# taz.de -- Interview mit Herfried Münkler: "Keine Angst vor Russland"
       
       > Humanitäre Intervention statt Nichteinmischung lautet das neue Prinzip in
       > Russland, sagt der Politologe Herfried Münkler und wünscht sich für den
       > Kaukasus einen wohlwollenden Hegemon, der für Sicherheit sorgt.
       
 (IMG) Bild: Merkel gruselt's nicht vor Russland. Sie lässt sich sogar Blumen von Putin schenken.
       
       taz: Herr Münkler, nach dem Einmarsch der Russen in Georgien warnen manche
       schon vor einem neuen Kalten Krieg. Ist diese Sorge berechtigt? 
       
       Herfried Münkler: Georgien steht nicht für die Wiederkehr des Kalten
       Krieges, sondern für die Wiederkehr des russischen Selbstbewusstseins. Auch
       für die neue Handlungsfähigkeit des russischen Militärapparats und für die
       beschränkten Optionen der Amerikaner.
       
       Ist das eine Gefahr für den Westen? 
       
       Die Russen haben den Westen ja nicht überrumpelt wie einst in Afghanistan.
       Die Aktion ging von georgischer Seite aus - auch wenn sich eine etwas naive
       Führung in Tiflis vielleicht in eine Falle locken ließ. Natürlich ist das
       Handeln der Russen von einigem Raffinement, aber da haben sie sich manches
       von den Amerikanern abgeschaut.
       
       Von der Vorbereitung des Irakkriegs? 
       
       Eher von den Aktionen, mit denen die Amerikaner seit den Fünfzigerjahren in
       der Karibik angeblich nur ihre Staatsbürger schützen wollten. Wenn man die
       Karibik als Hinterhof der USA betrachtet, dann könnte man für das
       Verhältnis des Kaukasus zu Russland Ähnliches sagen.
       
       So manche Völkerrechtler sagen, das russische Vorgehen in Südossetien sei
       juristisch nicht gedeckt. 
       
       Die entscheidende Frage ist: Hat eine Minderheit das Recht zur Separation,
       wenn der Blauhelmeinsatz der UN gescheitert ist? Beim Kosovo haben die
       Russen das noch verneint. Inzwischen haben sie ihre Rückendeckung für
       Serbien aufgegeben, weil das Land nach Westen strebt. Nun sagen sie sich:
       Dann verabschieden wir uns vom Prinzip der Nichteinmischung in die inneren
       Angelegenheiten anderer Staaten und greifen selbst zum Argument der
       humanitären Intervention.
       
       Es gibt Leute, die das russische Eingreifen in Südossetien mit Hitlers
       Einmarsch ins Sudetenland vergleichen. 
       
       Die Frage ist, ob dieser Vergleich zur moralischen Desavouierung des
       russischen Vorgehens taugt. Es lässt sich schwer bestreiten, dass der
       deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg das
       Selbstbestimmungsrecht vorenthalten wurde.
       
       Sie meinen, Hitlers Vorgehen 1938 entbehrte nicht einer juristischen
       Grundlage? 
       
       Zumindest nicht einer moralischen Grundlage, wenn man das
       Selbstbestimmungsrecht der Völker betrachtet. Die Frage ist, ob dieses
       Selbstbestimmungsrecht Vorrang hat - oder die territoriale Integrität der
       Staaten.
       
       INTERVIEW: RALPH BOLLMANN
       
       Was ist Ihre Antwort? 
       
       Die seit einigen Jahren gebräuchliche Kompromissformel lautete:
       responsibility to protect. Ein Staat ist verpflichtet, die Minderheiten auf
       seinem Gebiet zu schützen. Tut er es nicht, kann man eingreifen.
       
       Gilt das auch für Tibet? 
       
       Die chinesische Führung wird jedenfalls nicht besonders erfreut sein, dass
       die Russen vom Prinzip der Nichteinmischung zum westlichen Modell der
       Intervention umgeschwenkt sind. Bislang haben Moskau und Peking in dieser
       Frage ähnlich argumentiert.
       
       Taugt das Selbstbestimmungsrecht der Völker für Regionen wie den Balkan
       oder den Kaukasus, wo es nie zu einer stabilen Nationalstaatsbildung
       gekommen ist? 
       
       Sicherlich nicht. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Diese
       zurückgebliebenen Gebirgsregionen gehörten immer zur imperialen Peripherie
       der Donaumonarchie, der Osmanen, des zarischen Russlands. Auf dem Balkan
       hat diese Rolle nun die Europäische Union übernommen. Mit ihrem
       Sicherheitsnetz gibt sie kleinen Gruppierungen die Möglichkeit, so etwas
       wie Eigenstaatlichkeit zu entwickeln - wohl wissend, dass sie nie wirklich
       handlungsfähig werden.
       
