# taz.de -- Gewerkschaften in Deutschland: Die zersplitterte Arbeitermacht
       
       > In Europa protestieren Hunderttausende gegen harte Einschnitte in den
       > Sozialstaat. In Deutschland tut sich wenig. Die Interessen der einzelnen
       > Gewerkschaften sind zu unterschiedlich.
       
 (IMG) Bild: Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer am 08.09.2010 in Leipzig.
       
       Hartmut Riemann ist der Mann, der für diese Spaltung steht. In seinem
       mokkafarbenen VW Passat fährt der Gewerkschaftssekretär der IG Metall in
       diesen Tagen viel durch die Republik der Kämpfenden. Am Dienstag war er im
       Sauerland, bei den "Heuschrecken", wie er sagt, da ging es um Entlassungen.
       Und Mittwochabend saß er am Verhandlungstisch in Düsseldorf. Der
       Stahlabschluss und 6 Prozent mehr Lohn, das ist sein Kampf. "Wenn es um
       Hartz IV geht, dann können wir nicht mobilisieren", sagt Hartmut Riemann.
       Und er sagt es verzweifelt.
       
       In Europa protestierten gestern Hunderttausende von Menschen. In Spanien
       riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik. In Brüssel versammelten sich
       bis zu 100.000 Menschen, um gegen die Arbeitsmarktreformen der europäischen
       Regierungen zu demonstrieren.
       
       Und in Deutschland? Kopfpauschale, Rentendebatte und Hartz IV - all das
       erregt seit Monaten die öffentlichen Debatten hierzulande. Glaubt man einem
       wichtigen Genossen von Hartmut Riemann, dem Vorsitzenden des Deutschen
       Gewerkschaftsbundes (DGB) Michael Sommer, dann folgt auf die
       Regierungspläne von Angela Merkel ein "heißer Herbst". Er könnte sich
       irren.
       
       Es waren nicht die Gewerkschaften, sondern das globalisierungskritische
       Netzwerk Attac, das mit symbolischen Bankbesetzungen, mit Infoständen und
       Straßentheater beim europaweiten Aktionstag gestern ein kleines Zeichen in
       Deutschland setzen konnte. In 75 Städten gingen die Globalisierungsgegner
       auf die Straße. Gewerkschaftliche Großdemonstrationen und
       Massenmobilisierung - das ist in Deutschland hingegen auch weiterhin nicht
       geplant. Und das ist durchaus eine Strategie.
       
       "Wir haben eine klare Verabredung. Die Gewerkschaften machen ihre Aktionen
       vor allem auf Betriebsebene", heißt es beim DGB. Michael Sommers heißer
       Herbst findet in Plochingen, Salzgitter, in Kempten und Nerchau, in
       Eisenach und in Kamp-Lintfort statt. Dort, wo Gewerkschafter ihre
       Infostände vor den Werkstoren aufbauen. In "aktiven Mittagspausen" reden
       sie über das, was sie bewegt. Es ist ein heißer Herbst für die
       Lokalnachrichten, doch in der Hauptstadt ist er keine Meldung wert.
       
       Denn um den dramatisch schwindenden Mitgliederzahlen zu begegnen - in den
       letzten zehn Jahren verloren die DGB-Gewerkschaften fast 20 Prozent ihrer
       Mitglieder -, führen die Gewerkschaften vor allem die Kämpfe, die ihre
       Mitglieder überhaupt noch interessieren. Hartmut Riemann kämpft für die
       Löhne bei den Stahlarbeitern, Ver.di um die kommunalen Finanzen, und die IG
       BCE schickt Bergleute auf die Straße, weil denen die Subventionen ausgehen.
       
       Und während die ganze Republik über die minimalen Hartz-IV-Erhöhungen und
       eine Existenz in Würde streitet, warten die Arbeitslosen weiterhin
       vergeblich auf mehr als rhetorische Solidaritätsbekundungen aus Reihen der
       Gewerkschaften: "Es ist nicht nachvollziehbar, dass der DGB sich in der
       Praxis kaum um die soziale Frage kümmert", sagt Martin Behrsing, Sprecher
       des Erwerbslosenforums in Deutschland. "Michael Sommer wettert zwar gegen
       die Hartz-Änderungen, das ist aber auch schon alles."
       
       Rückendeckung bekommt Behrsing auch von Bernd Riexinger. Er ist
       Geschäftsführer des Ver.di-Bezirks Stuttgart und sieht, was gerade vor
       seiner Haustüre los ist. Zehntausende demonstrieren dort wöchentlich gegen
       einen Hauptbahnhof. Aber aus Protest gegen Hartz IV findet kaum jemand auf
       die Straße. "Es fehlt an einer Parole, hinter der sich alle versammeln
       können", sagt er. "Das müsste der DGB leisten." Doch das Klein-Klein der
       Gewerkschaftskämpfe, die fehlende gemeinsame Linie - das nennen die
       Arbeitnehmervertreter tatsächlich noch ein "dezentrales Aktionskonzept".
       
       Manfred Klöpper ist Mitglied im Exekutivkomitee des Europäischen
       Gewerkschaftsbundes. Der DGB-Regionsvorsitzende aus Oldenburg kennt die
       internationale Perspektive, er hat die gestrige Brüssel-Demo
       mitorganisiert, er weiß, was los ist. Der Gewerkschafter sagt: "Das
       getrennte Marschieren in Deutschland ist eine gewollte Schwäche." Die
       Forderungen der Gewerkschaften "erscheinen in der Öffentlichkeit so
       verschieden wie der Bestand in einem Warenhauskatalog."
       
       Davon kann Hartmut Riemann in seinem Mokka-Passat ein Lied singen. Er ist
       unterwegs zum Stahltarifvertrag. Der 50-jährige Gewerkschafter würde gerne
       mehr für die soziale Frage kämpfen und nicht nur für den Lohn in seiner
       Branche. "Aber es nützt nichts", sagt er. "Wir können derzeit nur in der
       Tarifpolitik Macht ausüben." Gleich will Hartmut Riemann sechs Prozent für
       seine Leute rausholen. Das ist sein kleiner Beitrag für den heißen Herbst.
       
       29 Sep 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Kaul
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Politologe über die Globalisierungskritiker: Ach, Attacis!
       
       Ende Mai findet in Berlin ein großer Attac-Kongress statt. Die eingetragene
       Marke der Globalisierungskritik sieht alt aus, sie ist in den Mainstream
       eingegangen.
       
 (DIR) Gegen Sparmaßnahmen der Regierungen: Proteste in ganz Europa
       
       Von Athen über Madrid, Dublin, Vilnius bis Brüssel: In zahlreichen
       europäischen Städten haben zehntausende Menschen gegen die geplanten
       Sparmaßnahmen ihrer Regierungen protestiert.
       
 (DIR) Kommentar Sozialproteste: Mal auf den Tisch hauen!
       
       Nach dem Frust mit der Sozialdemokratie unter Gerhard Schröder blickten die
       Gewerkschaften zunächst durchaus milde gestimmt auf dessen Nachfolgerin
       Merkel. Eine Falle.
       
 (DIR) Generalstreik in Spanien: Selbst im Fernsehen läuft nichts mehr
       
       Ein Generalstreik legt Spanien lahm. Im ganzen Land demonstrieren die
       Menschen gegen Lohnkürzungen und Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften
       sprechen von einem Erfolg.