# taz.de -- Debatte Demagoge Sarrazin: Lob des Populismus
       
       > Provokateure wie Thilo Sarrazin sind gut für die Demokratie. Sie zwingen
       > zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ressentiments.
       
 (IMG) Bild: Bundesbankpräsident Axel Weber verkündet am Donnerstag den Rauswurf.
       
       Die Freiheit der Andersdenkenden hat so ihre Tücken. Bringt jemand wie
       Thilo Sarrazin seine Ansichten in stark zugespitzter Form vor, ist man
       schnell mit dem Vorwurf des Populismus zur Stelle. Mit seinem Buch wird der
       Wiederholungstäter den Erwartungen denn auch mehr als gerecht. Inhaltlich
       sind Sarrazins Vorstöße abstoßend, und mit seinen biologistischen Ansichten
       zur "Intelligenzvererbung" ist die Schwelle zum Rassismus überschritten.
       Die einseitig negative Sichtweise auf das Phänomen des Populismus ist
       dennoch falsch. Denn für die Demokratie kann Populismus an sich gleichwohl
       funktional und manchmal sogar ein Segen sein - gerade heute.
       
       Die ideologische Angleichung der etablierten Parteien, ihre programmatische
       Loslösung von angestammten Wählermilieus und ihre Fixierung auf
       gesamtökonomische Ziele sind Entwicklungen, die in vielen westlichen
       Demokratien zu beobachten sind. Der Pragmatismus hat seinen Preis. Der
       Streit über unterschiedliche Werte - also über das, was Menschen unabhängig
       von der ökonomischen Bedürfnisbefriedigung bewegt und politische
       Gemeinwesen in ihrer natürlichen Pluralität ausmacht - lässt sich in dieses
       Koordinatensystem schlecht einordnen.
       
       In Deutschland dominierte lange Zeit eine apolitische Konsenslogik. Auf die
       neoliberale "Hartz-IV-Phase" folgte der großkoalitionäre
       Staatsinterventionismus; beides wurde als unausweichliche Reaktion auf
       wirtschaftliche Zwänge dargestellt. Damit wurden zwei Grundpfeiler der
       politischen Auseinandersetzung aufgegeben: die Repräsentation von
       Wertekonflikten und der Gestaltungsanspruch von Politik. Auf beides
       reagiert der Populismus. Sein positiv gewendeter Tenor lautet: Es gibt
       Probleme, die bislang zu wenig bedacht wurden - und sie können politisch
       entschieden werden.
       
       Unterdrückte "Wahrheiten"? 
       
       In einer argumentative Debatte, die sich daraus entspinnt, lassen sich die
       Ansichten eines Thilo Sarrazin ebenso disqualifizieren wie der Chauvinismus
       eines Geert Wilders. Der bloße moralisierende Rückgriff auf die Vokabeln
       der Political Correctness hilft hingegen wenig. Wer sich auf den Vorwurf
       des Rassismus und des Populismus beschränkt, bestärkt für viele eher den
       Eindruck, hier spreche jemand unterdrückte "Wahrheiten" aus.
       
       Zur argumentativen Auseinandersetzung bedarf es der Einsicht, dass es in
       der Politik kaum Wahrheiten gibt. Der Handlungsspielraum ist immer offen.
       Die Figur des prekariatsfeindlichen Sozialdemokraten (Sarrazin) oder des
       intellektuellen und homosexuellen Rechtspopulisten (Pim Fortuyn) bietet
       zudem wenig Angriffsfläche für eine Kritik, die sich nur überkommener
       Schubladen bedient. Häufig ist der Vorwurf des Populismus nicht mehr als
       ein stumpfer Ersatz für die alte Unterscheidung zwischen "guten" Demokraten
       und "bösen" Extremisten. Gruppenbezogenen Ressentiments in der Bevölkerung
       ist damit nicht beizukommen. Die allzu oft nonargumentative
       Selbstvergewisserung und Abgrenzungslogik der "politischen Klasse" ist
       vielmehr kontraproduktiv und kann bei vielen das Gefühl verstärken, es mit
       einem Machtkartell zu tun zu haben. Der Vorwurf des Rassismus, so
       berechtigt er im Fall Sarrazins auch sein mag, entbindet nicht von der
       Notwendigkeit, sich mit seinen empirischen Begründungen und Herleitungen
       auseinanderzusetzen.
       
