# taz.de -- Ehemaliger Diplomat über Wikileaks: Ihr könnt euch niemals sicher sein
       
       > Die Veröffentlichung von US-Depeschen wird nicht zu mehr Transparenz,
       > sondern zu weniger Offenheit führen. Die Diplomatie zuckt nur die
       > Schultern - zu Recht.
       
 (IMG) Bild: Politikern und Diplomaten vorbehalten: roter Teppich.
       
       Es wird vorbeigehen - auch wenn es erst noch einmal schlimmer kommen
       könnte, bevor es wieder besser wird. Alle Aufgeregtheit, Empörung und
       Bestürzung ist verständlich.
       
       Doch ob man Hilary Clintons Sicht - die Veröffentlichung von 250.000
       US-Diplomaten-Berichten seien "ein Angriff auf die Weltgemeinschaft" - oder
       die Wertung des italienischen Außenministers Franco Frattini, dies sei das
       "9/11 der Diplomatie" (puh - da dürften manche gezuckt haben, und nicht nur
       US-Amerikaner), teilt, hängt von zwei Dingen ab: Erstens der Frage, wer
       hier überhaupt das Opfer dieser "leaks" ist. Und zweitens vom Stellenwert,
       den man dem "Angreifer", also Wikileaks und dessen Gründer Julian Assange,
       zuschreibt.
       
       Was klar ist: Die Zeit der digitalen Apokalypse ist da - und das mit aller
       Macht. Was "Freiheit" und "Information" im Internetzeitalter wirklich
       bedeuten, muss neu definiert werden. Die wichtigste Botschaft lautet: Seid
       gewarnt! Nichts ist mehr "off limits". Was das diplomatische Korps der USA
       gerade durchmacht, steht uns allen bevor - nicht nur Regierungen, sondern
       auch ganz normalen Bürgern.
       
       Nur: Was die "Enthüllungen" selbst angeht, sollten wir die Kirche im Dorf
       lassen. Kaum etwas von all dem ist grundlegend neu - oder wird die
       Außenpolitik signifikant verändern. Wenn es überhaupt Neuigkeiten gibt,
       dann eher graduelle, aber nicht in der Substanz. Staaten betreiben
       schließlich ihre Geschäfte untereinander, weil dies in ihrem beiderseitigen
       Interesse ist, nicht aus Liebe oder auch nur aus Respekt voreinander.
       
       Die Medien haben sich daher auch zunächst einmal auf die wenig liebevollen
       Beschreibungen von Regierungschefs - einiges davon echte Schmähungen,
       anderes halbwegs lustig, und manches höchst wahr - gestürzt. So etwas wird
       gern gelesen; die vermeintlichen Unzulänglichkeiten hoher Tiere öffentlich
       zur Schau zu stellen, sorgt für Schadenfreude und atavistisches Vergnügen.
       Dass US-Diplomaten (nicht zu verwechseln mit der US-Regierung in
       Washington) derart über Freunde und Alliierte herziehen, macht es -
       zumindest für manche - besonders pikant. Aber das ist der relativ harmlose
       Teil.
       
       "Leaks" und Indiskretionen sind immer schmerzhaft - für die, die hier
       Informationen durchstechen wie für die, die gemeint sind. Dass eine solche
       ungeschminkte Sicht ab und zu öffentlich wird, richtet vermutlich wenig
       Schaden an - sondern ist eher eine Art unbeabsichtigtes Feedback. Es gehört
       zur Diplomatie dazu - und ist gut kontrollierbar. Auch wenn wir fasziniert
       auf diese "Enthüllungen" starren: Die meisten bestätigen doch nur dieselben
       Vorurteile, die wir auch aus der Zeitung haben könnten.
       
       Es wäre doch viel interessanter, den italienischen Premier als einen Mann
       von makelloser Tugend beschrieben zu sehen, oder zu erfahren, dass
       arabische Staatsführer ihren iranischen Kollegen als verlässlichen Freund
       mit rein wissenschaftlichem Interesse an Atomphysik begreifen. Korruption
       auf höchster Ebene in Russland? Gibt es sicher nicht!
       
       Herr Putin mag nun eher heimlich Gefallen daran finden, als "alpha dog"
       bezeichnet zu werden. Und zu Hause in Berlin könnte Renate Künast aus dem
       "Fehlen von Starallüren" sogar Kapital schlagen: Das sollte ihr mehr Zeit
       lassen, Berlin vernünftig zu regieren, wenn sie den Job denn bekommt.
       
       Nichts von dem wird lange nachwirken. Horst Seehofer hatte schon recht, das
       Ganze als "Cocktailparty-Geschwätz" (auch wenn er das nicht wirklich
       glaubt) abzutun. Und Wolfgang Schäuble war ganz er selbst, als er sagte,
       ihm sei doch egal, was amerikanische Diplomaten von ihm halten (selbst wenn
       das nicht stimmt). Beide haben sofort begriffen, dass US-Diplomaten kein
       Monopol auf fiese Einschätzungen haben. Es wäre aufschlussreich, einmal zu
       lesen, was die Deutschen über die Briten sagen - oder die Franzosen.
       
