# taz.de -- Kirsten Heisig: Das Vermächtnis der Richterin
       
       > An den Thesen der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig, vom
       > manchen auch "Richterin Gnadenlos" genannt, scheiden sich die Geister.
       > Auch in Neukölln wird über sie diskutiert - vor allem seit Erscheinen
       > ihres Buches "Das Ende der Geduld".
       
 (IMG) Bild: Fördern, aber nicht ohne Druck, forderte Heisig.
       
       Ahmad (Name geändert) lümmelt auf der Couch der Jugendwerkstatt, neben ihm
       ziehen im Aquarium Platys ihre Bahnen. Er ist eine Stunde zu früh
       aufgekreuzt. Von "Richterin Heisig" habe er gehört, sagt der Neuköllner
       Jugendliche. Dass Heisig Schnellverfahren gegen jugendliche Straftäter
       einführte, weil nur so ein Lerneffekt eintrete, das habe er im eigenen
       Umfeld gespürt. Früher, erzählt Ahmad, habe man "ein, zwei Jahre sammeln"
       können bis zu einem Prozess - jetzt sitzen viele, die er kennt, im Knast.
       Drei Jahre habe er selbst eingesessen.
       
       Ahmad hockt im "Stattknast", einer Jugendwerkstatt in der ruhigen
       Neuköllner Nogatstraße. Er muss hier Sozialstunden leisten, für "ein Ding",
       das in der JVA vorgefallen war. Jetzt repariert er Fahrräder, bedruckt
       T-Shirts - eine zweite Chance. Wer nicht erscheint, kann Beugearrest
       kassieren.
       
       Als "unverzichtbare Einrichtung" bezeichnet Heisig den Stattknast in ihrem
       vor einer Woche erschienenen Buch "Das Ende der Geduld" (siehe Kasten). Die
       Werkstatt verfolgt ein Konzept, wie die Richterin es sich vorstellte:
       fördern, aber nicht ohne Druck. Einmal, so erinnert sich Dirk Henningsen,
       Pädagoge und Schlosser im Stattknast, hätten sich mehrere Jugendrichter für
       einen Besuch angekündigt. Am Ende kam nur Kirsten Heisig.
       
       Heisig hatte es leid, als Richterin immer nur "am Ende einer Kette von
       Fehlentwicklungen zu stehen". Dann, wenn aus Kindern bereits Kriminelle
       geworden waren. Deshalb verließ Heisig oft ihr Amtsgericht, ging raus in
       den Bezirk, zu den Schulen, Verbänden und Eltern. Erzählte von der
       demütigenden Brutalität vieler Neuköllner Jugendlicher, von kriminellen
       arabischen Großfamilien, von der Zähe mancher Behörden. Die meisten
       Gesprächspartner gaben ihr Recht.
       
       Eltern, Polizei, Gerichte, das Jugendamt müssten sich enger austauschen,
       predigte Heisig immer wieder, nötigenfalls auch unter Lockerung des
       Datenschutzes. Um frühzeitig zu erkennen, wenn einer abgleitet. Um Hilfe
       anzubieten, und wenn das nicht fruchtet, unmittelbare Sanktionen. Kürzungen
       des Kindergeldes, Unterbringung in geschlossenen Heimen, Kurzarrest. So hat
       sie geredet, so steht es in ihrem Buch.
       
       Dessen Erscheinen platzte mitten hinein in die neu entbrannte Diskussion
       über Drogen dealende Kinder, die seit einigen Wochen die Berliner Medien
       beherrscht. Plötzlich fordert auch Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit
       geschlossene Heime für kriminelle Kinder. Der Polizeipräsident will mehr
       Zusammenarbeit und einen lockeren Datenaustausch mit den Jugendämtern, um
       Drogendealer-Kinder schneller aus ihren Familien zu holen. Ein Katalysator
       seien Heisigs Thesen, sagt Neuköllns Jugendamtsdirektorin Gabriele
       Gallus-Jetter. Aber sie beschrieben eben nur einen Ausschnitt des Alltags
       im Bezirk. "Einen Negativausschnitt."
       
