# taz.de -- Leben im digitalen China: Die Überwindung der großen Mauer
       
       > Wie das Internet China verändert: Der chinesische Blogger Michael Anti
       > über Mut und Meinungsfreiheit im Reich der Mitte - und seinen
       > inhaftierten Freund Liu Xiaobo.
       
 (IMG) Bild: Das Internet in China war immer zensiert - doch viele "Netzbewohner" die so genannte Great Firewall.
       
       TOKIO taz | Eine Sekunde nachdem Thorbjørn Jagland den Namen Liu Xiaobo auf
       Norwegisch verlas, twitterte ich auf Chinesisch und Englisch: "Oh mein
       Gott, der chinesische Dissident Liu Xiaobo gewinnt den Friedensnobelpreis."
       Dann brach ich in Tränen aus. Ich saß in meinem Studentenwohnheim der
       Universität Tokio. Ich weinte mindestens fünf Minuten ohne Kontrolle. Auf
       dem Bildschirm hatte sich in diesen fünf Minuten meine Twitter-Timeline
       gefüllt mit Freude und Tränen chinesischer Twitterer.
       
       Als Gastforscher in Japan konnte ich nicht mit Freunden in Peking ausgehen
       und feiern. Aber ich konnte ihr Feuerwerk förmlich hören und sie sehen,
       betrunken und weinend. Am Abend rief ich meine Frau an, die für einen
       nationalen Fernsehsender arbeitet, und fragte sie nur: "Hast du die
       Nachricht gehört?" "Natürlich!", antwortete sie schnell und freudig erregt.
       
       Liu Xiaobo ist unser Freund, und er war der Gastgeber unserer Hochzeit
       2007, über ein Jahr bevor er festgenommen wurde, aber wir haben es uns
       angewöhnt, ihn und seine Arbeit nicht am Telefon zu erwähnen. Aus
       Sicherheitsgründen.
       
       Unsere Generation hat nur wenig über Freiheit und Demokratie gelernt in der
       Schule, aber ich erinnere mich an einen Satz aus meinem Englischbuch von
       Martin Luther King: "Endlich frei, endlich frei, danke Gott Allmächtiger,
       wir sind endlich frei".
       
       Obwohl das Internet in China immer zensiert war, umgehen viele Netizens
       ("Netzbewohner") wie ich die Great Firewall mit Virtual Private Network
       (VPN), einer Schnittstelle, die Teilnehmer aus einem Netz herausnimmt und
       an ein anderes anbindet. Wir schufen uns einen unzensierten virtuellen Raum
       und praktizierten online unsere eigene virtuelle Redefreiheit. Wir
       twitterten, bloggten, kritisierten und rissen Witze über die Regierung -
       fast wie normale, westliche Netizens. Aber im wirklichen Leben wusste
       jeder, der nicht Dissident werden wollte, wie die politische Grenze nicht
       überschritten wird.
       
       Liu Xiaobo hat diese Grenze überschritten und schützte uns vor Verhaftung
       mit seinem eigenen Leid. In den vergangenen 21 Jahren seit 1989 haben
       Helden immer gelitten, und wir normalen Leute haben immer ein etwas
       ängstliches Doppelleben geführt.
       
       In der Nacht zum 8. Oktober erreichte uns eine wirklich gute Nachricht über
       einen Helden aus diesem mittelalterlichen Land. Gerechtigkeit ist noch
       wach, sagt der Preis, nicht nur online, sondern auch im wirklichen Leben.
       
       Die ersten Internetcafés 
       
       Ich bin nicht immer ein Unterstützer von Liu gewesen. Im Mai 1989 habe ich
       Studenten und Liu, die auf dem Tiananmen-Platz dabei waren, in meinem
       Tagebuch angeklagt. Für mich waren Menschen wie Liu Verräter unseres
       Vaterlandes und es war die Armee, die uns vor einem landesweiten Aufruhr
       bewahrte. Ich war 14 und ein aktives Mitglied des Kommunistischen
       Jugendverbands. Und um das noch schlimmer zu machen, war ich außerdem ein
       großer Japan-Gegner und Nationalist.
       
       1998 erschienen die ersten Internetcafés in Wuxi, einer Kleinstadt zwischen
       Schanghai und Nanjing, wo ich als Computerprogrammierer arbeitete. Das
       Internet war ein wahres Wunderland für mich - alle Informationen waren
       verfügbar, nur durch Klicken und Suchen. Mein chinesischer Name ist Jing,
       was "leise sein" bedeutet. Das war das, was ich am wenigsten sein wollte.
       Ich änderte meinen Namen zu Anti, ich wollte ein Freiheitskämpfer sein wie
       William Wallace, eine von Mel Gibson gespielte Rolle in dem Film
       "Braveheart" von 1995.
       
       Das Internet führte mich zu ungeöffneten Archiven nationaler Tragödien.
       Nachdem ich Memoiren und mündliche Erzählungen von Liu und seinen Freunden
       über Tiananmen gelesen hatte, erkannte ich, dass ich vollkommen falsch
       gelegen hatte. Also wurde ich ein Anti, ein Protestierer gegen das
       Establishment. Ich errichtete Plattformen zur Rede-, Presse- und
       Religionsfreiheit. Ein Programmierer wurde zu einem Kritiker im Netz.
       Bekannt zu sein half auch meiner Karriere. Ich wurde eingeladen, in eine
       Metropole, Guangzhou, zu ziehen, um dort als Technischer Direktor einer
       Gesundheitswebseite zu arbeiten. Später ging ich in die Hauptstadt Peking,
       als Produktmanager eines Webseiten-Unternehmens.
       
