# taz.de -- Krisenstimmung in New York: Schlechte Zeiten für Minas
       
       > Die Finanzkrise trifft nicht nur Banker und Bankangestellte, sondern die
       > ganze Stadt. In der Wall Street droht der Verlust von 30.000 Jobs. Viele
       > fürchten Rückkehr von Kriminalität und Armut.
       
 (IMG) Bild: In der Wall Street löst der Absturz von Lehmann Brothers Schockwellen aus.
       
       NEW YORK taz Es ist Feierabend und nahezu gespenstisch still an der Wall
       Street. Die Börsianer sind nach dem Läuten der Schlussglocke um 16 Uhr
       wortlos in die U-Bahn gehastet, um zu Hause ihre Wunden zu lecken. Seit
       Anfang der Woche ist die Finanzkrise im Gang. In den Restaurants und
       Kneipen auf der nahegelegenen Stone Street, auf der sonst nach Feierabend
       Partystimmung herrscht, stehen die Kellner gelangweilt herum und warten auf
       Kundschaft. In der Edelboutique Pink, nur Schritte vom Ausgang der Börse an
       der Ecke Wall und Broad Street, sortieren die Verkäuferinnen die Krawatten
       zum x-ten Mal neu, um sich die Zeit bis zum Ladenschluss zu vertreiben.
       
       Minas Polychronakis hat wenigstens einen Kunden. Ein einsamer Financier
       sitzt bei dem Schuster an der Ecke William Street auf einem der Hochsitze,
       hat seine Galoschen auf den Messingabtritt gestellt und lässt sich von
       einem von Minas Angestellten eine frische Politur verpassen. Das Geschäft
       ist heute besonders miserabel, eine völlig neue Erfahrung ist die Flaute
       für Minas allerdings nicht: "Seit dem 11. September 2001 ist hier unten in
       der Gegend ohnehin nichts mehr so wie früher", sagt der 67-jährige
       gebürtige Kreter, der, von seinem Hexenschuss geplagt, zusammengekauert
       hinter der Ladentheke hockt.
       
       Minas Laden befand sich vor den Anschlägen im Tiefgeschoss des World Trade
       Center. Die Flugzeuge schlugen Gott sei Dank ein, bevor er morgens
       aufgesperrt hatte. Das Geschäft war eine Goldgrube. Die Financiers standen
       bei ihm täglich Schlange, um sich die Schuhe polieren zu lassen. Dann kamen
       die Attentate, viele der Finanzfirmen zogen aus dem Wall-Street-Distrikt
       fort. Bis heute ist die Neubebauung von Ground Zero nicht richtig in die
       Gänge gekommen. Und jetzt, mit der Börsenkrise, wird alles noch schlimmer.
       Allein mit der Investmentbank Merrill Lynch, die panikartig am Montag an
       die Bank of America verkauft wurde, gehen im Börsenkarree 11.000
       Arbeitsplätze verloren. Noch vor wenigen Wochen wurde Merrill als Retter
       für die fünf neuen Bürotürme gefeiert, die in den kommenden Jahren auf dem
       ehemaligen World-Trade-Center-Gelände nur wenige hundert Meter von der Wall
       Street entfernt entstehen sollen. Die Bank hatte sich als erster Großmieter
       angemeldet. Jetzt sitzt Bauherr Larry Silverstein wieder auf seinen
       Millionen von Quadratmetern Bürofläche - und auf seinen 15 Milliarden
       Dollar Baukosten.
       
       Schlechte Zeiten für Minas. Ein kleiner Trost - wenigstens die Kunden des
       Versicherungsriesen AIG, dessen Sitz hier um der Ecke in der Pine Street
       ist, bleiben ihm vorerst erhalten. Die US-Bundesbank hatte den Konzern am
       Dienstagabend vorerst gerettet. Die Börsenkrise trifft allerdings nicht nur
       Minas und seine Kollegen im Finanzdistrikt. Sie trifft die gesamte Stadt
       New York. Die Wall-Street-Bankiers machen zwar nur ein halbes Prozent des
       Arbeitsmarktes der Stadt aus. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen
       von mehr als 280.000 Dollar haben die Wall Streeter allein jedoch insgesamt
       ein Viertel aller Verdienste in der Stadt mit nach Hause genommen. Und sie
       haben das Geld zumeist auch in der Stadt wieder ausgegeben.
       
