# taz.de -- Zum Tod von Claude Levy-Strauss: Fernab von allem Kitsch
       
       > Der Begründer der strukturalen Anthropologie ist kurz vor seinem 101.
       > Geburtstag in Paris gestorben. Was von Claude Levy-Strauss aktuell
       > bleibt.
       
 (IMG) Bild: Claude Lévi-Strauss, 1967.
       
       Es gibt ein Foto, auf dem Claude Lévi-Strauss mit einem schwarzen Vogel,
       der auf seiner Schulter sitzt, zu sehen ist. Die beiden wirken vertraut,
       aber es bleibt ein Rest an Distanz zwischen Vogel und Lévi-Strauss.
       
       "Ich hätte mich gern einmal richtig mit einem Tier verständigt. Das ist ein
       unerreichtes Ziel. Aber da ist die Grenze, die nicht überschritten werden
       kann", hat Lévi-Strauss einmal in einem Interview gesagt, als er bereits
       über achtzigjährig nach seinen verbleibenden Wünschen gefragt wurde. An
       dieser Grenze hat er bis zuletzt nicht gerüttelt. Er hat sie, als er in der
       Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag kurz vor seinem 101. Geburtstag
       in Paris verstarb, mit ins Grab genommen.
       
       Das kann man wie ein Vermächtnis lesen. Der einflussreichste Ethnologe des
       20. Jahrhunderts hält einen aus dem Kitsch-Universum fern, das Mensch und
       Tier in einen Topf wirft und das auch noch für fortschrittlich hält, wie es
       zurzeit etwa exemplarisch der Wissenschaftsdenker Bruno Latour tut.
       Erstaunlich ist der Verweis auf eine letzte Grenze bei Lévi-Strauss aus den
       verschiedensten Gründen. Es gibt im 20. Jahrhundert kaum einen Denker, den
       man nachhaltiger mit dem Verdikt des Antihumanismus belegt hat als
       Lévi-Strauss. Er selbst hat dem nie deutlich widersprochen. Im Gegenteil:
       Lévi-Strauss, der 1931 in Frankreich die Lehrbefähigung für Philosophie
       erhalten hatte, war über die Beschäftigung mit Marx, Engels und Freud auf
       die Ethnologie gestoßen worden, die er zuerst nur als eine vage Möglichkeit
       ansah, das enge und aggressive Korsett des in der Renaissance entwickelten
       abendländischen Humanismus und seines Menschenbildes zu verlassen.
       
       Der Humanismus war es, der für Menschen und Tiere Grenzen formulierte, die,
       so sah es Lévi-Strauss, jederzeit verschoben werden können. Dadurch können
       Menschen zu Tieren werden und auf eine Weise eingesperrt und verfolgt
       werden, wie man es an Tieren erprobt und seit der industriellen Moderne
       ununterbrochen praktiziert. Diese Praxis, das sah Lévi-Strauss in den
       politischen Entwicklungen im Europa der 30er-Jahre ziemlich deutlich, wurde
       gerade unter humanistischen Floskeln, in denen andauernd vom Menschen die
       Rede war, in Richtung Rassismus und ausschließenden Herrenmenschenkult
       verschärft.
       
       Deshalb kann man die Annahme einer Professur in São Paulo 1935 auch als
       eine im leisen Streit vollzogene Abkehr vom Frankreich seiner Herkunft
       sehen. In Brasilien unternimmt er mehrere Expeditionen, die ihn in bis
       dahin nicht erschlossene Gebiete der Amazonas-Indianer vordringen lassen.
       Dabei macht er eine nur scheinbar paradoxe Entdeckung: Desto weiter die
       Indianer von der Zivilisation entfernt leben, desto ärmer und dürftiger
       bieten sich ihre Kulturen und ihre Lebensbedingungen dar. Sie sind keine
       unberührten "Wilden" mehr, sie sind bereits in den 30er-Jahren von der
       westlichen Zivilisation kontaminiert, ihre Kultur ist wesentlich zerstört
       und sie sind auf die einfachsten Formen sozialen Lebens zurückgeworfen
       worden.
       
       Es war dieser Schock angesichts der Armut der Existenzformen der
       Amazonasindianer, der Lévi-Strauss die Brille tauschen ließ und ihn zum
       Ethnologen machte. Es ging ihm nicht mehr um ein Urteil, sondern um die
       Beschreibung dieser Lebensformen; aber bis er die Instrumentarien für deren
       Analyse zusammenhatte, verging noch viel Zeit. 1939 kehrt er zurück nach
       Frankreich und wird an die Maginotlinie einberufen. Dort hatte er, wie er
       später sagte, sehr viel Zeit, weil er nichts anderes zu tun hatte, als auf
       einen Angriff zu warten. Dort habe er oft lange im Gras gelegen und
       Blütenformen studiert - dabei sei es ihm wie Schuppen von den Augen
       gefallen: Die Blüten waren kein Zufall, sie waren Struktur. Wie man aber
       das, was für Lévi-Strauss an den Blüten Struktur war, auf seine
       Indianerdaten aus dem Amazonas anwenden konnte, dafür fehlte ihm 1939 noch
       das Werkzeug. Er sollte es erst im New Yorker Exil an der New School for
       Social Research, wo er von 1941-44 lehrte, über den Linguisten Roman
       Jakobsohn kennenlernen. Unter dem linguistischen Blick wurden alle
       menschlichen Verhaltensweisen für Lévi-Strauss zu Zeichen in einem
       Kommunikationssystem.
       