       Aber meine neue Internetidentität hatte mich so sehr verändert, dass ich
       mich schließlich dem Journalismus zu wandte. Ich wurde angestellt von einer
       Pekinger Tageszeitung, Huaxia Times, als Chefkommentator. Mein Chef war ein
       Freund Liu Xiaobos und er kannte mich aus dem Internet. Er war mein Lehrer
       und hat mich von einem Netizen zum Journalisten gemacht. Netizens erzählen
       Geschichten von sich selbst, Journalisten erzählen Geschichten von anderen.
       
       Ein neuer Traum 
       
       Ich war nicht der einzige Glückspilz, der von einem Niemand zu einer
       respektierten Persönlichkeit in den chinesischen Medien wurde. In den
       Jahren um 2000 sind viele Medienunternehmen expandiert - Fernsehsender,
       Magazine und Zeitungen - und wurden zu sogenannten Mediengruppen. Sie waren
       auf der Suche nach jungen Journalisten. Journalistenschulen boomten, im
       Jahr 2000 waren es 1.000 in China. Aber die alten Lehrbücher brachten den
       Studenten nichts bei über Politik, Wirtschaft, Kommentare oder gar
       objektive Berichterstattung. Sie waren darauf ausgerichtet, Propagandisten
       zu formen.
       
       Für die wachsenden Medien waren die Netizens eine bessere Nachwuchsquelle.
       Ihre Arbeit online überzeugte ihre zukünftigen Arbeitgeber, dass sie gute
       Reporter und Kommentatoren sein würden. Tausende von Internet-Identitäten
       tauchten in den Autorenzeilen auf. Diskussionen, die bisher nur auf
       Internetplattformen stattgefunden hatten, wurden zu Medienthemen. Seit dem
       Beginn dieses Trends wurden die chinesischen Medien "internetisiert" und
       das Netz wurde zum freien Zweig der traditionellen Medien, nicht ihr
       Gegner, wie in den USA und Europa.
       
       Ich wurde zum Korrespondent in Peking, Kriegsreporter in Bagdad und
       schließlich Rechercheur des Pekinger Büros der New York Times.
       
       Als Liu im Oktober 1999 zum zweiten Mal aus dem Gefängnis entlassen wurde,
       hatte er noch nicht viel verpasst vom Beginn der Internet-Ära. Dissidenten
       wie er hatten nur eine Möglichkeiten, die einfachen Menschen zu erreichen.
       Es war die Great Firewall, die nicht von der Technik umgangen werden
       konnte. Liu Xia, seine Frau, sagte einmal zu uns, das Internet habe ihm
       eine neue Welt gegeben. Er schrieb weiter und wir Leser hatten die Chance
       zu verstehen, dass er ein netter Liberaler wie wir war, kein mysteriöser
       Verschwörer, wie die Regierung uns hatte glauben machen wollen. Immer mehr
       junge Menschen wie ich kamen ihm und seiner Sache näher.
       
       Das twitternde China 
       
       Jetzt bin ich ein professioneller Kolumnist und Journalist, aber ich nenne
       mich lieber Blogger. Meinen persönlichen Blog begann ich Ende 2004 bei der
       New York Times. Deren Unternehmen erlaubte mir, nur auf Chinesisch zu
       bloggen, um Interessenkonflikte mit der Zeitung zu vermeiden. Mein
       kolumnenartiger Blog auf Microsoft MSN wurde bald zum bekanntesten
       politischen Blog in China. Ich hatte gedacht, amerikanische Blogs wären ein
       Freiraum der chinesischen Zensur, in dem ich sagen konnte, was ich wollte.
       Aber das entpuppte sich als Mythos - mein Blog wurde im Dezember 2005 auf
       Druck der chinesischen Regierung gelöscht.
       
       Seit dem Frühjahr 2009 geben Twitter, Klone von Twitter und Weibo, ein
       chinesischer selbst zensierter Blogservice, der chinesischen Gesellschaft
       frischen Wind. Die Regierung blockierte Twitter im Juli 2009, aber über
       VPN, Proxies oder Anwendungen von Drittanbietern haben die Menschen
       weiterhin Zugriff auf die Plattform. Twitter war die erste nationale
       Plattform mit 100 Prozent Redefreiheit, seit Konfuzius eine sich selbst
       zensierende Schreibmethode erfand, um die brutale historische Wahrheit
       festzuhalten und nicht selbst umgebracht zu werden. Netizens begannen
       Twitter und andere Internetdienste zu nutzen, um eine robuste
       Zivilgesellschaft aufzubauen.
       
       Die Menschen haben Hoffnung geschöpft und wieder verloren in dem
       Katz-und-Maus-Spiel gegen die Internetzensur. Einige der Journalisten, die
       als Netizens begannen, wechseln jetzt zur Regierungsseite und klagen Liu
       Xiaobo und Norwegen öffentlich an. Aber viel mehr junge Studenten folgen
       den Schritten von Liu und seinen Anhängern, twittern und bloggen ihre Worte
       ohne Angst, gelöscht zu werden.
       
       Nur mit Twittern und dem Friedensnobelpreis kann China keine Demokratie
       werden, aber, das ist offensichtlich, mutig zu twittern, dass Liu Xiaobo
       den Friedensnobelpreis bekommen hat, ist einer der ersten Schritte dieser
       langen Prozesses.
       
       Michael Anti wurde 1975 in Nanjing geboren. Er arbeitete u. a. für die "New
       York Times" und die "Washington Post" in Peking. Derzeit ist er
       Gastprofessor an der Universität Tokio. 
       
       Übersetzung aus dem Englischen von Frauke Böger
       
       5 Nov 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Anti
       
       ## TAGS
       
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