# taz.de -- Debatte Medienhype um Sarrazin: Sarrazynismus
       
       > Viel skandalöser als Sarrazins Thesen ist die Aufnahme, die sie erfahren.
       > Wer sich daran erfreut, andere Menschen verachten zu können, kommt heute
       > auf Bestsellerlisten.
       
 (IMG) Bild: Talkshow-Moderator Beckmann piekst mit dem Zeigefinger in den Echo-Raum der kalten Menschenfeindlichkeit.
       
       Die Thesen, die Thilo Sarrazin in seinem Buch und in einer Fülle von
       Interviews seit vergangener Woche ausbreitet, sind derart haarsträubend
       dämlich, dass sich eine sachliche Auseinandersetzung eigentlich verbietet.
       Verleiht man seinen bizarren Einlassungen nicht erst den Anschein der
       Diskussionswürdigkeit, wenn man versucht, sie zu referieren und zu
       widerlegen? Kein Interview, in dem er nicht insistiert, dass Intelligenz in
       den Genen liege, Dummheit vererbbar sei und dass eine Gesellschaft ein
       Problem habe, wenn die Dummen eine überdurchschnittliche Fertilitätsrate
       haben: All dies wird vermanscht mit Populareugenik und krausestem
       Simpel-Darwinismus. Und über solchen Schrott sollen wir diskutieren?
       
       Thilo Sarrazin führt einen neuen rassistischen Diskurs ein - nicht nur in
       die Zuwanderungs-, sondern auch in die Bildungsdebatte. Wenn viele Muslime
       am Rande dieser Gesellschaft bleiben und den Aufstieg nicht schaffen -
       selber schuld. Wenn die neuen Unterschichten unten bleiben, weil der
       niedrige Status der Eltern auf die Kinder übergeht, dann ist das kein
       sozial- und bildungspolitischer Skandal - sondern nach Sarrazin logische
       Folge des Umstandes, dass sich die Dummen herausnehmen, ihre bescheidene
       Intelligenz zu vererben. Daraus folgt natürlich, dass alle Versuche, durch
       Bildungsreformen und pädagogische Anstrengungen die Chancen dieser
       Chancenlosen zu erhöhen, von vornherein aussichtslos sind.
       
       Wäre Sudel-Thilo Mitglied der NPD, kein Mensch würde seinen Thesen
       Aufmerksamkeit schenken. Er ist aber Mitglied der SPD und will das bleiben
       - und zwar auch deshalb, weil er seine Positionen für klassisch
       "sozialdemokratisch" hält. Da stellt sich natürlich die Frage, wie er auf
       diese groteske Idee kommen kann.
       
       Die traditionelle Sozialdemokratie wollte die Menschen bilden, gerade die
       in unterprivilegierten Milieus. Über Bildung, so das Versprechen, könne man
       den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen. Tatsächlich hielt dieses
       Versprechen einige Jahrzehnte lang, etwa von 1900 bis 1980. Heute hält es
       immer weniger. Kinder, die in die neue Unterschicht hineingeboren werden,
       wachsen in dem Bewusstsein auf: Auch wenn ich mich anstrenge, nützt das
       wenig. Sie haben nur eine minimale Chance. Sarrazin scheint es nun für eine
       "sozialdemokratische Position" zu halten, die Unterschicht dafür zu
       beschimpfen, dass sie nicht mehr an das Versprechen vom "Aufstieg durch
       Bildung" glaubt. Nun, das ist eine sehr originelle Interpretation der
       "sozialdemokratischen Idee".
       
       Sarrazins Thesen sind verwirrt, hochnäsig, verletzend, gespickt mit
       verächtlichen Formulierungen gegenüber den "Losern". Dabei ist er auf eine
       Weise eingebildet, die schallendes Gelächter provozieren müsste. Alleine
       der Vorwurf, die Unterprivilegierten würden faul von Staatsknete leben und
       keinen Antrieb haben, sich im Wirbelwind des freien Wirtschaftslebens zu
       behaupten, klingt zum Schreien komisch aus dem Mund eines Mannes, der sein
       gesamtes Leben lang in der staatlichen und staatsnahen Wirtschaft
       verbrachte und seine gesamte berufliche Karriere dem Segeln auf einem
       Parteiticket verdankt.
       
       Skandalös sind aber weniger seine Thesen. Viel skandalöser ist die
       Aufnahme, die sie erfahren. Wieso muss so ein Machwerk über Spiegel und
       Bild verbreitet und in Talk-Shows wie Beckmann oder "Hart aber fair"
       popularisiert werden? Wieso erfährt ein derart krauser Kopf die Ehre, auf
       zwei Zeit-Seiten interviewt zu werden?
       
       Natürlich weil die Blattmacher wissen, dass es einen gesellschaftlichen
       Echo-Raum für die kalte Menschenfeindlichkeit gibt, die Sarrazin zum
       Ausdruck bringt. Weil es Milieus gibt, in denen dieser Rassismus blüht.
       Weil die Wortführer dieser Milieus, die sich immerzu überall äußern, der
       schrägen Auffassung anhängen, sie würden von der "politischen Korrektness"
       verfolgt. Deshalb schmücken sie sich mit dem Attribut, sie würden
       "unterdrückte" Meinungen äußern, und behaupten, dass es Mut bräuchte,
       "Klartext" zu reden. Als gäbe es in unserer Gesellschaft irgendeine
       Dummheit, die ungedruckt bliebe oder nicht via Trash-Shows ins letzte
       Wohnzimmer gesendet würde.
       
       Nein, man muss nicht mutig sein, um andere Menschen zu beschimpfen. Wer
       sich daran erfreut, andere Menschen verachten zu können, kommt heute auf
       Bestsellerlisten. Dummheit ist, wenn schon nicht erblich, dann in jedem
       Fall einträglich.
       
       31 Aug 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Misik
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Integration
       
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