       Im Kaukasus muss das russische Imperium diese Rolle übernehmen? 
       
       Die Zeiten einer zarischen oder gar Stalinschen Herstellung von Ruhe und
       Ordnung sind vorbei. Aber es müsste so etwas wie einen wohlwollenden
       Hegemon geben, der in dieser sehr zurückgebliebenen Region für Sicherheit
       und Entwicklung sorgt.
       
       Wer sollte das sein? 
       
       Das Problem betrifft nicht nur den Kaukasus. Zwischen der Nato und Russland
       zieht sich eine Pufferzone von Weißrussland über die Ukraine bis zum
       Kaukasus. Die Europäer finden das insgeheim nicht schlecht, offiziell
       räumen sie diesen Ländern aber das Recht auf freie Bündniswahl ein. Für den
       Fall eines Nato-Beitritts zeichnet sich aber schon das Zerbrechen auch der
       Ukraine ab, wo der östliche Teil lieber bei Russland bliebe. Der
       Georgienkrieg würde sich dann in viel größerem Maßstab wiederholen.
       
       Muss die Nato von einer Erweiterung endgültig Abstand nehmen? 
       
       Sie sollte sich mit den Russen über die Einflusssphären verständigen.
       
       Wäre das nicht imperialistisch? 
       
       Imperialistisch nicht, aber imperial durchaus.
       
       Das klingt, als hielten Sie Boykottaufrufe gegen undemokratische
       Regierungen wie in Russland oder China für etwas naiv. 
       
       Diese Formulierung ist noch stark untertrieben. Man kann nicht von außen
       eine Entwicklung erzwingen, die in Westeuropa das Ergebnis vieler
       glücklicher Jahrzehnte gewesen ist. Wenn wir zum Beispiel nicht zu den
       Olympischen Spielen fahren, dann beeindrucken wir damit allenfalls uns
       selbst. Undemokratische Regierungen sind dadurch weniger leicht zu
       beeindrucken, eher kommt es auch in der dortigen Bevölkerung zu einer
       Irritation über das Verhalten des Westens.
       
       Weil man Gefahr läuft, einen Solidarisierungseffekt mit dem Regime
       hervorzurufen? 
       
       Und sich durch das Management der Prozesse zu überfordern, die man damit
       anstößt. Die Unterstützungsfähigkeit des Westens kommt ja schon in
       vergleichsweise kleinen Ländern wie Afghanistan oder dem Irak an ihre
       Grenzen.
       
       Im Zweifel lieber Stabilität als Menschenrechte? 
       
       Das amerikanische Konzept der bedingungslosen Demokratisierung ist
       jedenfalls gescheitert. Einfach nur Wahlen abzuhalten, führt oft nur in
       einen Bürgerkrieg. Deshalb erscheint es vernünftiger, erst auf
       Stabilisierung zu setzen und dann vorsichtig zu demokratisieren.
       
       Manche sehen in Russlands Rohstoffen oder Chinas Wirtschaftskraft schon
       eine Gefahr für die westlichen Demokratien. Ist das so? 
       
       Im Gegenteil. Ein selbstbewusster und starker Akteur kann sich rational
       verhalten. Deshalb sollten wir hoffen, dass die chinesische KP auch in den
       nächsten Jahrzehnten die Rahmenbedingungen für die Entwicklung dieses
       Riesenreichs aufrechterhalten kann. Ein Zerfall Chinas wie zu Beginn des
       20. Jahrhunderts, als sich alle möglichen Mächte zur Intervention berufen
       fühlten, wäre katastrophal.
       
       Halten Sie die Sorgen vor Russland und China für unberechtigt? 
       
       Das sind Horrorszenarien, die von interessierter Seite an die Wand gemalt
       werden. Russland ist kein Grund zum Gruseln. Es ist auf den Rückfluss an
       Dollar und Euro ebenso angewiesen wie wir auf die Lieferung von Gas und Öl.
       Und China wird noch sehr lange brauchen, bis es das Sozialprodukt der USA
       erreicht. Das Pro-Kopf-Einkommen ist dann immer noch viel kleiner. Hinzu
       kommen die immensen demografischen und sozialen Probleme, die sich aus der
       Ein-Kind-Politik ergeben werden.
       
       Es bleibt bei der monopolaren Weltordnung? 
       
       Man sollte bloß die Möglichkeiten des Hegemonen USA nicht überschätzen. Das
       musste jetzt auch der georgische Präsident Saakaschwili lernen.
       
       13 Aug 2008
       
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