# taz.de -- Stuckrad-Barre ist zurück: Tod der Popliteratur
       
       > Besser, als Stuckrad-Barre weiterhin zu schmähen: seine Texte lesen. Es
       > gibt zurzeit nur wenige so brillante Kulturjournalisten wie ihn. Ein
       > Spaziergang am See.
       
 (IMG) Bild: Berliner Schlachtensee, verschneit.
       
       Dass er eine sehr bunte Jacke tragen würde, hatte Benjamin von
       Stuckrad-Barre angekündigt. Die Jacke, in der er die verschneite Wiese zum
       Ufer des Schlachtensees herunterkommt, ist dann aber noch mehr als das. Sie
       ist auf geradezu blödsinnige Weise bunt. Ein bisschen sieht sie aus wie das
       alte Fernsehtestbild. Nur großformatiger sind ihre gesteppten Farbflächen,
       und man kann kaum anders, als sie symbolisch zu finden.
       
       Nicht weil Stuckrad-Barre nach seinem Debütroman "Soloalbum" 1998 innerhalb
       kürzester Zeit vom Jungautor zu einer Medienfigur aufstieg - mit Auftritten
       bei Harald Schmidt und eigener Literaturshow auf MTV -, um dann genauso
       schnell zu einer der meistgeschmähten Figuren im Literaturbetrieb zu
       werden; sondern viel eher deshalb, weil man inmitten der auf der großen
       Eisfläche des zugefrorenen Schlachtensees spazierenden Familien plötzlich
       erstaunt bemerkt, dass er auch eigentümlich altmodische Züge an sich hat.
       In etwa so altmodisch wie das Testbild.
       
       Der Trubel um Stuckrad-Barre ist schon einige Zeit vorbei, zwischenzeitlich
       hat er ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, in einer Art Exil. Das war
       nötig, um aus der, wie er es nennt, selbst angezettelten Schusslinie zu
       flüchten. 2006 ist er doch wieder nach Berlin gekommen, seit 2008 schreibt
       er für den Springer Verlag, hauptsächlich Reportagen für die Welt, die B.Z.
       oder den Rolling Stone. Am Kranzler-Eck, mittendrin im alten Westberlin,
       hat er sein Büro. "Das ist ein Ort, wo man ja heute eigentlich gar nicht
       mehr hinkommt", sagt Stuckrad-Barre. "Wenn draußen diese Doppeldeckerbusse
       vorbeischaukeln, das könnten genauso gut die Siebzigerjahre sein." Wenn
       auch nicht mehr Exil, so hört sich das zumindest nach Nische an. Er wollte
       unbedingt den Redaktionsalltag haben, die Diskussion über Themen, die
       Hektik vor Redaktionsschluss.
       
       Auch als Struktur für sein Leben sei der Redaktionsalltag wichtig, sagt
       Stuckrad-Barre dann noch. Aus solchen Sätzen ist immer wieder
       herauszuhören, dass er ziemlich zerprügelt worden ist in der Vergangenheit.
       Von den Anfeindungen, die sich zumeist mehr an ihm als an seinen Texten
       entladen haben. Die Drogen haben auch nicht geholfen. Kurz erzählt
       Stuckrad-Barre über sein Praktikum bei der taz Mitte der Neunzigerjahre.
       "Damals, vor dem Krieg", sagt er und lacht ein wenig verrutscht.
       
       "Vor ein paar Jahren", sagt er, "konnte es gar nicht schnell genug gehen,
       immer sofort ein neues Projekt, ein neues Buch, eine Lesereise, oder am
       besten alles gleichzeitig." Jetzt, mit gerade mal 35, spricht er lieber
       davon, sich für eine gewisse Zeit auf Montage zu begeben, auch wieder so
       ein altmodisches Wort. Auf Montage in der Wirklichkeit, könnte man dieses
       Langzeitprojekt nennen. "Ich laufe einfach gern mit bei Leuten und gucke,
       was die so machen."
       
       Stuckrad-Barre schlenkert mit einem dunkelgrünen Mittelding aus Tasche und
       Beutel, das er mit sich herumträgt und so aussieht, als würde Opa sein
       Altglas damit wegbringen. "Oder ich gehe zu einer dieser zahllosen
       Veranstaltungen, die es jeden Tag gibt, wo irgendein neues Produkt oder
       Programm vorgestellt wird oder eine neue Freundschaft oder eine alte
       Feindschaft aufgeführt wird - wo also Bilder in die Welt geschickt werden,
       da bin ich gern zugegen. Kann gar nicht abseitig genug sein."
       
       Was ihn interessiert, seien nicht die Geschichten, die die Leute erzählen
       wollten, sondern die Ränder dieser Geschichten. Die Momente, in denen die
       Inszenierung bricht. Auf einer Pressekonferenz der SPD also sich nicht das
       Podium anschauen, sondern lieber am Parkplatz herumlungern und gucken, wie
       Sigmar Gabriel aus dem Auto steigt, noch mal einen Blick in seine Tasche
       wirft und fragt, wo denn schon wieder die Scheißhustenbonbons sind.
       Stuckrad-Barre spricht viel langsamer, als man es in Erinnerung hatte,
       manchmal geradezu suchend. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, dass
       er während des Sprechens den unzähligen Schlitten fahrenden und
       Schlittschuh laufenden Kindern zuschaut. Was er erzählt, klingt eigenartig
       bescheiden. Fast könnte man es für ausgestellt halten.
       
