# taz.de -- Daniel Kehlmann veröffentlicht neuen Roman: Kalte Kabinettstückchen
       
       > Die gute Nachricht: Daniel Kehlmann will nicht nur als Autor der
       > „Vermessung der Welt“ in die Geschichte eingehen. Die schlechte: In
       > „Ruhm“ nimmt er seine Leser nicht mehr ernst
       
 (IMG) Bild: Das Wunderkind der deutschen Literatur will sich nicht auf ein Erfolgsrezept verlassen.
       
       Daniel Kehlmann hat eine Neigung zum Kabinettstückchen. Das war schon in
       „Die Vermessung der Welt“ so. Ob er mit wenigen Sätzen die Beschwerlichkeit
       einer Reise mit der Kutsche im 19. Jahrhundert plastisch werden ließ, ob er
       mal eben die noch halb im Erfinden begriffene Fotografie in einer
       Slapstickszene in die Handlung einbaute – in die Parallelmontage um den
       Mathematiker Carl Friedrich Gauß und den Naturforscher Alexander von
       Humboldt wären häufig genug solche Perlen eingestreut. Neben den Dialogen
       waren es diese kleinen, feinen, wie für die Galerie geschriebenen
       Abschnitte, die das Vergnügen an diesem Buch ausmachten.
       
       Diese Neigung hat Daniel Kehlmann keineswegs verloren, auch als der nun
       33-jährige Superstar der deutschsprachigen Literaturszene nicht, der er
       durch diesen einen Roman geworden ist (wenngleich die vielen Porträts über
       ihn noch nicht dazu geführt haben, dass er auf der Straße erkannt wird),
       nachdem er zuvor eine Zeit lang der Geheimtipp und Hoffnungsträger einer
       jungen, postmodern geschulten Erzählszene gewesen war. Auch „Ruhm“, der
       neue, aus neun Erzählungen zusammengesetzte Roman, enthält viele
       Kabinettstückchen.
       
       Man findet hübsche darunter. Mit zwei, drei Sätzen kann Daniel Kehlmann die
       Atmosphäre in einem lichtdurchfluteten Penthouse mit grandiosem Rundblick
       über Rio de Janeiro einfangen – und die Schweinerei, es mit gutem Gewissen
       zu bewohnen, gleich dazu: „Auf dem Meer lag gleißende Helligkeit, jenseits
       der Bucht zeichneten sich, je nach Lichteinfall mal deutlich und mal als
       verschattet graue Fläche, die Berghänge mit den Favelas ab.“ An einer
       anderen Stelle lässt er mit großer Lakonik die elende Vergeblichkeit
       aufscheinen, auf Fernreisen per Handy mit den Lieben zu Hause Kontakt
       aufzunehmen. „ ‚Ach je‘, sagte sie. ‚Wenn du wüsstest.‘ ‚Das Essen?‘ ‚Ach.‘
       ‚Die Leute?‘ ‚Na ja.‘ „ An Stellen wie diesen meint man sich Kehlmann
       wieder als Feinmechaniker unter den Autoren vorstellen zu können. Als
       jemanden, der in aller Ruhe sorgsam an den Rädchen und Schräubchen einer
       Szene feilt, bis sie reibungslos ineinandergreifen.
       
       Ansonsten aber ist „Ruhm“ fundamental anders als „Die Vermessung der Welt“.
       Statt um ein historisches Setting geht es nun um Gegenwart. Erzählt wird
       nicht von bedeutsamen Expeditionen und überlebensgroßen Figuren, sondern
       von alltäglichen Begebenheiten und ganz alltäglichen Zeitgenossen. Der
       Kunstgriff der indirekten Rede, der die „Vermessung der Welt“ so
       eigenwillig und interessant machte, kommt gar nicht vor. Das neue Buch also
       scheint rein gar nichts mit dem vorangegangenen historischen Roman zu tun
       zu haben. Wer auch nur Anklänge an die „Vermessung“ erwartet, wird
       enttäuscht werden.
       
       Wollte sich Daniel Kehlmann als Autor neu erfinden? Das trifft es nicht
       ganz. Eher geht es ihm vielleicht darum, um den gewaltigen Block, den „Die
       Vermessung der Welt“ in seiner Schreibbiografie darstellt – immerhin einer
       der vier wirklich großen Charts-Erfolge der deutschsprachigen
       Nachkriegsliteratur (neben „Die Blechtrommel“, „Das Parfüm“ und „Der
       Vorleser“) -, herumzugreifen und wieder Kontakt mit seinen vorangegangen
       Schreibansätzen herzustellen. Fragwürdige Künstlerfiguren, eher lässig mit
       Fakten umgehende Erzähler, eine Realität, in der die Grenze zwischen
       Wissenschaft und Zaubertrick verschwimmt – all das bevölkert seine frühen
       Romane „Beerholms Vorstellung“ (den Kehlmann, beinahe wunderkindmäßig als
       Anfang Zwanzigjähriger geschrieben hat), „Mahlers Zeit“ und „Ich und
       Kaminski“.
       
       Wenigstens denkbar gewesen war eine Linie, nach der sich Kehlmann nach
       solchen genialischen Anfängen (als die sie dann erscheinen würden) über die
       „Vermessung der Welt“ zum gediegenen realistischen Erzähler entwickeln
       würde. Aber so ist es keinesfalls. In „Ruhm“ betont Kehlmann das Spieler-
       und Zockerhafte seines Schreibansatzes. Er will sich als genuiner Erzähler
       präsentieren, nicht als jemand, der ein Erfolgsrezept verfolgt. Kurz,
       Daniel Kehlmann arbeitet daran, nicht als der Autor der „Vermessung der
       Welt“ in die Literaturgeschichte einzugehen. Er möchte auf gar keinen Fall
       unter einem Markenzeichen geführt werden, und schon gar nicht unter dem
       eines historischen Erzählers.
       
