# taz.de -- Harald Welzer zu Stuttgart 21: "Die Zukunft wird sehr kleinteilig sein"
       
       > Man sollte Fehlentscheidungen rückgängig machen, sagt der
       > Sozialpsychologe Harald Welzer. Was vor Jahren für Stuttgart beschlossen
       > wurde, habe heute einen anderen Kontext.
       
 (IMG) Bild: "Diese ganzen zentralistisch geplanten und mit gewaltigen Folgen einhergehenden Megainfrastrukturprojekte passen sowieso nicht ins 21. Jahrhundert": Modell von "Stuttgart 21".
       
       taz: Herr Welzer, um was geht es wirklich in Stuttgart? Um einen Bahnhof?
       Um Bäume? 
       
       Harald Welzer: Natürlich geht es um einen Bahnhof und um Bäume, daran
       entzündet sich der Protest.
       
       Offenkundig, oder? 
       
       Klar, aber auf einer abstrakteren Ebene geht es auch um einen berechtigten
       Unmut darüber, dass man ohnmächtig solche gravierenden, lang dauernden
       städtischen Baumaßnahmen vor die Nase gesetzt bekommt.
       
       Die freilich in allen parlamentarischen Instanzen beschlossen worden sind -
       nach teils jahrelangen Beratungen. 
       
       Wenn gesagt wird, die Planungen lägen seit 1992 fest, dann ist das kein
       Pro-, sondern ein Contra-Argument. Was einst beschlossen wurde, findet
       heute einen völlig anderen Kontext vor. Auch deshalb ist Stuttgart 21 ein
       Symbol, das zeigt: Politik hat sich extrem weit von der Bevölkerung und
       ihren Bedürfnissen entfernt. In Stuttgart manifestiert sich das konkret an
       den gefällten Bäumen. Mit Hinweis auf die parlamentarischen Entscheidungen
       wird kalt exekutiert. Doch die Leute mögen es nicht, so behandelt zu
       werden.
       
       Aus Fortschrittsfeindlichkeit? 
       
       Welchen Fortschrittsbegriff haben Sie denn? Liegt Fortschritt für Sie
       darin, sieben Minuten schneller nach Ulm reisen zu können?
       
       Der Spiegel erkennt nun in diesen Protesten den "Wutbürger". Sie auch? 
       
       Das ist denunziatorisch formuliert. Die Protestbewegung ist doch heterogen,
       von der Rentnerin bis zum Schüler. Es ist gar nicht klar, was die im
       Einzelnen an gesellschaftlichen Visionen und Vorstellungen haben. Offenbar
       allerdings haben sie eine andere Idee von gesellschaftlichem Fortschritt,
       gerade im Bereich der Mobilität. Ich finde es nicht gerechtfertigt, diese
       Leute zu verdächtigen, sie hätten keine ernsthaften Motive für ihren
       Protest. Für mich verbirgt sich dahinter eine Reflexion darüber, was aus
       den Verkehrsformen unseres Parlamentarismus und unserer Gesellschaft
       geworden ist.
       
       Und was denn genau? Auch bei den Querelen um die Einflugschneisen des neuen
       Berliner Flughafens geht es doch in Wahrheit um Immobilienpreise in den
       noblen Vierteln. 
       
       Was Sie alles wissen! Woher haben Sie denn diese Wahrheit? Ich sehe nur: An
       verschiedenen Stellen unserer Republik regt sich Protest dagegen, sich
       Entscheidungen aufoktroyieren zu lassen, die man als Teil des politischen
       Gemeinwesen nicht zu tragen bereit ist. Da können wir ja mal über das
       sogenannte Energiekonzept reden.
       
       Bitte, fangen Sie an. 
       
