# taz.de -- Behinderten-Sexualassistentin de Vries: "Die sind ja eigentlich so wie ich"
       
       > Es ist etwas ganz Natürliches - und ein Tabu: Auch behinderte Menschen
       > haben Lust. Die Sexualassistentin Nina de Vries spricht über ihre Arbeit
       > mit Behinderten.
       
 (IMG) Bild: "Es ist sehr wichtig, die Intimsphäre zu respektieren."
       
       taz: Frau de Vries, Sie arbeiten seit 13 Jahren als Sexualassistentin. Wie
       sind Sie dazu gekommen? 
       
       Nina de Vries: Ich habe mit erotischen Massagen angefangen, Tantramassagen
       für ganz "normale" Leute. Da kamen dann aber irgendwann auch Anfragen von
       Körperbehinderten, und für mich war das nichts Besonderes oder
       Spektakuläres. Ich habe einfach gemerkt, dass das für mich interessanter
       ist. Mittlerweile arbeite ich hauptsächlich mit Menschen, die schwere
       geistige Behinderungen haben.
       
       Sexualassistenz, ist das Therapie oder Prostitution? 
       
       Unter Prostitution verstehen Leute verschiedene Sachen, aber im Großen und
       Ganzen wird Prostitution in unserer Gesellschaft oft als etwas nicht sehr
       Schönes betrachtet, als etwas Grobes, Benutzendes. Den Begriff "Therapie"
       kann man leichter annehmen. Ich distanziere mich aber trotzdem nicht per se
       von dem Wort "Prostitution", weil ich glaube, dass es auch in der
       "normalen" Prostitution viele Frauen und Männer gibt, die das gern und gut
       machen. Bei Sexualassistenz ist aber ganz wesentlich, dass ich genau weiß,
       wo meine Grenzen liegen, und mich auch daran halte. Ich muss authentisch
       sein, also etwa sagen können, ich möchte pauschal keinen Geschlechtsverkehr
       anbieten.
       
       Was also ist Sexualassistenz? 
       
       Sexualassistenz ist eine sexuelle Dienstleistung, die mit Bewusstheit
       ausgeführt wird. Es ist keine Therapie, denn wenn ich das behaupte, dann
       gehe ich über den Klienten hinweg. Ich versuche immer, zu vermitteln, dass
       die Klienten bestimmen, was passiert. Wenn jemand eine Stunde lang nur
       meine Hand auf seinem Bauch haben möchte, ist das auch okay. Für einen
       Autisten kann es eine Höchstleistung sein, das zuzulassen!
       
       Kann man also sagen dass Sexualassistenz eine Dienstleistung ist, die auf
       einer Art Beziehungsebene stattfindet? 
       
       Für mich trifft es eher der Begriff "Begegnung": denn Beziehung ist ja oft
       nur eine Idee, die eigentlich bedeutet, dass ich jemanden einordne und
       besitzen möchte. Deshalb frage ich meine Klienten auch nie, wie es ihnen
       seit dem letzten Treffen ergangen ist. Das heißt aber nicht, dass deshalb
       Sorgfalt und Freundlichkeit keine Rolle spielen. Wichtig ist, dass so wenig
       Automatismen wie möglich die Begegnung bestimmen, nach dem Motto: Letztes
       Mal war es so und so, also wird es nun wieder so funktionieren.
       
       Welche Rolle spielt Mitleid bei Ihrer Arbeit? 
       
       Das ist eine Falle, der man sich absolut bewusst sein sollte. Natürlich
       kann man nicht all sein Mitleid abstellen. Aber ich kann mich fragen: Wo
       fange ich an, mich einzumischen, vielleicht auch unrespektvoll zu werden?
       Aber Mitleid ist auch etwas Anerzogenes, gerade vor dem christlichen
       Hintergrund. In meiner Kindheit hießen Menschen mit Behinderung auch noch
       "die Unglücklichen". Bei meiner Arbeit geht es mehr um Mit-fühlen als um
       Mit-leiden. Bei Mit-leiden setze ich voraus, dass der andere leidet, und
       das kann ich gar nicht wissen letztendlich.
       
       Wie gehen Sie mit Mitleid oder auch mit eigenen Vorurteilen um? 
       
       Ich habe eher Schwierigkeiten, mich bei Menschen mit einer
       Körperbehinderung normal zu verhalten. Denn die sind ja eigentlich so wie
       ich, nur haben sie eben einen Körper, bei dem wir alle genau wissen, wenn
       du in so einem Körper steckst, dann wirst du dein ganzes Leben lang
       mitleidig angeguckt. Mich macht das befangen, ich will dann immer alles
       richtig machen. Da verhalte ich mich dann eher mal unecht. Menschen mit
       einer geistigen Behinderung haben einfach eine so andere Wahrnehmung, dass
       ich da entspannter bin. Sexualassistenz geht auch schief, wenn Leute das
       aus einem mitleidigen Impuls heraus machen und sagen: Für diese Menschen
       möchte ich was tun! Das ist überheblich, und die Klienten leiden dann
       darunter. Aber Mitleid steckt natürlich total in uns drin, diese
       Gesellschaft ist geprägt von der christlichen Kirche, die ja oft auch die
       Pflege von Behinderten übernommen hat.
       
       Wie ist denn in den Einrichtungen christlicher Träger der Umgang mit der
       Sexualität der Bewohner? 
       
       Das kann ich natürlich pauschal nicht sagen, denn dort, wo ich hinkomme,
       gibt es ja bereits eine gewisse Offenheit dem Thema gegenüber. Oft geht es
       ja einfach darum, jemandem zu zeigen, wie er masturbieren kann, weil er
       nicht in der Lage ist, das selbst herauszufinden. Aber es gibt auch Leute,
       die dir haargenau auseinandersetzen, dass Sexualassistenz eine absolut
       schlechte Sache ist, dass so etwas unmoralisch ist. Ich habe da eine
       pragmatische Einstellung. Es geht doch schließlich um Menschen, die leiden.
       
