# taz.de -- Hochschuldozenten mit Lernschwächen: Tage von grenzenloser Schönheit
       
       > Menschen mit geistiger Behinderung werden in Kiel zu Hochschuldozenten
       > ausgebildet. Sie geben Seminare für angehende Sozialpädagogen.
       
 (IMG) Bild: Wer mit Menschen mit Behinderung arbeitet, sollte auch von ihnen lernen
       
       KIEL taz | Isabell Veronese rollt vor zur Tafel. Nein, nervös sei sie
       nicht, wenn sie sich vor das Seminar stelle, hatte sie vorher gesagt.
       Neugierige Blicke ist die 28-Jährige gewohnt, sie fällt auf mit ihren
       flammend roten Haaren und den aufmerksamen grün-grauen Augen. Veronese
       dreht den Rollstuhl und schaut in den Seminarraum der Fachhochschule (FH)
       Kiel, in dem an diesem Aprilnachmittag ein gutes Dutzend Frauen und Männer
       im Kreis sitzen.
       
       „Lebenswege“ lautet das Thema des Unterrichts, das Seminar ist ein Wahlfach
       für Studierende im Fachbereich Sozialkunde. Und Isabell Veronese, spastisch
       gelähmt, ehemalige Förderschülerin, angestellt in einer Werkstatt für
       Menschen mit Behinderungen, unterrichtet die angehenden Sozialpädagogen.
       Lampenfieber hat sie nicht. Sie ist da, wo sie sein will.
       
       Die Stiftung Drachensee, eine große Behinderteneinrichtungen
       Schleswig-Holsteins, die Werkstätten und Wohnheime betreibt, hat gemeinsam
       mit der Fachhochschule ein bundesweit einmaliges Projekt gestartet:
       Menschen mit Behinderungen und Lernschwächen, die selbst überwiegend
       Förderschulen besucht haben, unterrichten an einer Hochschule. Ihre
       wertvollste Expertise: ihr eigenes Leben, ihre Gefühle, ihre Erfahrungen.
       
       Dabei werden sie in einer zweijährigen Ausbildung zu Hochschuldozenten
       ausgebildet und lernen zu lehren. Sechs Teilnehmer hat die Stiftung
       Drachensee für den ersten Lehrgang aus Behindertenwerkstätten rekrutiert.
       Alle sechs angehenden DozentInnen sitzen nun seit Jahresbeginn täglich in
       einem Schulungsraum der Stiftung, beschäftigen sich mit theoretischen
       Themen wie Behindertenrechten und praktischen Fragen wie
       Unterrichtsgestaltung. Ein Teil der Ausbildung findet an ihrem zukünftigen
       Arbeitsplatz statt – in der Hochschule.
       
       „Ich wachse im Geist“, sagt Laura Schwörer mit sanfter Stimme. Auch
       Schwörer war bisher in einer Werkstatt beschäftigt. An diesem Tag übernimmt
       die Frau, die eine leichte Form von Autismus hat, einen Teil der
       Seminarleitung an der FH Kiel. Für die 25-Jährige sind die Praxistage an
       der Hochschule „Tage von grenzenloser Schönheit“.
       
       Passend zum Thema Lebenswege beginnen Studierende und Lehrkräfte, einander
       die eigenen Geschichten zu erzählen. „In der Schule haben sie mich
       ausgelacht und Sonderling genannt“, berichtet Horst-Alexander Finke, der
       mit 50 Jahren der Älteste der Dozentengruppe ist. Die Studierenden nicken:
       Das Gefühl, gemobbt oder ausgelacht zu werden, kennen viele. „Eigentlich
       sind die Unterschiede zwischen Biografien von Menschen mit und ohne
       Behinderung nicht groß“, fasst Student Dominik Strahtmann zusammen.
       
       ## Sollen sich Behinderte selbst zum Thema machen?
       
       Die Botschaft, die die DozentInnen an diesem Nachmittag senden wollten ist
       angekommen, dennoch sieht Gaby Lenz, Professorin und Dekanin der FH Kiel im
       Bereich Soziale Arbeit und Gesundheit, auch ein Risiko darin, dass die
       Behinderten sich selbst zum Unterrichtsgegenstand machen. „Ich stehe zu
       diesem Projekt“, betont Lenz. „Aber es sind noch einige Fragen zu klären.“
       Dabei geht es vor allem um den künftigen Status der Dozentinnen und
       Dozenten mit Behinderung. Zurzeit, während der auf zwei Jahre angelegten
       Ausbildung, sind sie weiter bei der Stiftung Drachensee beschäftigt, die
       für jeden einen Werkstattplatz freihält als Rückkehroption. Nach der
       Ausbildung sollen sie dauerhaft und im Idealfall mit einem
       sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz an der Hochschule lehren.
       
