# taz.de -- Der Fall Assange und die schwedische Justiz: Verschwörung, Zufall oder Routine
       
       > Wikileaks Cablegate hat sich für die schwedische Öffentlichkeit zu einem
       > veritablen Fortsetzungskrimi entwickelt. In Sachen Julian Assange gibt
       > die schwedische Justiz Rätsel auf.
       
 (IMG) Bild: Was die beiden Schwedinnen Assange genau vorwerfen, ist bislang Gegenstand von Spekulationen und unbestätigten Lecks aus Justizkreisen.
       
       STOCKHOLM taz | Wikileaks Cablegate hat sich für die schwedische
       Öffentlichkeit zu einem veritablen Fortsetzungskrimi entwickelt. Täglich
       können seit einigen Wochen die beiden Stockholmer Zeitungen, die Zugriff
       auf die teilweise noch unveröffentlichten Dokumente mit Schwedenbezug
       haben, mit neuen verblüffenden Enthüllungen über die geheime Zusammenarbeit
       zwischen den USA und Schweden aufwarten.
       
       Dass das früher "neutrale" jetzt offiziell "allianzfreie" Land eigentlich
       immer ein geheimer NATO-Verbündeter war, ist keine neue Erkenntnis. Kann
       man aber schwarz auf weiß lesen, wie man von seinen PolitikerInnen an der
       Nase herumgeführt wird, bekommt das jedoch durchaus noch eine andere
       Qualität.
       
       Zumal es auch neue Einzelheiten gibt. Eine enge geheimdienstliche
       Zusammenarbeit mit den USA wurde offensichtlich ganz absichtlich am
       Parlament vorbei installiert. Was ein Verstoß gegen die Verfassung wäre.
       Für die oppositionelle schwedische Linkspartei ist das so "extrem
       erschütternd", dass sie nun die Einrichtung einer "Wahrheitskommission"
       fordert. Und die sozialdemokratische Tageszeitung Aftonbladet kommentiert:
       "Niemand kann länger als 'Konspirationstheorien' abtun, wie weit Schweden
       von der anderen Seite des Atlantiks her gesteuert wird."
       
       Wegen der Geheimdienstmauscheleien derzeit im Zentrum der Kritik, steht
       Schwedens Justizministerin Beatrice Ask. Es gibt erste Forderungen nach
       ihrem Rücktritt und natürlich gibt diese direkte Verwicklung der
       Dienstherrin der schwedischen Anklagebehörde auch Verschwörungstheorien in
       Sachen Assange neuen Auftrieb.
       
       So äußerte sich beispielsweise Assanges britischer Anwalt Mark Stephens
       gegenüber der BBC: Ein "politischer Stunt" sei die Verfolgung des
       Wikileaks-Gründers Julian Assange durch die schwedische Justiz. Ausgeführt
       von einem Land, das sowieso auf dem Schoß der USA sitze. Der eigentliche
       Grund hinter der juristischen Verfolgung von Assange seien also nicht
       Vergewaltigungsvorwürfe, sondern das Bemühen, Wikileaks mundtot zu machen.
       Auch aus eigenem politischem Interesse?
       
       Ein Rückblick: Julian Assange hält sich Mitte August zu einer Vortragsreise
       in Schweden auf. Eingeladen hat ihn die christlich-sozialdemokratische
       Organisation "Broderskapsrörelsen". Wie schon bei früheren
       Schweden-Besuchen vermeidet Assange aus Sicherheitsgründen einen
       Hotelaufenthalt. Anna A., eine 31-jährige Pressemitarbeiterin von
       "Broderskapsrörelsen" bringt ihn bei sich zu Hause unter. Man pflegt
       offenbar auch privaten Umgang. A. twittert über ein geplantes Krebsessen
       mit Assange – im August ist Krebssaison in Schweden – und einen Tag später
       über einen gelungenen Abend.
       
       Fünf Tage später, Freitagnachmittag den 20. August, taucht Anna A. zusammen
       mit der 26-jährigen Fotografin Sofia W. auf einem Stockholmer Polizeirevier
       auf. Beide geben Angaben zu Protokoll, die die diensthabende Staatsanwältin
       sofort veranlassen, gegen Julian Assange einen Haftbefehl wegen Verdachts
       auf Vergewaltigung zu erlassen. Die beiden Schwedinnen erstatten keine
       eigene Strafanzeige, die Anklagebehörde ermittelt aufgrund ihrer Angaben
       "von Amts wegen".
       