       Es gibt ja eine ganz neue Durchschaubarkeit dessen, wie solche Dinge wie
       das Energiekonzept zustande kommen, wer die Interessenträger sind und wie
       sie argumentieren. Neu ist, dass man die Rolle der Energiekonzerne bei der
       Entscheidungsfindung gar nicht mehr kaschiert. Und im Kern geht es bei dem
       Protest dagegen und auch gegen Stuttgart 21 um Kritik an solchen
       undemokratischen und unsozialen Entscheidungen. Deshalb kann es doch nicht
       angehen, dass man jetzt wieder sofort diesen Protest madig macht. Man muss
       doch schauen, was da für Engagementbereitschaft dahintersteckt und dass
       Leute bereit sind, für ihre eigenen Interessen wieder auf die Straße zu
       gehen. Was ist denn daran schlecht und verwerflich in einer Demokratie?
       
       Nichts, aber in puncto Stuttgart 21 fällt auf, dass dieses Projekt durch
       alle öffentlichen Instanzen gegangen ist. 
       
       Es ist doch Planungsstalinismus, wenn behauptet wird, von der Mobilitäts-
       und Infrastrukturplanung, von der wissenschaftlichen und von der
       politischen Seite haben wir das alles super durchgewunken - also wird das
       jetzt exekutiert. Das ist nicht meine Vorstellung von Demokratie. Die
       beinhaltet auch Reversibilität.
       
       Und die bedeutet? 
       
       Fehlentscheidungen auch rückgängig machen zu können. Wie viel Unfug ist
       denn schon gebaut worden, ohne dass man sagen konnte: An dieser Stelle
       stoppen wir das mal?
       
       Haben die aufflammenden Proteste in der Bundesrepublik ein Gemeinsames? 
       
       Der allgemeine Nenner ist, dass sich die Leute nicht mehr durch die
       traditionelle Parteienpolitik vertreten fühlen, und das trifft die
       Volksparteien im Allgemeinen. Insofern wird diese Art von Protest auch
       nicht zurückgehen.
       
       Ihr Kollege Claus Leggewie hat in der taz formuliert, dass man diese
       Proteste wesentlich feinfühliger moderieren muss. Was schlagen Sie vor, um
       den von Ihnen beiden vorgeschlagenen großen Energieumbau bürgernäher zu
       gestalten? 
       
       Moderation alleine bringt es nicht. Die tritt dann schnell in der
       Formulierung auf: "Man muss die Bürger mitnehmen." Ich zum Beispiel will
       von niemandem mitgenommen werden. Bürger wollen Dinge beurteilen und Folgen
       von Entscheidungen für ihre eigene Gegenwart und Zukunft abschätzen, das
       ist mehr als legitim. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass man sie von
       Anfang an partizipieren lassen muss.
       
       Wie können wir uns das vorstellen? 
       
       Aufhören damit, dass technokratische Planer festlegen, was notwendig ist,
       das dann an die Politik weitergeben, die die ganzen gesetzgeberischen
       Prozesse durcharbeitet und dann staunt, dass die Leute nicht wollen, was
       ihnen da vor die Nase gesetzt wird. Wir haben in allen gesellschaftlichen
       Entscheidungsprozessen diese unsägliche Kombination aus Expertokratie und
       Politik.
       
       Was ist für Sie Expertokratie? 
       
       Eine Kombination aus Verwaltung und Experten, in der unentwegt irgendwelche
       Strategiepapiere mit mundgerechten Informationen darüber verfasst werden,
       was aus ihrer Sicht die Politiker wissen müssten. Das politische
       Gemeinwesen, das sind die Bürgerinnen und Bürger, ist bei diesem Prozess
       völlig außen vor. Das Verhängnisvolle daran ist, dass auf der technischen
       Ebene alle parlamentarischen Verkehrsformen eingehalten werden - aber
       zugleich die Planungsprozesse immanent undemokratisch sind, weil sie nur in
       der Dualität zwischen Techno- und Politikerpolitik ablaufen. Am Ende heißt
       es dann: Was wir entschieden haben, war alternativlos. Oder: Der Ausstieg
       ist zu teuer. Das muss man aushebeln.
       
       Wie? 
       
