# taz.de -- Streitgespräch zum Volksentscheid: "Pro Reli zerschlägt das Schulfach Ethik" - "Das ist jetzt ein Kampfbegriff"
       
       > Wer darf Werte für den Schulunterricht definieren? Ein Gespräch über
       > Ethik und Religionsunterricht zwischen dem Humanisten Werner Schultz und
       > dem evangelischen Christen Rolf Lüpke.
       
 (IMG) Bild: Am Sonntag stimmen die Berliner über Pro Reli ab. Günther Jauch wirbt auf Großplakaten für die Initiative. Ob er sich damit beliebt macht?
       
       taz: Herr Lüpke, nennen Sie uns fünf Werte, die den evangelischen
       Religionsunterricht ausmachen. 
       
       Rolf Lüpke: Da kommen wir ja gleich zum Kern der Sache. Es geht um die
       Achtung des Lebens, um Menschenwürde, um Frieden, die Bewahrung der
       Schöpfung und Gerechtigkeit.
       
       Herr Schultz, welches sind die fünf wichtigsten Werte des Ethikunterrichts? 
       
       Werner Schultz: Im Schulgesetz sind diese Werte ganz klar formuliert:
       Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit der Geschlechter, Kritik von Rassismus
       und Antisemitismus. Das sind große Werte, die von unserer Verfassung
       getragen werden.
       
       Das klingt gar nicht so unterschiedlich. Nehmen wir einen konkreten Fall.
       Wenn ein Schüler fragt: "Ist der Mensch für sein Glück selbst
       verantwortlich?" Wie antwortet darauf der Religions-, wie der Ethiklehrer? 
       
       Lüpke: Der Religionslehrer würde sicherlich die Verantwortung des Einzelnen
       betonen. Auf der anderen Seite würde er deutlich machen, dass die
       menschliche Autonomie nicht unbegrenzt ist. Dass, wie in der Bibel steht,
       der Mensch der Sünde verfallen ist. Dass er immer wieder scheitert, aber
       aus dem Scheitern umkehren und zurückfinden kann.
       
       Schultz: Wenn es heißt, der Mensch ist der Sünde verfallen, dann finde ich
       das skandalös. Die Kirche kann das natürlich für ihre Mitglieder sagen, das
       ist ihr gutes Recht. Aber das von allen Menschen zu behaupten, halte ich
       für anmaßend. Der Ethikunterricht kann höchstens darüber berichten, dass es
       Religionen gibt, die den Menschen als prinzipiell sündhaftes Wesen sehen.
       
       Die Frage ist: Wer darf die Werte setzen? Staat oder Kirche? 
       
       Schultz: Eine Gesellschaft muss einen Werte-Konsens entwickeln, der für
       alle gilt. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen Religion und
       Ethik: Eine religiöse Werteerziehung kann ihre Position nur für ihre
       Glaubensgemeinschaft formulieren und hoffen, dass das für andere auch
       attraktiv ist. Der Staat aber muss Werte benennen, die für jeden in diesem
       Staat gelten. Auch für die Religionen.
       
       Lüpke: Sicher gibt es Werte, die für alle verbindlich sind. Menschenrechte
       gehören dazu, Rechtstreue könnte man nennen. Viel mehr ist es dann aber
       auch nicht. Und wenn es um Lebenskonzepte geht, hat der Staat meiner
       Meinung nach nichts vorzugeben. Wenn Ethik es sich gar zur Aufgabe macht,
       Religionen zu interpretieren und zu relativeren, überschreitet das Fach aus
       der Sicht der Kirchen seine Kompetenzen. Woher bekommt der Ethikunterricht
       da die Zuständigkeit?
       
       Schultz: Aus der Philosophie, aus den Religionswissenschaften, aus den
       Gesellschaftswissenschaften.
       
       Lüpke: Das ist alles eine Außeninterpretation, die dem Recht der
       Selbstinterpretation, der authentischen Darstellung widerspricht.
       
       Schultz: Niemand will in Berlin den Religionsunterricht abschaffen.
       Entscheidend aber ist, dass ein staatlicher Ethikunterricht etwas anderes
       ist als der Bekenntnisunterricht. Die verschiedenen Positionen
       vorzustellen, sie zu reflektieren und diskutieren, ohne Partei zu werden.
       Das gehört zum professionellen Selbstverständnis eines jeden Ethiklehrers.
       
       Kein Unterricht ist wertneutral. Kann der Staat dieser herausgehobenen
       Position, wie Sie sie beschreiben, überhaupt gerecht werden?
       
