# taz.de -- taz-Serie Schillerkiez: Die Pfarrerin: "Ich stoße immer wieder auf verschüttete Reste von Glauben"
       
       > Elisabeth Kruse ist seit sechs Jahren Pfarrerin der Genezareth-Kirche in
       > Neukölln. In ihrem Viertel erlebt sie gesprächsbereite Muslime,
       > verunsicherte Alteingesessene - und vereinzelte spirituelle Lichtblicke.
       
 (IMG) Bild: Neukölln wird nicht nur teurer, sondern immer idyllischer: Weinernte im Kiez.
       
       taz: Frau Kruse, besonders gläubig sind die Leute im Schillerkiez wohl
       nicht. Oder warum sind gibt es so wenig Sitzreihen in Ihrer Kirche? 
       
       Elisabeth Kruse: Nun ja, von offiziell eingetragenen 4.500 Mitgliedern in
       meiner Parochie sind etwa 200 bis 250 aktiv. In der Genezareth-Kirche haben
       wir Bänke für insgesamt 80 Leute. An normalen Sonntagen sind etwa 40 Plätze
       belegt. An Weihnachten oder zu Konfirmationen kommen bis zu 170.
       
       Das sind wirklich nicht gerade viele… 
       
       Aber zu meiner Gemeinde zähle ich nicht nur die Gläubigen, die zu den
       Gottesdiensten kommen. Sondern auch die Ehrenamtlichen, Leute, die die
       Außenanlagen pflegen oder bei Veranstaltungen den Kaffee kochen. Dazu
       kommen viele, die zwar nicht in den Gottesdienst gehen, aber mit dem
       Standort sympathisieren.
       
       Sie kamen im Jahr 2004 als Pfarrerin an die Genezareth-Kirche. Was war Ihr
       erster Eindruck vom Schillerkiez? 
       
       Recht positiv. Dass meine Kirche im Chaos war, weil sie komplett umgebaut
       werden sollte, störte mich nicht. Ich hatte auch kein Problem damit, in
       einem Arbeiterviertel gelandet zu sein, schließlich komme ich selbst aus
       einem Handwerkerhaushalt und wollte lieber im Schillerkiez arbeiten als,
       sagen wir, in Dahlem. Aber als ich an Silvester aus meinem beschaulichen
       damaligen Wohnort Friedenau vorbeischaute, musste ich schon schlucken:
       Überall knallte es, man konnte vor lauter Rauch kaum sehen, dann die vielen
       Volltrunkenen. Und ich dachte: "Oh Gott, wie bringe ich nächstes Silvester
       meine neue Kirche heil durch die Nacht?"
       
       Was haben Sie getan? 
       
       Ich hatte zwei Möglichkeiten: entweder alles verrammeln und mit Brettern
       zunageln, wie man es in Kreuzberg am 1. Mai gemacht hat. Oder: Licht an,
       Türen auf, und alle zum Feiern einladen. Ich habe mich für Letzteres
       entschieden. Und jahrelang gute Erfahrungen damit gemacht. Die Leute
       wollten diesen Treffpunkt auf dem Dorfplatz.
       
       Dorfplatz? 
       
       So ist der Herrfurthplatz mit der Genezareth-Kirche ursprünglich angelegt
       gewesen: Als zentraler Treffpunkt in der Mitte des Viertels, zum
       Versammeln, Kommunizieren und Andacht halten. Nur weil dieser Platz in den
       letzten Jahren unwirtlich und heruntergekommen war, wurde er immer mehr von
       Trinkern und Hunden genutzt. Aber eine Anwohnerbefragung des
       Quartiersmanagements Ende der 90er Jahre ergab: Die Leute wollen, dass
       dieser Platz wieder für alle da ist. Und sie wünschten sich, dass das
       Gotteshaus wieder eine größere Rolle spielt. Das war auch der Motor für die
       Umbaumaßnahmen bis 2006.
       
       Mit Verlaub, aber es ist schwer zu glauben, dass sich in diesen Zeiten die
       Leute ausgerechnet eine Kirche als Treffpunkt wünschen. Zumal viele
       Kiezbewohner muslimischen Glaubens sind. 
       
       Natürlich sind solche Anwohnerbefragungen immer nur eingeschränkt
       repräsentativ. Aber in der Genezareth-Kirche finden nicht nur evangelische
       Gottesdienste statt. Seit dem Umbau ist das Haus auch ein Interkulturelles
       Zentrum und Treffpunkt für Vereine, Tanzgruppen, Anwohnerversammlungen.
       Nebenan läuft übrigens gerade ein Deutschkurs für Migrantinnen. Und zu
       bestimmten Anlässen, wie dem jährlich stattfindenden Abend der Begegnung
       mit den muslimischen Nachbarn am 6. Dezember, gibt es auch
       Koranrezitationen in der Kirche.
       
       Vor dem Altar mit Kreuz? 
       