       Mäßigende Wirkung 
       
       Dagegen entfaltet die offene Auseinandersetzung mit vermeintlich
       populistischen Argumenten häufig eine mäßigende Wirkung. Ein Beispiel dafür
       ist die Unterschriftenkampagne der Union gegen den sogenannten Doppelpass
       und das neue Staatsbürgerschaftsrecht der rot-grünen Regierung im Jahr
       1999. 5 Millionen Unterschriften führten dazu, dass das Thema im Bundestag
       konflikthaft und öffentlich debattiert wurde. Im Verlauf der Debatten
       wurden immer häufiger die Anliegen der Betroffenen selbst zur
       Rechtfertigung herangezogen: Das Argument, dass "Doppelpass-Migranten"
       gegenüber anderen Migranten privilegiert würden, war dabei eine Vorstufe
       der Abkehr der Partei von ihrer prinzipiell integrationsfeindlichen
       Position. Die öffentliche Auseinandersetzung über politische Streitfragen -
       seien es Moscheebauten, die Integrationspolitik oder Bildungsgutscheine für
       Hartz-IV-Empfänger - ist oft geradezu eine Grundvoraussetzung dafür, die
       Positionen von Minderheiten überhaupt erst ins allgemeine Bewusstsein zu
       bringen. In solchen Fällen erweist der Populist seiner eigenen Haltung oft
       einen Bärendienst, die Demokratie wird hingegen befördert.
       
       Ein weiteres Beispiel ist der erfolglose Slogan "Kinder statt Inder", mit
       dem Jürgen Rüttgers im Jahr 2000 in Nordrhein-Westfalen seinen Wahlkampf
       bestritt. Fünf Jahre später wurde er auf anderem Wege Ministerpräsident,
       gerierte sich als Bewahrer des Sozialstaats und setzte mit Armin Laschet
       einen liberalen Modernisierer auf den Posten des Integrationsministers.
       Voraussetzung für diese Mäßigung war die vorangegangene öffentliche
       Debatte, die ihn später auf Polemik verzichten ließ.
       
       Demokratie für alle 
       
       Der Populismus erhebt sich und politisiert die Gesellschaft. Wenn richtig
       auf ihn reagiert wird, schwindet aber auch seine Unterstützung in der
       Bevölkerung. Der Populist schafft quasi seine eigenen Grundlagen ab. Dieser
       Prozess ist natürlich kein Selbstläufer, wie die Beispiele erfolgreicher
       rechtspopulistischer Parteien in Österreich und den Niederlanden zeigen.
       Die Alternative - eine Entpolitisierung, die das Ökonomische zum
       entscheidenden Ausschlusskriterium werden und die Intoleranz geräuschlos
       glimmen lässt - ist indes wenig wünschenswert. Es gilt: Der argumentativ
       ausgetragene Konflikt bildet in der Demokratie die Conditio sine qua non,
       um Ansichten und Werthaltungen aller Betroffenen einzubinden.
       
       Hinzu kommt, dass der Vorwurf des Populismus oft willkürlich und damit
       wirkungslos ist. Ist es populistisch, die Luftschläge der Nato gegen
       Serbien mit "Auschwitz" zu begründen, wie es Joschka Fischer als
       Außenminister getan hat? Oder in der Migrationsdebatte reflexhaft an die
       deutsche Vergangenheit zu erinnern? In jedem Fall befördert Sarrazins
       völkisch inspirierter Amoklauf die politisierte Diskussion. Und das ist gut
       so.
       
       1 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Linden
       
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