der
       Stoff an, weil meine Heimatstadt Toronto sich etwas darauf einbildet,
       multikulturell zu sein. Nicht im Sinne des amerikanischen Schmelztiegels.
       Kaum ist man in Amerika, wird man auf wundersame Weise Amerikaner und gibt
       die eigene Herkunft auf. In Toronto ist es stattdessen so, dass man
       ermuntert wird, eine komprimierte Version seines Erbes zu bewahren - die
       Sprache, die Rituale. Aber zugleich hat man Teil an der
       Mehrheitsgesellschaft. Es ist ein schöner Traum. Manchmal erfüllt er sich,
       manchmal nicht. Oft werden Kriminalität, Konflikte und Animositäten, die im
       Herkunftsland existierten, importiert.
       
       Sie haben für die russischen Gangster keine Schauspieler russischer
       Herkunft gecastet, sondern mit einem multinationalen Team gearbeitet - zum
       Beispiel mit Vincent Cassel, Armin Mueller-Stahl und Viggo Mortensen.
       Warum? 
       
       Das ist kompliziert zu beantworten. Es gibt nicht viele russische
       Schauspieler, deren Englisch richtig gut wäre. Sie hätten aber Englisch
       sprechen müssen, und ich führe schließlich auch auf Englisch Regie. Ich
       wollte osteuropäische Schauspieler finden, und das ist mir ja mit Jerzy
       Skolimowski auch geglückt, er ist Pole und spricht Russisch. Eine andere
       Lösung wäre gewesen, mit englischen Schauspielern zu drehen, die sich dann
       einen falschen russischen Akzent angeeignet hätten. Mich überzeugte das
       nicht, denn die meisten englischen Schauspieler sind sofort als solche zu
       erkennen, zumal für ein nordamerikanisches Publikum. Ich hielt also
       Ausschau nach etwas anderem - nach anderen Gesichtern, Stimmen, Präsenzen.
       Dabei stieß ich auf Vincent, Armin und Viggo. Die Herausforderung war,
       ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie aus demselben Land kommen.
       
       Welche Rolle spielt dabei die Sprache? 
       
       Jeder von ihnen hat eine besondere Beziehung zur englischen Sprache. So
       stellt sich zum Beispiel die Frage, wo sie Englisch gelernt haben. Hat
       Semyon, Armin Mueller-Stahls Figur, die Sprache vielleicht gelernt, als er
       im Exil in einem englischsprachigen Land war? Wir wissen es nicht genau.
       Nikolai, Viggo Mortensens Figur, ist derjenige, der am wenigsten Zeit in
       England verbracht hat, deswegen ist sein Englisch das schlechteste. Er hat
       den stärksten russischen Akzent.
       
       War es nicht sehr schwierig, das herzustellen? 
       
       Beim Dreh war immer ein Russe zugegen, der sicherstellte, dass das Russisch
       akkurat ausgesprochen wurde und korrekt war. Außerdem gab es einen
       Engländer, einen Experten für Dialekte. Der sorgte dafür, dass die Figuren,
       wenn sie Englisch mit russischem Akzent sprachen, den richtigen Akzent
       trafen. Das war viel Arbeit.
       
       Wie ist es denn, wenn Sie Regie bei einer Szene führen, in der Russisch
       geredet wird? 
       
       Ich habe kein Gespür für die Feinheiten. Deshalb bin ich auf den
       Sprachcoach angewiesen. Was ich sehr wohl einschätzen kann, das ist die
       Körpersprache.
       
       Mit der Körpersprache eng verbunden sind die Tätowierungen der Gangster.
       Manchmal haben sie mich an japanische Yakuza-Filme erinnert, in denen die
       Tätowierungen die Lebensgeschichte des Tätowierten erzählen. 
       
       Im Originalskript kam zwar vor, dass die Figuren tätowiert sind, aber es
       spielte noch nicht in dem Maße eine Rolle wie später im Film. Viggo
       Mortensen stieß auf ein fantastisches Buch, "Russian Criminal Tattoo
       Encyclopaedia". Außerdem gab es den Dokumentarfilm "The Mark of Cain". Das
       Buch versammelt Fotografien von russischen Häftlingen, die ihre
       Tätowierungen zeigen. Manche sind obszön, manche politisch. Das Tätowieren
       kam in den Gefängnissen der Zarenzeit auf; die Tätowierungen halfen den
       Häftlingen, zu kommunizieren und sich gegenseitig zu identifizieren. Zu
       Stalins Zeiten änderten sich die Motive, sie wurden politischer, es gab zum
       Beispiel Bilder von Stalin und Trotzki mit Hörnern wie der Teufel.
       