       "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft", die er im Jahre 1949
       zurück in Paris in Frankreich veröffentlicht, sind die Grundlegung seiner
       Ethnologie sowie einer ganzen Denkrichtung. Es war zu gleichen Teilen eine
       Theorie des Inzests wie eine Theorie der sozialen Evolution und einer der
       Grundsteine dessen, was man später Strukturalismus nennen sollte. Dabei
       hatte das Buch überhaupt nichts Sensationelles. Georges Bataille bewunderte
       an den elementaren Strukturen die Ausdauer und den Gleichmut, mit der
       Lévi-Strauss dieses "unendlich langweilige" Material entfaltete. Die große
       Vielfalt der institutionalisierten Formen von Heirat der amerikanischen
       Indianer, mit denen sie das Inzestverbot in gesellschaftliche Regeln
       lenkten, hatte Lévi-Strauss in grafische Darstellungen und Formeln
       übersetzt, die die subjektive Instanz als eine von den Objektbedingungen
       abhängige zeigte.
       
       Die entscheidende Neuerung gegenüber der traditionellen Ethnologie, die er
       in der Folge in den "Traurigen Tropen" von 1955 und der "Strukturalen
       Anthropologie" von 1958 unmissverständlich klar artikulierte, war aber
       nicht seine Konzeption der Subjektinstanz, sondern sein fundamentaler Bruch
       mit jeder Form einer linearen Geschichtskonstruktion. Die "Wilden" oder
       "Primitiven", als die eine vom Kolonialismus geprägte Anthropologie die
       Stämme des Amazonas und anderer sogenannter "unterentwickelter"
       Weltgegenden bezeichneten, standen an keinem Anfang. Sie hatten eine
       genauso lange Entwicklungsgeschichte hinter sich wie die zivilisierten
       Gesellschaften auch. Sie hatten nur auf andere Dinge, Klassifizierungen und
       Traditionen Wert gelegt als die schriftmächtigen Gesellschaften der
       Industrienationen.
       
       "Die Klassifizierungen der Eingeborenen sind nicht nur methodisch und auf
       ein festgefügtes theoretisches Wissen begründet. Es kommt auch vor, dass
       sie in formaler Hinsicht mit den Klassifizierungen verglichen werden
       können, die von Zoologie und Botanik noch immer verwendet werden", schreibt
       er in "Das wilde Denken". Lévi-Strauss findet gerade, wenn es um Pflanzen
       und Tiere geht, in den Mythen und Riten der Indianer Elemente einer
       systematischen Wahrnehmung der Natur, die besonders die frühen Reisenden
       aus den Kolonialmächten mit ihren "aufs Geratewohl" getroffenen
       Einteilungen wie Deppen aussehen lässt.
       
       Blick auf das Leiden
       
       Lévi-Strauss gelingen in der Beschreibung und Analyse des mythischen
       Indianerwissens um die Tiere Porträts etwa des Luchses, des zweizehigen
       Faultiers oder der Nachtschwalbe, die literarisch einmalig sind und neben
       den positivistischen Befunden der modernen Biologie vor allem eines
       einführen: einen Blick auf die Leidensfähigkeit der Kreatur. Über die
       Leidensfähigkeit hinaus gibt es aber noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem
       Autor und den Tieren: Das menschliche Subjekt kennt das ihn konstituierende
       Feld so wenig wie der Blutegel, der Mehlwurm oder die Heuschrecke das ihre.
       Deshalb kann Lévi-Strauss behaupten, dass sich moderne Menschen in ihrem
       Konsumismus nicht so sehr von Mehlwürmern unterscheiden, die sich im
       Mehlsack entwickeln und an ihren eigenen, selbstproduzierten Giften
       zugrunde gehen. Wir werden, hat er in einem späten Interview einmal gesagt,
       zu bulimischen Konsumenten, die ihre Grundlagen buchstäblich selbst
       wegessen.
       
       Das klang düster, wurde von Lévi-Strauss aber mit dem kleinen Zusatz
       serviert, das nur der Pessimismus überhaupt ein bisschen Optimismus
       rechtfertigen kann. Dieser Zipfel Optimismus folgte für ihn aus seiner
       strukturalen Methode, die es ermöglicht, die Struktur als ein Reservoir
       oder Repertoire zu erkennen, worin alles, das Heiße und das Kalte, das Rohe
       und das Gekochte, das Schlechte und das Gute, virtuell nebeneinander
       existiert. In deren jeweilige gesellschaftliche oder kulturelle
       Verwirklichung, mit Lévi-Strauss Worten: Aktualisierung, aber regelmäßig
       Wege beschritten werden, die auch vorhandene Möglichkeiten ausschließen.
       
       Weil auf dem Weg der Entscheidung zum Ausschluss des einen oder des anderen
       immer auch unbewusste Kriterien zum Einsatz kommen, sind Selbstbewusstsein
       und Subjekt komplett unvollständige Akteure. Der Zugang aber zur Kenntnis
       der Struktur kann nur der Mensch erreichen und damit auch die Wahl treffen,
       wie er leben will. Der Vogel ist zu sehr Ergebnis einer zufällig
       eingeschlagenen Richtung, deren Mechanismen ihm verschlossen bleiben. Die
       anderen Möglichkeiten als den gängigen Weg bereits in der Struktur erkannt
       zu haben, bleibt Lévi-Strauss Aktualität über die Details hinaus, die der
       wissenschaftliche Fortschritt mit Akribie meint erledigen zu müssen.
       
       4 Nov 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cord Riechelmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
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