       Was sie Assange genau vorwerfen, ist bislang Gegenstand von Spekulationen
       und unbestätigten Lecks aus Justizkreisen. Angeblich soll ein
       einvernehmlicher geschützter in einen nicht mehr einvernehmlichen und
       ungeschützten Geschlechtsverkehr übergegangen sein. Und in ihrer bisher
       einzigen öffentlichen Stellungnahme warf Anna A. Julian Assange in einem
       Zeitungsinterview vor, ein "schiefes Frauenbild" zu haben und "Probleme
       damit, ein Nein zu akzeptieren".
       
       Das was zwischen Assange und diesen beiden Frauen angeblich geschehen sein
       soll, ist jedenfalls strafrechtlich offenbar so wenig zwingend einzuordnen,
       dass die Vorgesetzte der ursprünglichen diensthabenden Staatsanwältin nach
       wenigen Stunden, am Samstag, den 21. August, den Haftbefehl wieder aufhebt.
       
       Vier Tage später teilt die Anklagebehörde mit, es werde gegen den
       Wikileaks-Gründer nur noch ausschließlich wegen Belästigung – ausdrücklich
       nicht wegen sexueller Belästigung oder Nötigung, das sind in Schweden
       spezielle Tatbestände – ermittelt.
       
       Anna A. und Sofia W. sind damit offenbar nicht zufrieden und nehmen sich
       einen Anwalt. Claes Borgström ist ein prominenter Rechtsanwalt. Er war von
       2000 bis 2007 schwedischer Gleichberechtigungs-Ombudsman, ist seither
       Sprecher der Sozialdemokraten in Gleichstellungsfragen, bezeichnet sich als
       Feminist und erregte einiges Aufsehen, als er 2006 vorschlug, Schweden
       solle die Fussball-Weltmeisterschaft in Deutschland boykottieren: Aus
       Protest gegen den im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung wachsenden
       Handel mit Frauen – in Schweden ist die Inanspruchnahme der Dienste von
       Prostituierten ein Straftatbestand. Borgström betreibt eine Anwaltskanzlei
       zusammen mit Thomas Bodström. Der war bis 2006 schwedischer Justizminister
       und bis vor kurzem rechtspolitischer Sprecher der Sozialdemokraten.
       
       Borgström legt gegen die Aufhebung des Haftbefehls Beschwerde ein. Hierüber
       entscheidet zuständigkeitshalber eine – die mittlerweile dritte mit dem
       Assange-Komplex befasste - Staatsanwältin aus Göteborg. Marianne Ny,
       Expertin für sexuelle Gewalt und Leiterin eines entsprechenden Dezernats,
       teilt am 1. September mit, sie ermittle nun wieder wegen Vergewaltigung.
       Danach hört man lange gar nichts mehr.
       
       Anfragen von Journalisten werden mit dem Hinweis auf "fortgesetzte
       Ermittlungen" vertröstet. Bis am 18. November auf Antrag von Ny das
       Amtsgericht Stockholm plötzlich einen neuen Haftbefehl gegen Assange
       erlässt. Mit den bislang umfassendsten Tatvorwürfen: Vergewaltigung,
       sexuelle Belästigung in drei Fällen und ein Fall von Nötigung.
       
       Zu diesem Haftbefehl sei man gezwungen, sagt Ny, weil Julian Assange sich
       geweigert habe, zu einem Verhör in Schweden zu erscheinen. Dieses Verhör
       sei unerlässlich, um die Ermittlungen zu einem Abschluss zu bringen und
       danach zu entscheiden, ob überhaupt Anklage erhoben werden solle oder
       nicht. Eine Einvernahme außerhalb Schwedens lehnt die Staatsanwältin mit
       etwas schwebenden Begründungen ab. Zwei Gerichtsinstanzen heissen dieses
       Vorgehen gut, worauf Schwedens Reichspolizeiführung die internationale
       Polizeibehörde Interpol bittet, aktiv zu werden.
       