       Schultz: Um Wertneutralität geht es nicht, die Werte der Verfassung sollen
       natürlich gelehrt werden. Aber die Schule hat nicht die Aufgabe, einen
       Glauben, ein Bekenntnis zu vermitteln. Sie kann den verschiedenen
       Bekenntnissen nur ihren Ort geben. 30 Prozent der Berliner sind noch
       Mitglied in den christlichen Kirchen, wir leben in einer multikulturellen
       Gesellschaft mit 130 Religionen. Gerade hier besteht die besondere
       Notwendigkeit, ein Fach zu haben, in dem die Jugendlichen zusammen über die
       verschiedenen Bekenntnisse nachdenken. Sie sollen lernen zuzuhören und zu
       verstehen, was der andere denkt.
       
       Herr Lüpke, was ist so schlimm an der jetzigen Regelung, dass alle
       gemeinsam in Ethik über Werte diskutieren? 
       
       Lüpke: Es ist überhaupt nichts Schlimmes daran. Die Schwierigkeit ist aber,
       dass die Teilnahme am freiwilligen Religionsunterricht in den Klassen
       sieben bis zehn zusätzlich erfolgt, und dass diese Zusätzlichkeit den
       Religionsunterricht in den Randbereich der Schule abdrängt. Ethik dagegen
       ist Pflichtfach. Damit erhält ein a-religiöser Zugang zu ethischen Fragen
       Vorrang gegenüber einer religiösen Perspektive. Es geht um diese
       Benachteiligung des Religionsunterrichts.
       
       Hinter "Pro Reli" steht also die Angst der Kirche, dass der Nachwuchs
       wegläuft? 
       
       Lüpke: Nein, überhaupt nicht. Der Nachwuchs wird vor allem innerhalb der
       Gemeinden an die Kirche herangeführt. Es geht uns um die Organisierbarkeit
       des Religionsunterrichts.
       
       Schultz: Natürlich geht es den Kirchen bei "Pro Reli" auch darum, die
       Kinder im Religionsunterricht zu halten und noch mehr dafür zu gewinnen.
       Das ist auch völlig legitim, da habe ich nichts dagegen. Es gibt aber noch
       eine andere Motivation der Kirchen für diese Initiative, die man nicht
       verschweigen sollte. Im Moment bekommen die Religionsgemeinschaften wie
       auch wir vom Humanistischen Verband 90 Prozent der Kosten für den
       Unterricht erstattet. Das bedeutet für die Kirchen: Sie müssen zusammen
       etwa 5 Millionen Euro jedes Jahr dazulegen, wir etwa 1,2 Millionen. Das
       macht Mühe. Wenn Pro Reli gewinnt, haben die Kirchen jedes Jahr 5 Millionen
       Euro mehr zur Verfügung.
       
       Lüpke: Dadurch bekommen die Kirchen ja nicht mehr Geld, sie können das Geld
       nur anders verwenden. Glauben Sie mir: Das finanzielle Argument ist nicht
       vorrangig.
       
       Herr Schultz, Finanzen hin oder her: Was wäre so schlimm daran, wenn es
       Religion als Wahlpflichtfach neben Ethik gäbe? 
       
       Schultz: Im Moment können die Schüler sowohl Ethik als auch Religion
       besuchen. Wenn Pro Reli gewinnt, müssen sie sich zwischen beiden Fächern
       entscheiden. Pro Reli ist dabei, ein staatliches Schulfach zu zerschlagen.
       
       Lüpke: Das ist jetzt ein Kampfbegriff, Herr Schultz. Natürlich soll auch
       das Fach Ethik erhalten bleiben.
       
       Schultz: Es gibt noch ein anderes Problem: In Berlin haben in der Gruppe
       der 6- bis 15-Jährigen über 42 Prozent der Schüler einen
       Migrationshintergrund. Der weitaus größte Anteil davon ist muslimisch.
       Diese Jugendlichen würden einen islamischen Religionsunterricht wählen und
       sich von Ethik abmelden. Was genau im Islamunterricht geschieht, kann vom
       Staat nicht bestimmt werden, das bestimmt die Religionsgemeinschaft. Ich
       kenne islamische Positionen, bei denen ich Zweifel habe, ob demokratische
       Vorstellungen, ob das Verhältnis von Männern und Frauen, das Problem von
       Antisemitismus und Homophobie da so gelehrt wird, wie es der
       Ethikunterricht kann.
       
       Lüpke: Ich würde daraus die umgekehrte Konsequenz ziehen. Das fordert doch
       geradezu dazu auf, islamische Traditionen in einem ordentlichen
       Unterrichtsfach zum Thema zu machen. Und zwar in einer Art und Weise, dass
       es der Kritik- und Vernunftfähigkeit folgt. Wenn ein Moslem glaubt, dass
       Homosexualität eine göttliche Strafe ist, soll er das glauben dürfen in
       diesem Land. Die Frage ist, welche Handlungen er daraus ableitet. Wenn er
       Diskriminierung oder Verfolgung daraus ableitet, dann würde das den Werten
       des Zusammenlebens widersprechen. Solange er nur eine Glaubensauffassung
       hat, ist ihm diese ja nicht streitig zu machen.
       