       Man braucht ein Sensorium dafür, was vor Ort überhaupt notwendig ist. Diese
       ganzen zentralistisch geplanten und mit gewaltigen Folgen einhergehenden
       Megainfrastrukturprojekte passen sowieso nicht ins 21. Jahrhundert. Auch
       deshalb richtet sich Unmut gegen Projekte wie Stuttgart 21.
       
       Was ist denn im 21. Jahrhundert noch Sache? Was Sie beschreiben, klingt
       sehr kleinteilig - und wie die Bestätigung einer Befürchtung gerade
       unionsnaher Kreise, große Projekte seien nicht mehr durchsetzbar. 
       
       Die Zukunft wird tatsächlich sehr kleinteilig sein. Wir sehen ja gerade
       anhand der Folgen im Klima- und Umweltbereich, wohin uns diese
       ungeschmeidige, fehlerunfreundliche Struktur mit großtechnologischer
       Energieversorgung geführt hat. Es führt ja kein Weg daran vorbei, das
       vieles dezentralisiert ablaufen wird. Auch Mobilität wird im weiteren
       Verlauf des 21. Jahrhunderts nicht so aussehen, wie sie jetzt aussieht.
       
       Insofern brauchen die BürgerInnen mehr denn je das Wissen der Experten, um
       überhaupt mitreden zu können? 
       
       Umgekehrt: Die Planer müssen auch das Wissen nutzen, das bei den Bürgern in
       ihrer Alltagsbewältigung schon vorhanden ist. Es ist eine vollkommen
       falsche Perspektive, die Leute immer als jene zu betrachten, die man
       belehren und beglücken muss. Die wissen vielfach selber, wie sie ihre
       Realität bewältigen. Warum geht man nicht hin und schaut sich an, was die
       Bedürfnisse und Problemlagen vor Ort sind, gerade in den Bereichen
       Mobilität und Wohnen? Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute das
       Bedürfnis haben, dass es weniger Autos in ihren Innenstädten und einen
       guten öffentlichen Verkehr gibt.
       
       Wenn es solche Bedürfnisse gibt, wie könnte eine Bürgerbeteiligung
       aussehen? 
       
       Das ist ein Problem der Haltung. Wenn Bürger prinzipiell als Störfaktoren
       wahrgenommen werden und man daraus eine "Dagegenrepublik" fantasiert, dann
       hat man Demokratie nicht verstanden - oder mag sie nicht mehr verstehen.
       Woraus besteht denn ein politisches Gemeinwesen der Idee nach? Aus Leuten,
       die bereit sind, ihre Sicht der Dinge, ihre Interessen in die Waagschale zu
       werfen und nach einem Aushandlungsprozess eine konsensfähige Lösung zu
       finden.
       
       Kann man aus Ihrer Sicht den Herausforderungen des Klimawandels begegnen?
       Ganz Europa muss neu verkabelt werden. Irgendwie braucht man Großprojekte. 
       
       Die vorhandene Infrastruktur schafft bestimmte Standards der
       Energieabnahme, das lässt sich nicht von heute auf morgen in kleine
       Vorgärtenkraftwerke verwandeln. Wir werden noch lange mit den vorhandenen
       Strukturen plus erneuerbare Energien leben müssen. Aber umso schneller muss
       man zukunftsfähige dezentrale Versorgungsstrukturen schaffen. Die sind dann
       auch demokratie- und identitätsförderlich.
       
       Was Ministerpräsident Stefan Mappus derzeit macht, ist demnach
       demokratiefeindlich? 
       
       Ich finde in der Tat, dass die Gefährdung der Demokratie eher von diesem
       technokratischen Durchhaltewillen ausgeht als von der Bereitschaft,
       Fehlentscheidungen zu korrigieren. Es wäre eine schöne Maßnahme gegen
       Politikverdrossenheit, wenn man mal sehen könnte: Wow, sogar Politiker sind
       in der Lage, etwas zurückzunehmen. Es ist ja ein Zeichen von Intelligenz,
       zur Einsicht in eigene Fehler fähig zu sein.
       
       22 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
 (DIR) Jan Feddersen
       
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