       Am unmittelbarsten wird es wohl die öffentliche Hand zu spüren bekommen,
       wenn jetzt, wie zurzeit prognostiziert, mindestens 30.000 Wall-Street-Jobs
       in New York verloren gehen. In einer Pressekonferenz am Dienstag,
       eigentlich dazu gedacht, die Bürger der Stadt zu beruhigen, rechnete der
       Budgetbeauftragte des Bürgermeisters, Ronnie Lowenstein, vor, dass der
       Stadt für je 1.000 verlorene Wall-Street-Arbeitsplätze 50 Millionen Dollar
       an Steuereinnahmen weniger zur Verfügung stehen. Wegen der sich
       abzeichnenden Rezession hatte New York in diesem Jahr zwar schon einen
       Verlust von 600 Millionen an Steuern eingeplant. "Aber eine derartige
       historische Krise konnte niemand vorhersehen", so Lowenstein.
       
       Im laufenden Jahr wurde bereits bei den Ausgaben für die Schulen und für
       die Polizei gespart. Die berühmte öffentliche Bibliothek an der 42ten
       Straße konnte nur gerettet werden, weil der Private-Equity-Zar Stephen
       Schwarzmann aus eigener Tasche 100 Millionen Dollar gespendet hatte, bevor
       auch die Kurse seiner Firma ins Straucheln gerieten. Jetzt befürchten
       viele, dass es mit der Stadt wieder so bergab geht wie in den 70er-Jahren,
       als New York Bankrott erklären musste und der Big Apple von innen
       verfaulte. Die Infrastruktur war kurz vor dem Zusammenbruch, die U-Bahnen
       blieben regelmäßig auf offener Strecke stehen, der Müll türmte sich auf den
       Straßen. Armut, Obdachlosigkeit und Kriminalität erreichten einen
       historischen Höhepunkt.
       
       Um zu verhindern, dass es wieder so weit kommt, wurden in dieser Woche
       Stimmen laut, die Bürgermeister Bloomberg entgegen dem Gesetz eine dritte
       Amtsperiode erlauben wollen. Michael Bloomberg, der nur noch wenige Monate
       zu regieren hat, steht für die Blüte New Yorks in den vergangenen Jahren.
       Außerdem gilt der Milliardär wegen seiner Erfahrungen und Verbindungen als
       erfolgreicher Geschäftsmann als der vielleicht Einzige, der New York durch
       die Krise steuern kann. "Niemand außer ihm begreift die Situation so gut",
       sagte Michael Moss, Professor für Städteplanung an der New York University,
       am Mittwoch der New York Times. 
       
       Doch selbst Bloomberg, der als pragmatischer Macher gilt, wird nicht
       einhändig die Stadt retten können. Gerade mit der Immobilienbranche, die
       voraussichtlich am empfindlichsten von der Kreditkrise betroffen sein wird,
       hat Bloomberg in den vergangenen Jahren gehadert. Seine Versuche, die
       beiden derzeit größten Bauprojekte in New York voranzutreiben, sind
       kläglich gescheitert. Angesichts der neuen Situation werden die Vorhaben
       wohl auf unbestimmte Zeit brachliegen. Der lange schier unbegrenzt boomende
       New Yorker Immobilienmarkt droht zum Stillstand zu kommen.
       
