# taz.de -- Unruhen in Kirgisien: Die Menschen laufen um ihr Leben
       
       > Der Übergangsregierung in Kirgisien entgleitet der Süden des Landes.
       > Marodeure plündern. Die bedrängten Usbeken hoffen auf ein russisches
       > Eingreifen, viele von ihnen fliehen über die Grenze nach Usbekistan.
       
 (IMG) Bild: Auf der Flucht: Usbekische Männer fahren Richtung Usbekistan.
       
       BISCHKEK taz | Vernichtung und Tod, Pogrome und ethnische Vertreibung haben
       in Dschalalabad und damit in die zweite große Stadt im Süden Kirgisiens
       Einzug gehalten. "Die Stadt brennt, Geschäfte und Wohnhäuser werden
       geplündert und angezündet", sagt übers Telefon der Journalist Hurram
       Gasibajew aus der südkirgisischen Stadt, die zwei Autostunden von Osch
       entfernt liegt.
       
       "Bewaffnete Kirgisen fahren in Trainingsanzügen auf Autos, Jeeps oder
       Pick-ups über die Straßen und schießen auf alles, was sich bewegt", erklärt
       der 27-Jährige weiter, von kirgisischen Sicherheitskräften sei dagegen
       nichts zu sehen. Nach Aussagen des Usbeken selektieren die Marodeure. Sie
       gingen von Haus zu Haus und fragten, welche Nationalität die jeweiligen
       Bewohner hätten. Im Stadtkern von Dschalalabad wohnen hauptsächlich
       Usbeken, aber auch der vertriebene kirgisische Präsident Kurmanbek Bakijew
       kommt aus dieser südkirgisischen Stadt und hat nach wie vor hier seine
       treuen Anhänger.
       
       Die provisorische Regierung in der etwa dreihundert Kilometer entfernten
       Hauptstadt Bischkek und die meisten internationalen Beobachter sehen in dem
       gestürzten Präsidenten den Hauptdrahtzieher der Unruhen. Bakijew hat im
       weißrussischen Exil unterdessen erklärt, dass er nichts mir den Unruhen in
       Südkirgisien zu tun habe, seinerseits zum Frieden aufgerufen und die neue
       provisorische Regierung beschuldigt, die eigenen Bürger nicht schützen zu
       können.
       
       Die Usbeken rennen um ihr Leben. Ein Großteil der männlichen Bevölkerung
       habe sich in die Außenbezirken zurückgezogen, während die Frauen und Kinder
       zur usbekischen Grenze gebracht worden seien, erklärt der Gewährsmann aus
       Dschalalabad. Nach offiziellen Angaben aus Taschkent seien über 70.000
       Flüchtlinge bereits in Usbekistan angekommen, die kirgisische Seite spricht
       allerdings von lediglich einigen tausenden Flüchtlingen.
       
       In Osch, wo die Unruhen am Donnerstag begonnen hatten, ist etwas Ruhe
       eingekehrt. Aber auch Usbeken aus Osch berichten von Schusswechseln in den
       Außenbezirken und von hunderten kirgisischen Marodeuren, die sich in den
       Nachbardörfern zum zweiten Angriff auf die Stadt versammelt hätten.
       
       Unterdessen versucht die provisorische Regierung in Bischkek händeringend,
       über diplomatische Kanäle Friedensgespräche zwischen den usbekischen und
       den kirgisischen Gemeinden aufzunehmen. Aber die Usbeken in Osch und
       Dschalalabad schenken diesen Bemühungen kaum noch Glauben. "Hier handelt es
       sich auch nicht um einen Konflikt", sagt der Augenzeuge und Journalist
       Gazibajew, "sondern die eine Seite tötet und jagt die andere."
       
       Am Montag erschienen im Internet die ersten Filme, die entstellte und
       verbrannte Leichen zeigen. Die offizielle Todeszahl überschreitet bereits
       die Hundert und wird weiter nach oben gehen. Zeugen sind sicher, dass viele
       Hunderte getötet wurden. Usbekische Quellen gingen von bis zu 700 Toten
       aus.
       
       Russland hat zur Sicherung seiner Bürger Fallschirmjäger nach Kirgisien
       verlegt. Für die Usbeken in Osch und Dschalalabad ist das ein
       Hoffnungsschimmer, und schon machen Gerüchte die Runde, dass die russischen
       Soldaten bald weiter in den Süden vorrücken werden. Die provisorische
       Regierung unter der geschäftsführenden Präsidentin Rosa Otunbajewa in
       Bischkek versucht zu überleben. Nach einem Volksaufstand Anfang April
       gelang es der Übergangsregierung unter Führung der Karrierediplomatin Rosa
       Otunbajewa, Präsidenten Kurmanbek Bakijew zu entmachten. Als wenige Tage
       später Russlands Premier Putin der neuen Regierung Unterstützung zusagte,
       ging der entmachtete Präsident Bakijew über Kasachstan nach Weißrussland
       ins Exil.
       
       Der Leiter der Informationsabteilung der Übergangsregierung, Fahrid
       Nijasow, erklärte, dass an dem Termin des Verfassungsreferendums, das für
       den 27. Juni geplant war, festgehalten werden soll. Die neuen Machthaber in
       Bischkek, allen voran Rosa Otunbajewa, erhoffen sich von dem das Referendum
       eine Legalisierung ihrer Regierungsmacht, die sie im April durch einen
       Umsturz erlangt hatten. Eine Abstimmung ist aber nicht gestattet in
       Provinzen, in denen der Ausnahmezustand gilt. Regierungssprecher Nijasow
       erklärt, dass der Ausnahmezustand in Osch und Dschalalabad bisher nur bis
       zum 20. Juni verhängt sei und man daher wählen könne.
       
       Bisher gibt Rosa Otunbajewa nicht zu erkennen, dass sie selbst in den Süden
       des Landes reisen will, um die Lage dort zu beruhigen. "Eine solche Reise
       ist bisher nicht vorgesehen", sagt der Leiter der Informationsabteilung.
       Wie ein Augenzeuge gestern berichtete, hat sich die Lage in Dschalalabad am
       Abend etwas beruhigt.
       
       15 Jun 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marcus Bensmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kirgistan
       
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