       Das ist erst einmal ein unbedingt nachvollziehbares und sympathisches
       Unternehmen; welcher Autor will schon, wie Patrick Süskind etwa, ein Leben
       lang auf einen Roman festgelegt werden? Das alles ist die eine Seite. Die
       andere ist: Ob es einem gelingt, das Ergebnis dieses Unternehmens, den
       neuen Roman nämlich, zu goutieren, hängt von ganz anderen Gegebenheiten ab,
       von textimmanenten. Davon, ob man die Kabinettstückchen nicht nur in ihrer
       Machart kalt bewundern kann, sondern sie auch intelligent und witzig
       finden. Und davon, ob die Konstruktion des Buchs die Kabinettstückchen zu
       einem funkelnden Ganzen zusammenschließt.
       
       Was den Witz betrifft, fällt einem als Leser bald auf, dass er vor allem
       auf Kosten der Figuren funktioniert. Man muss zum Beleg gar nicht die
       fragwürdigste der neun Episoden anführen. In ihr karikiert Kehlmann,
       technisch durchaus gekonnt, einen fetten, stinkenden, eine computernerdige
       Denglisch-Sprache brabbelnden Internetfreak; es kann schon arg schlechte
       Laune machen zu sehen, wie umstandslos Daniel Kehlmann seine Figuren zu
       denunzieren bereit ist. Belege finden sich überall, ob Kehlmann sich immer
       wieder von oben herab über einen esoterischen Lebensberatungsautor namens
       Miguel Auristos Blancos, eine Paolo-Coelho-Figur, lustig macht; ob er immer
       wieder Nebenfiguren auftreten lässt, denen in Gegenwart eines berühmten
       Schriftstellers nur die eine Frage einfällt, wo er seine Ideen bekomme, und
       die eine Bemerkung, ihm wissen zu lassen, wo sie sein Buch gelesen haben;
       oder ob er, in der Episode „Osten“, einer Reisegruppe in einer ehemaligen
       Sowjetrepublik immer nur Schweinebraten mit Mayonnaise servieren lässt.
       
       „Ruhm“ strotzt vor solchen billigen Witzen. Es ist durchaus erstaunlich,
       wie wenig Widerstände seitens seiner Figuren und Schauplätze der Autor
       Daniel Kehlmann in diesem Buch bei der Produktion seiner Kabinettstückchen
       zulässt. Familienszenen kommen in dem Buch vor, Arbeits- und
       Krankheitsszenen – und dieser Alltag verkommt Kehlmann unter der Hand allzu
       oft zur Karikatur. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Rädchen und
       Schräubchen einfach zu reibungslos ineinandergreifen. Und dann gibt es
       neben den geglückten Kabinettstückchen auch zu viele nicht geglückte. Ganz
       besonders schlimm ist das bei den Sexszenen. Sie sind mit großer
       Gefühlsferne beschrieben und wirken täppisch. Man zähle auf Seite 167 etwa,
       wie oft das Wort „und“ verwendet wird. „… und ihre Hand in meinem Mund und
       meine Arme um ihre Hüfte, und genau in diesem Augenblick …“ Ein ziemlich
       einfaches und auch ziemlich abgenutztes Stilmittel, um leidenschaftlich
       anmutende Rhythmisierungen zu erzeugen.
       
       Auch die Konstruktion hat ihre Vordergründigkeiten. Über Figuren und
       Details werden die neun Episoden miteinander verknüpft. So erfährt man etwa
       in einem hinteren Abschnitt, aufgrund welcher Pfuscherei in der
       Eingangsepisode eine Mobilfunknummer doppelt vergeben wurde, was zu
       Identitätsschwierigkeiten des Handybesitzers führt. Und noch weiter hinten
       erfährt, warum der Pfuscher doch auf einen wichtigen Kongress geschickt
       wurde.
       
       Doch was den Reiz des Entdeckens von Querverweisen haben könnte, erfährt
       man als Leser bald als Schurigelei. Allzu selbstgefällig schiebt der
       Erzähler seine Figuren herum; geradezu ärgerlich in der Episode „Rosalie
       geht sterben“.
       
       Sehr oberflächlich gehaltene Figurenzeichnungen, sehr bedeutungsvoll
       inszenierte Verwischungen zwischen Schein und Sein, zwischen Fiktion und
       Realität (wo es doch spätestens seit Michael Endes „Unendlicher Geschichte“
       zu einem Topos bereits der Jugendliteratur gehört, dass Figuren in eine
       Geschichte hineingezogen werden!) – irgendwann kommt einem der Verdacht,
       Daniel Kehlmann würde seine Leser schlicht unterschätzen. Wahrscheinlich
       ist es ja unfair, aber es reizt einen schon, eine Zeit lang der Vermutung
       nachzugehen, hier wolle ein literarisches Wunderkind einfach mal
       ausprobieren, mit wie geringem Aufwand es nach einem Welterfolg bei der
       Kritik und den Lesern durchkommt.
       
       Das wäre die gemeine Lesart. Eine freundlichere wäre, dass Daniel Kehlmann
       nach der „Vermessung der Welt“ seinen eigenen Schreibansatz neu vermessen
       musste. Das kann dann ja beim nächsten Buch wieder besser gelingen.
       Kabinettstückchen sind schließlich nicht alles.
       
       16 Jan 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dirk Knipphals
       
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