       Die "Hudson-Railyards", eine futuristische City in der City auf dem Gelände
       der letzten Industriebrache Manhattans an der Westseite, ist seit seinem
       Amtsantritt 2002 eine Herzensangelegenheit für Bloomberg, der sich gerne
       als Städtebauer ein Denkmal setzen würde. Im Mai dieses Jahres platzte
       jedoch im letzten Augenblick die Finanzierung dieses bürgermeisterlichen
       Traums. Die Investmentbank Morgan Stanley machte als Kreditgeber einen
       Rückzieher. Im Nachhinein weiß man diesen Zug als klares Zeichen für die
       damals bereits wachsenden Schwierigkeiten der Bankenbranche zu deuten.
       
       Schlimmer für die Stadt ist allerdings, dass es für die Neubebauung von
       Ground Zero nach den Schreckensmeldungen der vergangenen Woche gar nicht
       gut aussieht. Schon vor zwei Jahren riss Bloomberg der Geduldsfaden
       angesichts der Untätigkeit in der Baugrube, die seit nunmehr sieben Jahren
       wie ein riesiges Loch im Bauch von New York klaffte. Bloomberg war
       überzeugt davon, dass der Bauherr, World-Trade-Center-Pächter Larry
       Silverstein, nicht vorankam, weil er sich mit seinen Plänen finanziell
       verhoben hatte. Doch Bloomberg konnte lediglich erreichen, dass Silverstein
       einen Teil seiner Hoheit über das Gelände an die Port Authority, einer
       Körperschaft aus Stadt und Staat, abtritt.
       
       Erst vergangene Woche zum 9/11-Jubiläum präsentierte Silverstein an der
       Baustelle, an der noch immer kaum Aktivität erkennbar ist, seine erneuten,
       zum wiederholten Mal dem schwindenden Budget angepassten Pläne. Dass nach
       wie vor nichts geschieht, schob er auf die Port Authority, die mit der
       Schaffung der Infrastruktur nicht vorankäme. In Wahrheit sind jedoch
       vermutlich sowohl Silverstein als auch die Port Authority wegen knapper
       Mittel gelähmt. Die Krise dieser Woche dürfte die Situation wohl
       verschlimmern - die Port Authority hat noch weniger Steuergelder zur
       Verfügung, und Silverstein wird für seine fünf Bürotürme in der derzeitigen
       Lage wohl so leicht weder Mieter noch Kreditgeber finden. "Das Projekt wird
       bestimmt irgendwann fertig", sagt Joe Brancato, Direktor von Gensler, der
       größten Innenarchitekturfirma für Büroräume in New York. "Aber das wird
       sehr viel länger dauern, als wir gedacht haben."
       
       Ob Ground Zero wieder aufgebaut wird oder nicht, ist für einfache New
       Yorker derzeit allerdings wohl die geringste Sorge. Sie müssen sich eher
       Gedanken machen, wie sie in einer drastisch schrumpfenden Wirtschaft
       überhaupt überleben sollen. Unter den Limousinen-Chauffeuren in der
       Wall-Street-Gegend sah man am Donnerstag jedenfalls viele besorgte
       Gesichter. "Ich muss meinen Wagen abbezahlen und nehme ohnehin schon nur
       800 Dollar pro Woche mit nach Hause", klagte Ibrahim Gaye, während er an
       der Ecke zum Broadway auf einen Stammkunden wartete. Der
       senegalesischstämmige Fahrer lebt in der Bronx. "Wenn das noch weniger
       wird, weiß ich nicht, wie ich das noch schaffen soll."
       
       Trotz allem findet nicht jeder in New York, dass die Krise ausschließlich
       negativ ist. Viele von denjenigen, die in den fetten Jahren an den Rand der
       New Yorker Gesellschaft gedrängt wurden, hoffen, dass die Stadt durch die
       Baisse vielleicht wieder ein wenig menschlicher wird. "Vielleicht dreht
       sich in Zukunft hier nicht mehr alles nur ums Geldverdienen und um Konsum",
       sagt etwa der Schriftsteller Ed Hamilton, der seit 14 Jahren in einem
       heruntergekommen Hotelzimmer in Chelsea haust. "Und vielleicht kommen auch
       wieder ein paar Leute in die Stadt zurück, die keine Yuppies sind."
       
       20 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sebastian Moll
       
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