       Ali Maarouf bittet in seinem Büro an den schwarzen Besuchertisch mit den
       roten Stoffrosen, legt Heisigs Buch vor sich. Maaroufs Deutsch-Arabisches
       Zentrum (DAZ), unweit der Karl-Marx-Straße, erteilt arabischen Familien
       Erziehungshilfen. Es geht um Wertschätzung und Grenzsetzung. Auch Heisig
       sprach immer wieder von mangelnder Grenzziehung für prügelnde Jugendliche.
       Seitens der Ämter und Eltern, vor allem der arabischen. Es stimme, was
       Heisig schreibt, sagt Maarouf. "Die Probleme gibt es." Genauso wie
       kriminelle Großfamilien. Dies seien aber Einzelfälle. Die meisten seiner
       Beratungen beträfen allerdings "normale Familien mit normalen Problemen".
       
       Ali Maarouf schätzt Heisig. Die Richterin hatte mit dem DAZ
       zusammengearbeitet, der Verein war ihr Türöffner in eine Welt, die ihr bis
       dahin verschlossen blieb. Jetzt aber erzählt Maarouf von den
       Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem Libanon, von Kettenduldungen und
       Arbeitslosigkeit. Er will nicht, dass ein schiefes Bild entsteht. Viele
       arabische Eltern hätten einfach Angst, wenn das Jugendamt sie anspreche,
       weil sie die hiesige Rechtslage nicht kennen würden. Dafür das Kindergeld
       zu kürzen? Maarouf schüttelt den Kopf. Das würde eine Zusammenarbeit noch
       schwieriger und Arme noch ärmer machen.
       
       Auch im Neuköllner Jugendamt weiß man nicht so recht, wie man Heisigs Buch
       aufnehmen soll. Steigende Brutalisierung, zuschauende Behörden? "Da fühlt
       man sich schnell generalverunglimpft", gesteht Jugendamtsdirektorin
       Gabriele Gallus-Jetter. Dabei halte sie die drastischen Gewaltbeispiele
       Heisigs für ebenso real wie unakzeptabel. Es gäbe aber auch die
       erfolgreichen Zusammenarbeiten - zwischen Jugendamt und Eltern, zwischen
       den Behörden. Und die seien in der Überzahl. Auch die von Heisig
       geforderten Runden Tische gebe es bereits seit Jahren. Und schon heute
       könne ihr im Jugendamt die Akte jedes Schulschwänzers auf den Tisch gelegt
       werden, so Gallus-Jetter. Auch ohne gelockerten Datenschutz.
       
       Wenn Gabriele Gallus-Jetter über ihre Arbeit spricht, fallen viele
       "einerseits" und "andererseits". Es gebe in der Frage der Jugendgewalt eben
       keine einfachen Lösungen, sagt sie. Auch Heisigs Forderungen nach zügiger
       Repression liefen den Problemen letztlich nur hinterher, findet
       Gallus-Jetter. Es sei illusorisch, dass langfristig junge Drogendealer
       verschwänden, wenn man die Jugendlichen in geschlossene Heime steckt.
       Stattdessen bräuchte es mehr Prävention, schon in den Grundschulen.
       
       Von anderen in Neukölln, die mit straffälligen Jugendlichen
       zusammenarbeiten, ist noch Deutlicheres zu hören. Zu eindimensional seien
       Heisigs Anklagen. Sie skandalisiere Einzelfälle. Und kriminelle
       Großfamilien seien in der alltäglichen Arbeit "höchstens ein Randproblem".
       
       Das sieht Elvira Berndt anders. Heisig argumentiert differenzierter, als
       ihr vielfach unterstellt wird, findet die Geschäftsführerin des
       Streetworker-Projektes Gangway, das mit einem Team auch in Neukölln
       unterwegs ist. Heisig sei nicht nur die "Richterin Gnadenlos", sondern eine
       Frau, die Kinder schützen wollte, wenn sie in einem schädlichen Umfeld
       aufwachsen. "Warum sprechen denn heute alle von Drogendealer-Kindern?",
       fragt Berndt. "Und keiner von denjenigen, die sie losschicken?"
       