       Wie kamen die Tätowierungen auf Viggo Mortensens Körper? 
       
       Dafür war der Maskenbildner Stephane Dupuis verantwortlich. Wir arbeiten
       schon lange zusammen, er hat für "The Fly" einen Oscar bekommen. Er hat
       viele Tätowierungen aus dem Buch und dem Dokumentarfilm übernommen. Manche
       hat er erfunden, nachdem er ihre Logik verstanden hatte. Er arbeitete mit
       einem Muster, das er mit Tinte nachzeichnete; im Anschluss besorgte er die
       Schattierungen fast wie bei einer richtigen Tätowierung. Ein langer und
       komplizierter Prozess - Viggo hatte immerhin 43 Tätowierungen. Und sie
       bedeuten nicht immer, was man denkt. Zum Beispiel das Kruzifix: Das heißt
       nicht, dass Nikolai Christ wäre, sondern dass er sich selbst als Märtyrer
       sieht.
       
       Ein Tattoo wird Teil der eigenen Identität, weil es unvergänglich ist. Die
       Figur von Viggo Mortensen hat eine ziemlich dubiose Identität. Wie passt
       für Sie zusammen, dass die Tätowierungen eine Identität erschaffen, die
       Figur ihr aber nicht entspricht? 
       
       Es gibt diese existenzialistische Auffassung von Identität - dass Identität
       nichts genetisch Festgelegtes ist, sondern erschaffen wird. Darin steckt
       viel Kreativität, und wir tun das alle. Bei manchen wird es sichtbarer,
       weil sie tatsächlich ihre Identität ändern. Im Film haben wir den Fall
       eines Mannes, der aus Hingabe an seinen Beruf eine falsche Identität
       erschafft. Die wird dann aber seine echte Identität. Wenn er also die
       Tätowierung über dem Herzen und auf den Knien bekommt, die Sterne, die ihn
       für immer markieren werden, dann wissen wir zwar nicht, woher er kam und ob
       er wirklich im Gefängnis war. Aber wir wissen: Die Tätowierungen sind
       falsch. Sie dienen dazu, ihn als Kriminellen glaubwürdig zu machen. Aber
       zugleich bedeuten diese Tattoos, dass er dieses Gangster-Leben führen wird
       - noch für eine ganze Weile, vielleicht für den Rest seiner Tage.
       
       "Eastern Promises" hat auf gewisse Weise auch eine Identitätsverwirrung.
       Der Film ist ein Thriller, der die Genrevorgaben wunderbar erfüllt.
       Zugleich gibt es eine augenzwinkernde Distanzierung - tatsächlich zwinkert
       Viggo Mortensen zweimal in die Kamera, als wolle er sich vom Geschehen und
       von seiner Rolle abgrenzen. In "A History of Violence" war das noch
       ausgeprägter, denn da brach in den perfekten Thriller immer wieder die
       tiefschwarze Komödie ein. 
       
       "Eastern Promises" ist auch ganz schön lustig! Wenn man einen Genrefilm
       dreht, egal ob Horror, Sciencefiction oder Film Noir, muss man sich mit den
       Konventionen des Genres befassen. Man kann daraus eine große Kraft
       gewinnen, denn man muss dem Publikum nicht so viel erklären, es kennt die
       Konventionen und kann deswegen auf einer höheren Stufe in den Film
       einsteigen. Ironischerweise ist es aber so, dass, wenn man alle Regeln brav
       befolgt, vorhersehbar und langweilig wird. Denn das Publikum ist einem dann
       voraus. Das führt zu der seltsamen Situation, dass man den Regeln gehorchen
       und sie zugleich unterwandern muss - zum Beispiel über die Dialoge, die
       Narration oder die Figuren. "Eastern Promises" ist ein Thriller und schöpft
       daraus seine Kraft, aber es gibt da noch andere Facetten, etwas Tiefes,
       Dunkles.
       
       INTERVIEW CRISTINA NORD
       
       26 Dec 2007
       
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 (DIR) Film
       
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