       Schultz: Der Staat soll aber in Zukunft für diesen Unterricht
       verantwortlich sein. Er steht dann dafür gerade, dass zum Beispiel
       Homosexualität als Strafe gesehen wird. Das geht doch nicht. Deshalb glaube
       ich, dass die Trennung von Bekenntnis und Staat so wichtig ist.
       
       Lüpke: Es kann aber nicht Aufgabe des Ethikunterrichts sein, Muslimen eine
       Haltung, wie Sie sie kritisiert haben, auszureden und ihnen beizubringen,
       dass diese Positionen mit dem Koran nichts zu tun haben. Diese innere
       Aufklärung muss vom Islam selbst geleistet werden. Wenn die Integration
       gelingen soll, müssen die islamischen Religionsgemeinschaften gefordert
       werden, sich der Diskussion zu stellen.
       
       Derzeit bietet die Islamische Föderation Islamunterricht an Berliner
       Schulen an. Wir hatten einen Vertreter der Föderation zu diesem Gespräch
       eingeladen. Er sagte, die Föderation könne sich zu "Pro Reli" nicht äußern,
       weil sie nicht wisse, was der Volksentscheid für sie letztlich bedeutet. 
       
       Schultz: Dass wir hier nicht einen falschen Zungenschlag reinbekommen:
       Nicht der Islam ist unser Problem. Es gibt ja ganz verschiedene muslimische
       Positionen, demokratische und problematische, wie Religionen oft ein großes
       Spektrum abbilden. Der Unterricht der Islamischen Föderation erscheint mir
       besser als sein Ruf. Wir haben im Übrigen auch manchmal Probleme mit dem,
       was die katholische Kirche sagt. Wenn etwa der Papst seine Kondompolitik in
       Afrika präsentiert.
       
       Lüpke: Glauben Sie ja nicht, dass die Kondompolitik des Papstes katholische
       Schüler in Berlin sonderlich beeindruckt …
       
       Schultz: Das freut mich sehr.
       
       Lüpke: … oder dass es das Bemühen eines Religionslehrers sein muss, den
       Schülern solche Positionen als unumstößliche Wahrheiten zu vermitteln. Die
       würden doch reihenweise aus dem Unterricht weglaufen.
       
       Schultz: Ich finde sehr interessant, dass Sie sagen, die Demokratisierung
       muss aus den Religionen selbst kommen. Das wäre natürlich der Glücksfall,
       auf den wir hoffen. Ich glaube aber, dass vor allem der Ethikunterricht
       sehr viel dafür tun kann, dass demokratische Gesinnung auch in den
       verschiedenen Bekenntnissen reflektiert wird. Diese Gesellschaft, die so
       viele Fliehkräfte hat, die braucht ein solches Fach. Wir wissen ja beide,
       wann es eingeführt worden ist: nach dem sogenannten Ehrenmord an Hatun
       Sürücü und der begeisterten Zustimmung von einigen Jugendlichen auf den
       Schulhöfen dazu. Das war der Moment, in dem wir gesagt haben: Wir müssen da
       etwas tun.
       
       Lüpke: Würden Sie nicht zugestehen, dass dem nicht mit der Kenntnis von
       Menschenrechten, dem Wissen über andere Religionen beizukommen ist? Es gibt
       offenbar eine darunterliegende Schicht von grundlegenderen Überzeugungen,
       die zu bearbeiten eigentlich nur aus und mit Religion geschieht. Der
       Ethikunterricht hat nicht die Autorität, diesen Schülerinnen und Schülern
       deutlich zu machen, dass weder der Koran noch ein islamischer Glaube,
       sondern allenfalls eine kulturelle Tradition diese Ehrvorstellung und
       dieses Verhältnis von Mann und Frau tragen. Es muss doch von innen her
       aufgebrochen werden.
       
       Zwei Schlussfragen. Herr Lüpke: Wenn "Pro Reli" verliert, fallen Sie dann
       vom Glauben ab? 
       
       Lüpke: Das ist ja keine Glaubensfrage. Wenn der Volksentscheid nicht die
       nötige Mehrheit bringt, zeigt das, dass wir weiter für eine bessere
       Stellung des Religionsunterrichts in der Schule kämpfen müssen.
       
       Herr Schultz, wenn "Pro Reli" verliert, senden Sie dann ein Stoßgebet gen
       Himmel? 
       
       Schultz: Das fällt mir schwer, weil ich nicht genau den Ort weiß, an den
       ich mein Gebet richten müsste. Aber im Ernst: Die Auseinandersetzung um
       "Pro Reli" ist von beiden Seiten nicht immer fair geführt worden. Nach dem
       Volksentscheid gilt es zunächst, das zerrüttete Verhältnis zwischen
       religiösen Menschen, den Humanisten und jenen, die Ethik unterrichten, zu
       kitten.
       
       24 Apr 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gereon Asmuth
 (DIR) Antje Lang-Lendorff
       
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