# taz.de -- Neuer Verhüllungsstreit in der Türkei: Das Kopftuch als neue Leitkultur
       
       > In der Türkei tobt eine Debatte über das Für und Wider der Verhüllung an
       > Hochschulen und im öffentlichen Dienst. Säkulare Frauen sehen ihre Rechte
       > bedroht.
       
 (IMG) Bild: Fürs Kopftuch entschieden: Türkische Frauen in Ankara.
       
       ISTANBUL taz | An diesem Wochenende jährt sich die Gründung der türkischen
       Republik zum 87. Mal. Für strikte Laizisten markiert der Tag auch deren
       Untergang: Im Präsidentenpalast wird eine verhüllte First Lady die Gäste
       empfangen. Bisher hatte Präsident Abdullah Gül immer zwei Empfänge
       ausgerichtet: einen ohne Damenbegleitung, an dem auch die Gegner der
       moderat islamistischen Regierungspartei AKP teilnahmen, und einen für
       Gäste, denen Frau Güls Bekleidung nichts ausmachte.
       
       Das Land debattiert hitzig über die Aufhebung des Verhüllungsverbots an den
       Universitäten und im öffentlichen Dienst. Die Geistlichen sind sich einig:
       Wenn der Islam die Verhüllung der Frau vorschreibt, muss sie ab der
       Menstruation beginnen. Damit würden sich viele Schülerinnen schon ab dem
       zehnten Lebensjahr verhüllen - die ersten tauchten letzte Woche in Konya
       und Mersin am Schultor auf und wurden wieder nach Hause geschickt.
       
       Verhüllte Lehrerinnen, Richterinnen oder Staatsanwältinnen würden folgen.
       Säkulare Türken befürchten in diesem Fall einen indirekten
       Verhüllungszwang. Untersuchungen des Soziologen Tarhan Erdem zufolge stieg
       die Zahl der verhüllten Frauen von 14,6 Millionen 2003 auf 17,9 Millionen
       2010. Die Unverhüllten sind mit 7,6 Millionen bereits in der Minderheit.
       
       Erstes Kopftuch 1964 
       
       Erdem denkt, dass bei einer Freigabe des Kopftuchs an den Universitäten "in
       drei oder vier Jahren wenig unverhüllte Studentinnen" übrigbleiben. Mit der
       Verbreitung des Kopftuchs greift vor allem in Anatolien eine konservative
       "Leitkultur" um sich.
       
       Das Kopftuch tauchte zum ersten Mal 1964 an der Universität Istanbul auf.
       Die Medizinstudentin Gülseren Atasever durfte wegen ihres Kopftuchs als
       Jahrgangsbeste keine Rede halten. Die Tante des heutigen
       Wirtschaftsministers Ali Babacan wurde 1967 aus dem Hörsaal entfernt,
       worauf erste Proteste gegen das Kopftuchverbot an den Unis stattfanden.
       
       In den 90ern wurde das Kopftuch eher geduldet, in den Krisenjahren bis 2002
       ging es unter. Ein Verfassungsgerichtsurteil von 1989 verbietet formal das
       Kopftuch - der regierungsnahe Hochschulrat erließ jedoch unlängst einen
       Beschluss über Bekleidungsvorschriften, den viele Rektoren zugunsten der
       Verhüllung auslegen.
       
       Nun geraten die Gegner unter Druck: Anfang der Woche demonstrierten an der
       TU Yildiz in Istanbul Studentinnen gegen die Verhüllung. Die Polizei
       antwortete mit Schlagstöcken. Gegen die jungen Leute wurde ein
       Ermittlungsverfahren eingeleitet.
       
       Ministerpräsident Tayyip Erdogan beschuldigte vor wenigen Tagen die
       unverhüllten Frauen, mit den verhüllten nicht solidarisch zu sein. In
       Wirklichkeit treten linke und liberale Frauenorganisationen für das Recht
       auf freie Wahl der Kleidung für Studierende ein. Sie sind aber gegen die
       Verschleierung im öffentlichen Dienst und in den Grund- und Mittelschulen.
       
       Die Feministin Hülya Gülbahar meint, dass die islamistischen Frauen
       wichtigere Themen wie Gewalt gegen Frauen nicht genug diskutierten. Die
       säkularen Frauen fürchten den Verlust ihrer Rechte. Die Kolumnistin Sükran
       Soner ist überzeugt, dass die Verhüllung die Frau diskriminiert und aus der
       aktiven Gesellschaft ausschließt, weil sie diese auf ihr Geschlecht fixiert
       und von ihr ein serviles Verhalten gegenüber dem Mann einfordert.
       
       Demgegenüber pochen Frauen wie Nihal Bengisu auf ihre "individuellen
       Freiheit", sich zu verhüllen: "Für uns Frauen aus konservativen Familien
       ist das Kopftuch der einzige Weg, um am Gesellschaftsleben teilzunehmen."
       Umfragen belegen einen Rückgang der Frauenerwerbstätigkeit. Nach dem
       jüngsten Bericht des World Economic Forum belegt die Türkei in Sachen
       Frauenrechte unter 134 Ländern den 126. Platz. Ob die "Freiheit der
       Verschleierung" die Lage der Frauen tatsächlich verbessert, wird sich
       zeigen.
       
       28 Oct 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Dilek Zaptcioglu
       
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 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
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