       Nach dem ersten Jahrgang sollen weitere folgen, wünscht sich die Stiftung
       Drachensee. Bewerbungen von Menschen mit Behinderungen aus dem ganzen
       Bundesgebiet stapeln sich bereits auf dem Schreibtisch des Projektleiters.
       
       Aber Lenz sieht Probleme: Können die Lehrgangsabsolventen Prüfungen auf
       Hochschulniveau abnehmen? Können sie Referate nach wissenschaftlichen
       Kriterien bewerten? Welchen Status erhalten sie im akademischen Gefüge?
       Daneben geht es um Pragmatisches: „Immer nur die angenehmen Seminarstunden
       ab 14 Uhr gehen nicht, Lehrbeauftragte müssen auch morgens um 8 Uhr
       erscheinen“, sagt Lenz. Sie könne sich vorstellen, Tandems zu bauen aus
       Dozenten mit und ohne Behinderung: „Es geht viel – aber nur mit Assistenz.“
       
       Auch die Verantwortlichen der Stiftung Drachensee geben zu, dass längst
       nicht alle Fragen geklärt sind. Das Angebot sei aber auf jeden Fall wichtig
       – nicht nur für künftige Sozialwissenschaftler, sondern auch für angehende
       Lehrer, sagt Projektleiter Jan-Wulf Schnabel: „Es werden zurzeit Lehrkräfte
       ausgebildet, die im Studium nie mit Menschen mit Behinderung zu tun haben,
       aber später inklusiven Unterricht geben sollen.“ Deshalb wünscht sich die
       Stiftung, dass auch die inklusive Lehre zum Regelangebot wird.
       
       Doch reicht Lebenserfahrung aus, um zu unterrichten, und nehmen die
       Studierenden die Drachensee-Gruppe als Lehrkräfte ernst?, fragt Lenz. Um
       solche Fragen zu klären, lässt sie das Projekt wissenschaftlich begleiten.
       
       Die Studierenden im „Lebenswege“-Seminar haben bereits eine Antwort: „Ich
       empfinde sie auf jeden Fall als Dozenten, die mir etwas beibringen können“,
       sagt Simon Voß. Seine Kommilitonin Ute Christians fügt hinzu: „Gerade durch
       ihre Offenheit finde ich sie sehr stark.“
       
       ## Auf einmal wird auf Augenhöhe diskutiert
       
       Im Seminar geht es inzwischen um die Frage, warum in Pflegeheimen oft die
       Akte wichtiger ist als der Mensch. „Essen und Trinken wird notiert, Zeit
       zum Reden hat keiner“, berichtet Studentin Anna Neuerer von einem
       Praktikum. „Immer gucken alle nur auf das Geld“, beklagt Dozent Samuel
       Wunsch. Auf einmal wird tatsächlich auf Augenhöhe diskutiert: Wie lässt
       sich die knappe Zeit im Heim so nutzen, dass weder die Pflegebedürftigen
       noch die Pflegenden auf der Strecke bleiben?
       
       „Wir wollen Sozialpädagogen in die Welt schicken, die sensibel für solche
       Fragen sind“, sagt Sarah Lemm von der Stiftung Drachensee, die die
       angehenden DozentInnen unterrichtet. Der FH-Studentin Anna Neuerer gefällt
       dieser Ansatz: „Das ist einer meiner Lieblingskurse. Es geht mal nicht um
       Theorie, sondern um Praxis und echten Austausch.“
       
       „Eine tolle Idee“, meint Rolf Fischer, Staatssekretär im Kieler
       Bildungsministerium. Sein Haus könne sich vorstellen, das Projekt auch
       finanziell zu unterstützen, stellt der SPD-Politiker in Aussicht. Es gehe
       darum, Menschen mit Behinderungen ernst zu nehmen und ihnen vollwertige
       Arbeitsplätze anzubieten. „Ich verspreche mir viel davon, diese Haltung der
       akademischen Klasse nahezubringen“, sagt Fischer. „Denn sie sind immerhin
       die Führungskräfte von morgen.“
       
       28 Apr 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Geisslinger
       
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