       Nicht nur Assanges britischer, sondern auch sein schwedischer Anwalt, Björn
       Hurtig, kommt ob eines so auffallenden zeitlichen Zusammenhangs mit
       Wikileaks-Cablegate "schon ins Grübeln". Und mit ihm auch einige
       schwedische Medienkommentare. Auch wenn es keine Veranlassung gebe,
       irgendeine "hohe Meinung zu Assanges privater Moral zu haben", kommentiert
       beispielsweise Aftonbladet: "Interpol jagt nicht einen Vergewaltiger, die
       wollen einen 'Terroristen' haben."
       
       Politische Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft ist – Stichwort:
       Weisungsbefugnis - nie von der Hand zu weisen. Und die SchwedInnen sind -
       was Rechtssicherheit angeht - von ihrer Justiz nicht sonderlich verwöhnt.
       Das Fehlen einer Verfassungsgerichtbarkeit beklagen viele JuristInnen schon
       lange als ernsthaftes Manko und halten ein solches Korrektiv für dringend
       erforderlich. Trotz alledem: Es könnte in Sachen Assange auch ganz einfach
       seinen normalen – und manchmal eben etwas chaotischen – juristischen Gang
       gegangen sein. Pfusch und Murks eingeschlossen.
       
       7 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Reinhard Wolff
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Vergewaltigungsvorwurf gegen Assange: Nein heißt Nein
       
       Der Vergewaltigungsvorwurf gegen Wikileaks-Mann Julian Assange ist
       juristisch nicht abwegig. Und nein, ein geplatztes Kondom gilt auch in
       Schweden nicht als Vergewaltigung.
       
 (DIR) Gegenangriffe aus dem Netz: Anonymus gegen Mastercard
       
       Das Netz schlägt zurück: "Websites, die sich Regierungsdruck beugen, werden
       Ziele". Das sagten Online-Aktivisten vor einer Attacke auf Mastercard.
       
 (DIR) Schwedische Wikileaks-Enthüllungen: Sechs Punkte gegen Filesharing
       
       Die schwedische Staatsanwaltschaft weist den Vorwurf politischen Drucks
       durch die USA zurück. Von Wikileaks veröffentlichte Dokumente zeigen das
       Gegenteil.
       
 (DIR) Kommentar Assange-Verhaftung: Wikileaks ist mehr als sein Star
       
       Mit ihrem Anti-Terror-Kampf haben die westlichen Demokratien das Bedürfnis
       nach Wikileaks erst geschaffen. Würde es untergehen, träte eine ähnliche
       Seite an seine Stelle.
       
 (DIR) Festnahme von Julian Assange: Das Netz hat sich zugezogen
       
       Julian Assange bleibt mindestens eine Woche in Haft. Der
       US-Verteidigungsminister Robert Gates nannte die Festnahme eine "gute
       Nachricht".
       
 (DIR) Wikileaks-Gründer stellt sich: Assange in London verhaftet
       
       Die britische Polizei hat den wegen Vergewaltigungsvorwürfen gesuchten
       Julian Assange in Gewahrsam genommen. Der Wikileaks-Gründer stellte sich
       den Behörden. Ein Video-Statement soll folgen.
       
 (DIR) Druck auf Wikileaks nimmt zu: Hackerethik gegen Staatsbürokratie
       
       Amazon, Paypal und Mastercard haben die Zusammenarbeit mit Wikileaks
       beendet. Im Gegenzug spiegeln Netzaktivisten die Inhalte des Portals. Was
       bedeutet das alles?
       
 (DIR) Ehemaliger Diplomat über Wikileaks: Ihr könnt euch niemals sicher sein
       
       Die Veröffentlichung von US-Depeschen wird nicht zu mehr Transparenz,
       sondern zu weniger Offenheit führen. Die Diplomatie zuckt nur die Schultern
       - zu Recht.
       
 (DIR) Die Woche: Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?
       
       Nachmittagsserien wie "Master Julian, der wackere Datenspaten" werden in
       300 Jahren so richtig fetzen. Blinzelaugust Sarrazin verpasst hingegen
       knapp den Charismatiker-Status.
       
 (DIR) Kommentar Wikileaks: 213.251.145.96
       
       Journalisten sollten die Versuche scharf verurteilen, Wikileaks aus dem
       Netz zu drängen und damit auch den Spendenfluss an die Enthüllungsplattform
       abzudrehen.