       Es sei eben Fakt, dass es sich abschottende, in Kriminalität verstrickte
       Araber-Großfamilien gäbe, dass viele straffällige Kinder schneller einen
       Denkzettel bräuchten. In einem aber muss Berndt Heisig widersprechen: "Die
       Jugendkriminalität ist seit Jahren rückgängig." Und dass, obwohl viele
       Jugendliche in prekären Verhältnissen lebten. Das bestätigt auch die
       Kriminalstatistik der Polizei, die seit 2000 einen steten Rückgang
       jugendlicher Tatverdächtiger von 41.525 auf zuletzt 31.167 Personen
       vermerkt. Im Vergleich zu 2008 gingen jugendliche Raubtaten um 23,8 Prozent
       zurück, Körperverletzungen um 13,1 Prozent. Zu den Thesen Heisigs äußert
       sich die Polizei momentan nicht, so ein Sprecher. Man bittet um
       Verständnis.
       
       Mustafa Akcay sitzt in einem türkischen Restaurant in Kreuzberg bei Lamm
       und Tee. "Zu 99 Prozent" habe die Richterin recht, sagt der Vizevorsitzende
       des Türkisch-Deutschen Zentrums. Akcay hatte mit Heisig Elternabende
       organisiert, sie als "entschlossen, aber nicht fanatisch" erlebt. Er habe
       das Buch gelesen, von vorne bis hinten. "Ihre Botschaft ist nicht
       Repression, sondern die Zusammenarbeit aller, um diese Jugendlichen
       zurückzugewinnen", so der 64-Jährige. Es gäbe in Neukölln nun mal ein
       Gewaltproblem. Und schnelle Gerichtsprozesse, mehr Elternmitwirkung, mehr
       Zusammenarbeit der Institutionen und die Jugendlichen mehr zur
       Verantwortung zu ziehen - das leuchte doch ein. "Natürlich haben alle
       Familien ihre sozialen Probleme", sagt Akcay. "Aber das rechtfertigt keine
       Gewalt."
       
       Auch im Neuköllner "Stattknast" sieht man die Probleme. Sie habe schon das
       Gefühl, dass Neuköllner Jugendliche heute schneller zu Waffen greifen,
       wegen geringfügiger Anlässe austicken würden, sagt Erzieherin Karin
       Fritz-Moreira. Und ohne Frage beförderten Langeweile und Schulschwänzen
       Blödsinn, auch kriminellen. Man dürfe das aber nicht pauschalisieren. Die
       Gewalt mit Kürzungen des Kindergeldes zu bekämpfen, hält ihr Kollege Dirk
       Henningsen für kontraproduktiv und "überzogen". Zuerst müsse immer die
       Prävention, müsse der Jugendliche stehen. "Erziehen statt strafen", hat
       sich die Jugendwerkstatt zum Motto gemacht. Für Kirsten Heisig hat sich
       beides nicht ausgeschlossen.
       
       3 Aug 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Konrad Litschko
       
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 (DIR) Selbstmord: Trauer um Richterin Kirsten Heisig
       
       Der Selbstmord der bekannten Jugendrichterin Kirsten Heisig löst berlinweit
       große Erschütterung aus. "Wir werden auf ihrem Weg weiterarbeiten", so
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 (DIR) Seit Montag verschwunden: Richterin Courage
       
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       Hardlinerin: die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig. Seit Montag ist
       die Frau verschwunden.
       
 (DIR) Große Bestürzung in Berlin: Jugendrichterin Heisig ist tot
       
       Sie hat sich im Kampf gegen Jugendkriminalität einen Namen gemacht. Seit
       Montag war sie verschwunden. Nun wurde aus Befürchtungen Gewissheit:
       Kirsten Heisig hat sich das Leben genommen.