       Ein knallguter Witz 
       
       Wenn man aber sein neues Buch liest, für das er Texte der letzten Jahre
       zusammengestellt hat, merkt man, dass Stuckrad-Barre nicht nur einen
       genauen, sondern einen emphatischen Blick für die Dinge und Menschen um
       sich herum hat. So einen Blick hat man nur, wenn man sich wirklich
       interessiert. Treffen mit Politikern sind unter diesen Texten, ein
       Fernsehabend mit Dieter Hildebrandt oder auch ein Porträt von Udo
       Lindenberg, dazu Abende auf der Fanmeile, die Eröffnung eines
       Elektronikmarkts oder aber einfach Spaziergänge durch Berlin.
       
       In diesen Texten zeigt sich nicht nur Stuckrad-Barres Blick für die Details
       und die Ränder. Es gibt in ihnen auch einen Witz, der knallgut zwischen
       Ironie und Kalauer eingetaktet ist - was immer wieder dazu führt, dass die
       Texte eine wunderschön melancholische Doppelbödigkeit bekommen. Joseph Roth
       war auch so ein Berliner Spaziergänger, ein Beobachter seiner Zeit und
       ihrer geistigen Verfasstheit, ein brillanter Stilist und sprühender
       Ironiker. Man sollte die Texte mal nebeneinanderlegen.
       
       Stuckrad-Barre schlägt vor, vom Rand des Sees wegzugehen, wo unter den
       Bäumen das Eis matschiger und brüchiger wird als in der Mitte, wo die Sonne
       aus fast schon unverschämt blauem Himmel draufscheint. "Man muss sich
       selbst als Lackmuspapier sehen, sich reinwerfen in die Welt und gucken, was
       sich verändert und was hängen bleibt. Und das dann Text werden lassen." Nur
       macht er diese Experimente jetzt, anders als früher, auf eine
       kontrollierbarere, überschaubarere Weise. Und auch auf eine Weise, die
       nicht mehr als so provokant wahrgenommen wird.
       
       In dem neuen Buch gibt es einen Bericht über eine Lesung von Günter Grass,
       der viel über Stuckrad-Barre selbst erzählt. Grass stellt sein
       Wende-Tagebuch vor und zelebriert sich als politisch engagierter
       Intellektueller. Die Zuhörer nicken beflissen, was Stuckrad-Barre ärgert.
       Er meldet sich zu Wort, will mit Grass über den von ihm verehrten Kempowski
       diskutieren, wird abgebügelt, meldet sich noch mal, fängt wieder mit
       Kempowski an und stellt sich am Ende tatsächlich noch bei der Signierstunde
       in die Reihe. Das ist nervend, und er weiß das. Irgendwie ist es auch
       peinlich, aber es hat etwas Authentisches.
       
       Grass reagiert auf die Störungen mit gönnerhafter Herablassung. Das
       Antiintellektuelle an den Reaktionen auf das, was in den späten Neunzigern
       als Popliteratur gefasst wurde, sei ja auffällig gewesen, sagt
       Stuckrad-Barre. Er klingt immer noch verwundert darüber, dass das damals
       keiner als Experiment begriffen habe. Dass da junge Leute waren, die
       angegriffen, etwas ausprobiert haben, die dem seidenbeschalten
       Literaturbetrieb etwas entgegensetzen wollten. Das inszenatorische Moment
       von "Tristesse Royal" etwa. "Wenn ich mir heute Bilder davon anschaue",
       sagt Stuckrad-Barre, "sind das doch Comics." Das hat keiner gemerkt, alle
       waren ungeheuer empört über die blasierten Jungschnösel. Wenn er vorher
       gewusst hätte, wie ihn das treffen würde, "volley" nämlich, dann hätte er
       es nicht gemacht. Aber er sei ganz froh darüber, dass er es nicht gewusst
       hat.
       
       Vermutlich ist die gepuffte Winterjacke nicht nur aus dem schicken
       Adidas-Store in Berlin-Mitte, sondern auch einfach warm. Viel symbolischer
       ist ohnehin Stuckrad-Barre selbst: für den Wandel, den der Literaturbetrieb
       in den Neunzigerjahren gemacht hat. Wenn man von heute aus noch mal die Wut
       anschaut, die er damals ausgelöst hat, dann erschrickt man ein bisschen.
       Schaut man sich dagegen an, wie hinter allen Plagiatsvorwürfen doch
       interessiert das Feuilleton gerade auf die Coming-of-Age-Autorin unserer
       Tage, Helene Hegemann, reagiert, dann sollte klar werden, dass das ohne
       jemanden wie Stuckrad-Barre kaum möglich wäre.
       
       Verlust von Hochkultur 
       
       Das kann, wer meint, immer noch unter Verlust von Hochkultur bilanzieren.
       Schlauer indes wäre (und schlauer auch, als weiterhin darüber zu streiten,
       ob Stuckrad-Barre vielleicht nicht doch in Wirklichkeit ein
       selbstherrlicher Schnösel gewesen ist): seine Texte lesen. Es gibt im
       Augenblick nur wenige so brillante Kulturjournalisten wie ihn. Auf dem Weg
       zurück zur S-Bahn zündet sich Stuckrad-Barre eine letzte Mentholzigarette
       an. Sie riecht wie die Erkältungssalbe, mit der man als Kind eingerieben
       wurde, und tröstet über die verflucht kalten Füße hinweg.
       
       21 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wiebke Porombka
       
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 (DIR) Benjamin von Stuckrad-Barre
       
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