       Anfangs gab es durchaus Berührungsängste. Mitarbeiterinnen dachten, dass
       Deutschkurse hier nicht funktionieren, weil die Teilnehmerinnen jedes Mal
       durch den Kirchraum müssen. Eine Mädchentanzgruppe forderte sogar von mir,
       das Kreuz am Altar zu entfernen, weil sie Angst hatten, dass ihre Eltern
       sonst nicht zur Aufführung kommen. Natürlich blieb das Kreuz hängen - in
       der Moschee käme man auch nicht auf die Idee, die Koranverse an der Wand zu
       verhüllen, wenn christlicher Besuch kommt. Aber die Eltern kamen trotzdem.
       Die Deutschlernenden auch. Neulich kam tagsüber ein Muslim, der dringend
       ein Gebet verrichten wollte. Der Weg zur Sehitlik-Moschee am Columbiadamm
       war ihm zu weit. Da schickte ich ihn hinunter in die Krypta.
       
       Ist das erfolgreicher religiöser Dialog, was Sie im Schillerkiez betreiben? 
       
       Mit dem Wort "Dialog" bin ich vorsichtig - von einem ergebnisoffenen
       Gespräch über Glaubensfragen zwischen Religionsvertretern kann bisher kaum
       die Rede sein. Man will ja das Eigene behalten. Aber von erfolgreichen
       interkulturellen Begegnungen würde ich schon sprechen. Eine Sternstunde war
       eine Diskussionsveranstaltung über Stadtentwicklung hier in der Kirche. Als
       einer der Gäste ausfallend wurde, mahnte ihn ein muslimischer Teilnehmer,
       doch bitte die Würde des Gotteshauses zu achten. Es gibt Erfolge und viele
       kleine tägliche Neuanfänge. Wobei die Aufgeschlossenheit auch vonseiten der
       ethnodeutschen Nachbarn durchaus noch wachsen kann.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Viele der Alteingesessenen sind Menschen, die dem Kiez treu geblieben sind
       oder es nie geschafft haben, wegzuziehen. Oft sind das Familien, die alle
       Probleme der Welt auf sich vereinen. Diese Menschen befinden sich in einer
       gefühlten Minderheitenposition. Sie fühlen sich sozial und ökonomisch an
       den Rand gedrängt. Und auch weltanschaulich-religiös: Durch die Zuwanderer,
       die mit einem selbstverständlicheren religiösen Selbstbewusstsein auftreten
       als sie selbst. Unter diesen, auch spirituell verunsicherten Menschen
       beobachte ich manchmal tiefsitzende Vorbehalte gegenüber ihren vornehmlich
       muslimischen Nachbarn.
       
       Sind das auch spirituelle Vorurteile? 
       
       Natürlich. Die Abwehrhaltung, die manche gerade Muslimen gegenüber
       empfinden, entsteht, weil diese Menschen sich oft religiös viel sicherer,
       aufgehobener fühlen. Das macht natürlich auf die eigenen Defizite
       aufmerksam. Und wirft unbequeme Fragen auf: Welche Rolle spielen
       christliche Werte eigentlich in meinem Leben? Fehlt mir ohne Glauben nicht
       doch etwas? Ich könnte mir vorstellen, dass auch daher eine gewisse
       Gereiztheit gegenüber den gläubigen Nachbarn rührt.
       
       Welche Rolle spielt die Angst, weiter ins Abseits gedrängt zu werden,
       beispielsweise durch eine Aufwertung dieses Viertels? 
       
       Natürlich sind es im Kern soziale Probleme, von denen die Menschen hier
       betroffen sind. Auch die Angst vor Veränderung durch Gentrification ist
       real: Wir diskutieren hier alle viel über die G-Frage. Der
       Gemeindekirchenrat hat ein Papier dazu erarbeitet, das vor der Kirche
       aushängt. Darin wird zwar am Ziel einer Wohnumfeldverbesserung
       festgehalten, aber so, dass "der Kiez attraktiv wird für Menschen, die
       ausreichend Geld haben, ohne dass die Ärmeren verdrängt werden". Aber es
       nützt nichts, die Augen davor zu verschließen, dass Geld die Welt regiert.
       Es wird Veränderung geben - und Veränderungen sind der Atem einer Stadt.
       Die Frage ist, welchen Gestaltungsspielraum es bei Veränderungsprozessen
       gibt und wie wir ihn nutzen können.
       
       Sie spielen auf die linken Aktivisten im Kiez an, die einen radikalen
       Diskurs gegen Aufwertung und Verdrängung führen. Erreichen Sie die auch mit
       ihrem interkulturellen Dialog? 
       
       Man kann nicht alle erreichen. Aber ich lade alle in die Kirche ein. Meine
       vornehmliche Aufgabe als Pastorin ist, die Menschen in ihrem Glauben zu
       stärken, dass sie von Gott geliebt sind. Bei meinen Hausbesuchen treffe ich
       viele, die sich schon lange von der Kirche und von Gott abgewandt haben.
       Weil es in ihrem Leben nicht gut lief und sie Gott dafür verantwortlich
       machen. Aber ich stoße immer wieder auch auf verschüttete Reste von
       Glauben. Ein ehemaliger Fernfahrer erzählte in seinem Wohnzimmer, dass er
       Gott jeden Morgen und jeden Abend für den Tag danke. Und ein grummeliger
       Mann aus dem Kiez trat beim Kerzengebet im Gottesdienst vor, zündete eine
       Kerze an und sprach mit klarer Stimme: "Manchmal ist eine Rose wichtiger
       als ein Stück Brot" - in der Predigt war von Rosen die Rede gewesen. Bei so
       was geht mir das Herz auf.
       
       17 Jun 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
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