       Das sind Vorbehalte aus christlicher Sicht. Welchen anderen Vorurteilen
       sehen Sie - und Ihre Klienten - sich ausgesetzt? 
       
       Da gibt es die Bewegung Emanzipierte Körperbehinderte. Die sind manchmal
       allergisch gegen so was wie Sexualassistenz. Für die ist das nur eine
       weitere Sonderregelung, die ein integriertes Zusammenleben weiter
       verhindert. Ich kann das auch sehr gut nachvollziehen. Aber nichts zu
       machen und zu warten, bis die Gesellschaft so weit ist, dass keine
       Sonderregelungen mehr nötig sind - dazu bin ich zu pragmatisch. Gemäß dem
       Normalitätsprinzip sollte das dann natürlich eine normale Prostituierte
       machen. Aber bei Menschen mit schweren geistigen Behinderungen halte ich es
       für angebracht, wenn das jemand ist, der sich damit auskennt.
       
       Woran scheitert die Integration von Menschen mit Behinderung? 
       
       Oft fehlt einfach die Bereitschaft, anzuerkennen, dass da jemand anders
       ist. Das hängt mit unserem Leistungsdenken zusammen. In Italien etwa gibt
       es keine Sonderpädagogik, die haben das in den 70er-Jahren schon
       abgeschafft. Der Lehrer muss sich da eben einfach mehr einfallen lassen.
       Hier fehlt oft eine Bereitschaft zu Unbequemlichkeiten, man sagt dann:
       Schmeiß die doch alle zusammen in eine Sonderschule, das ist einfacher!
       Durch die Trennung wird auch eine Art Defizit erst geschaffen, da werden
       die einen zu hoch qualifizierten Sozialpädagogen, und die anderen haben
       dann die Rolle "Behinderte". Das ist dann deren Qualifikation, deren "Job"!
       
       Menschen mit Behinderung verfügen oft nur über sehr wenig Geld, in den
       Behindertenwerkstätten verdienen sie kaum mehr als ein Taschengeld. Eine
       Stunde bei Ihnen kostet 80 Euro. Wie können Ihre Kunden das zahlen? 
       
       Ich vereinbare seit Jahren auch individuelle Preise. Eigentlich sollte es
       hier eine Finanzierungsregelung geben. Es geht hier um Menschen, die in
       allen Bereichen des Lebens Assistenz brauchen, also selbstverständlich auch
       in diesem Bereich. Dass es keine finanzielle Unterstützung für diese
       Dienstleistung gibt, erklärte mir eine SPD-Abgeordneten mal damit, dass
       eine öffentliche Debatte über Sexualassistenz die Intimsphäre der
       Betroffenen beeinträchtigen würde. Das fand ich krass, denn natürlich ist
       das sehr wichtig, die Intimsphäre zu respektieren. Aber ohne diese Dinge zu
       besprechen, ändert sich nichts. Um mit Menschen arbeiten zu können, die
       schwerst mehrfachbehindert sind und sich nicht verbal ausdrücken können,
       die aber trotzdem signalisieren, dass sie Unterstützung in dem Bereich
       brauchen, muss ich auch über intime Dinge sprechen, bei den Betreuern
       nachfragen können.
       
       Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung oft Opfer von Missbrauch
       sind, manche werden aber auch selbst zu Tätern. Kann Sexualassistenz da
       helfen? 
       
       Es gibt tatsächlich unglaublich viel Missbrauch von Menschen mit
       Behinderung. Das hat aber mit dem Umgang mit Sexualität in unserer
       Gesellschaft allgemein zu tun, der ja sehr verklemmt ist, dass Sexualität
       stark von Beziehungen abhängt. Dadurch entstehen Situationen, in denen
       jemand seine Machtposition ausnutzt, einfach weil er so frustriert ist. Ich
       arbeite öfter mit Männern und auch gelegentlich mit Frauen, die übergriffig
       geworden sind, und das kann eine gute Lösung darstellen.
       
       Es sind deutlich mehr Männer als Frauen, die Sexualassistenz in Anspruch
       nehmen, obwohl es ja auch männliche Sexualassistenten gibt. Woran liegt
       das? 
       
       Frauen verbinden Sexualität schneller mit Beziehungen. Männer können nach
       einer Massage eher daliegen, ihre Frau anrufen und sagen, ich komme etwas
       später. Meiner Meinung nach ist viel davon auch biologisch induziert.
       
       Sie behaupten, dass die Definition von Behinderung als Defizit tragische
       Folgen für die gesamte Gesellschaft hat. 
       
       Ja, denn durch diese Definition entsteht ja diese enorme Angst vor
       Behinderung. Je älter man wird, desto realer wird die Gefahr, dass einem
       das selbst auch passieren kann. Wir können einen Unfall haben, dement
       werden. Und wir wissen alle, wie in unserer Gesellschaft damit umgegangen
       wird. Wenn du nicht mitkommst, dann halte das bitte versteckt! Das sieht
       man jetzt auch an der Diskussion über Depression, die ich allerdings als
       ein bisschen unecht empfinde. Da, wo ich herkommen, in Holland, ist das
       anders. Wenn dort Schriftsteller interviewt werden, dann erzählen die oft
       sehr freimütig, dass sie es ohne Antidepressiva nicht schaffen würden, dass
       sie depressiv sind. Das sind oft Leute, die hoch kreativ und erfolgreich
       sind.
       
       3 Dec 2009
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ariane Lemme
       
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       ausgebildet. Sie geben Seminare für angehende Sozialpädagogen.