       Schließlich gehört all das zum diplomatischen Handwerk dazu: die Macher und
       Meinungsführer des Gastlandes zu identifizieren, ihre Stärken und Schwächen
       zu analysieren. Deals zu machen und unverhohlen in die eigenen Hauptstädte
       zu berichten, was wichtig ist und was nicht in diesen Ländern - ob sie nun
       demokratisch sind oder nicht.
       
       Denn Diplomatie hat nichts mit Komplimentemachen zu tun. Man verhandelt
       auch nicht ständig mit netten und kompetenten Menschen. Diplomatie ist aber
       auch keine Geheimwissenschaft. Es geht darum, Einfluss geltend zu machen -
       mit allen Folgen. Doch dafür sind Staaten - wie jedes einzelne Individuum -
       auf Vertraulichkeit und Privatsphäre angewiesen. Diplomaten müssen
       möglichst korrekte Entscheidungen auf der Basis möglichst akkurater
       Informationen treffen, ihre "Botschaften" mit Blick auf die verschiedenen
       Empfänger abstimmen und abstufen.
       
       Daher ist viel wichtiger und ernster, was unter der Oberfläche dieses
       Eisbergs von 250.000 Dokumenten lauert - auch wenn sich dort schon genügend
       finden lassen wird, was voreingenommen, wenig hilfreich oder regelrecht
       gefährlich ist. Hier liegt Frau Clinton mit ihrer Empörung richtig - sowohl
       mit Blick auf die nationale Sicherheit der USA und anderer Länder wie mit
       Blick auf die potenzielle Gefahr für einzelne Betroffene. Wir haben bereits
       die Folgen in Afghanistan gesehen - und das zu einer Zeit, in der sensibles
       Handeln und Solidarität unter den Alliierten wichtiger sind denn je.
       
       Herr Assange macht sich nicht gerade beliebt, indem er dies ignoriert - und
       seine eigene Verantwortung für die Folgen der Veröffentlichungen nicht
       akzeptiert. Das ist kein mutiges Whistleblowing. Sondern anmaßend und
       verantwortungslos.
       
       Und wirft die Frage auf, was Wikileaks hier antreibt? Darauf gibt es weiter
       keine Antwort. Warum wird eine Masse von Verschlusssachen derart wahllos
       öffentlich gemacht? Bezeichnenderweise sagt Wikipedia-Mitgründer Jimmy
       Wales, Wikileaks sei keine echte "Wiki"-Seite, da Nutzer weder kommentieren
       noch die Einträge bearbeiten könnten - was wenig überrascht.
       
       Herr Assanges Grundsatz scheint vielmehr zu sein, dass das Aufdecken von
       Geheimem und Vertraulichem sich selbst genügt, als eine Art öffentliches
       Gut. Doch dies lässt völlig außer Acht, dass das Private genauso ein
       öffentliches Gut ist - und erst das gegenseitige Vertrauen schafft, das da
       sein muss, wenn man bestimmte Informationen miteinander teilen will.
       
       Nun ist Herr Assange unbestritten ein gewiefter Hacker, ein intelligenter
       und selbstbewusster Campaigner - allerdings mit einem hochentwickelten
       Sinn, was seine eigene Wichtigkeit für die Zukunft der Menschheit angeht.
       Eine Pressekonferenz in London Ende Oktober nach der Veröffentlichung von
       400.000 Dokumenten zum Irakkrieg war besonders aufschlussreich: Assange
       erklärte mit atemberaubender Hybris, dass "die Wahrheit" (wahrscheinlich
       meinte er seine ganz persönliche) "keine politische Zielsetzung" brauche
       (außer vielleicht seiner eigenen). Doch genug davon.
       
       Frattinis Anmerkungen scheinen nun nahezulegen, dass Herr Assange der
       Diplomatie allgemein den Todesstoß versetzt hat. Ich hoffe sehr, dass er
       falsch liegt. Diplomatie ist eine alte Profession, vielleicht die
       zweitälteste der Welt. Sie wird diese Krise überleben, und deutliche Worte
       werden weiter in die Heimatländer gekabelt werden - allerdings unter
       strengeren Sicherheitsvorkehrungen als bisher.
       
       Genau hierin liegt die Ironie der ganzen traurigen Angelegenheit: Größere
       Transparenz weltweit, dieses Ziel, dem angeblich auch Herr Assange
       verpflichtet ist, wird durch sein Handeln nicht verstärkt, sondern eher auf
       der Strecke bleiben. Und weil Informationen immer auch Macht bedeuten,
       werden sie nun um so eifersüchtiger bewacht.
       
       In den letzten Jahren hatte sich zumindest in Europa die Außenpolitik
       deutlich stärker für das Engagement von NGOs geöffnet, vor allem in der
       Entwicklungspolitik, bei Menschenrechten und Umweltthemen. Für alle
       Beteiligten ist dies ein großer Fortschritt - doch nun könnte sich die
       Entwicklung umkehren. Saubere Leistung, Julian!
       
       Übersetzung: Steffen Grimberg
       
       5 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hugh Mortimer
       
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