# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Bürgerträume am Heizpilz
> Frostdezimierte Demonstranten in Stuttgart verbeißen sich ins
> aussichtslose "Weg mit!". Die Konservativen ziehen sich zurück ins
> Schneckenhaus. Aber die Vision lebt.
(IMG) Bild: "Kopf bleibt oben": Demonstranten in Stuttgart.
Kleingärten im Winterschlaf. Ein paar Schritte noch, vorbei an verkramten
Hinterhöfen, dann liegt eine Brache vor uns: 70 Hektar, nördlich vom
Hauptbahnhof, auf der Schneedecke nur ein paar Hundespuren. "Berlin 21",
sagt einer, und, als wir ihn fragend anblicken: "Zu spät. Ehemaliges
Volkseigentum, das meiste vor drei Jahren in die Schweiz verkauft, für eine
Milliarde."
Im Nachgang geschlossener Verträge kommen Bürger immer zu spät. "Alle Hebel
der Macht sind in der Hand der anderen Seite", gab Boris Palmer nüchtern zu
Protokoll. Und nun? Die schwarze Prognose: Der wendige Herr Mappus bekommt
"die zehnfache Zustimmung der vernünftigen Bürger" (H. Geißler);
frostdezimierte Demonstranten verbeißen sich ins aussichtslose "Weg mit!";
die Konservativen ziehen sich zurück ins Schneckenhaus; Grüne und SPD
lavieren zwischen Basiswut und Rechtslage.
Heimatliebender Wutbürger
Die Stimmung kippt, die Presse wankt. Die "Wutbürger"der "Deutschen Tea
Party" seien "reaktionär", schreibt Adam Soboczynski in der Zeit. Nicht,
weil bei ihnen explosiv zusammenwächst, was zusammengehört - Heimatliebe
und Antikapitalismus -, sondern weil sie "von glühendem Misstrauen" gegen
parlamentarische Institutionen geprägt seien.
Leider bleibt seine Verteidigung der "formalistischen Aspekte der
Demokratie" selbst formalistisch: Die 15-jährige Vorgeschichte der Wut
interessiert ihn ebenso wenig wie ihr Untergrund aus ökonomischen
Umwälzungen und politischer Erosion. Das ist schade. Erst wenn die Kritik
an der Wut mit einer am Verfall der politischen Institutionen verbunden
wird, wird ein Schuh draus.
Und der heißt: Schluss mit der kläglichen Bescheidenheit, die nicht mehr
als Bürgerbeteiligung, Volksbefragung, Konsultation fordert. Denn damit
sind wir, der Souverän, immer schon in der Bittstellerrolle gegenüber
unserer eigenen verfassten Macht. Was nützt es, wenn, wie in Berlin, ein
paar Jahre nach der Verscherbelung der Wasserwerke ein Bürgerbegehren Licht
in die Machenschaften bringt, aber die Stadt kein Geld hat, die Werke
zurückzukaufen?
Und weiter: Das Hamburger Plebiszit für Bildungsprivilegien oder die vom
Boulevard gefütterten Antimoschee-Initiativen lassen eher eine verschärfte
Hegemonie der "Mitte" befürchten, wenn die Verhältnisse noch kälter und die
materiellen Verluste noch spürbarer werden. Und das werden sie.
"Zorn und Gegenwissen" ([1][Christian Semler, taz 3. 12. 10]) bauen nichts
um, wenn sie nicht in die Parlamente einwandern. Das gilt lokal, mehr noch
national. Das "Gegenwissen" des Umweltrats, der Sozialverbände, die
Ohrfeigen des Verfassungsgerichts, der Zorn von Professor Schellnhuber -
nichts davon hat die Exekutive zu Korrekturen veranlasst. Deshalb wird es
dringend nötig, die vorrepublikanische Spaltung unserer politischen Gefühle
zu überprüfen: die Spaltung in "uns Bürger" und "die Parteien", die
"Bürgergesellschaft" und "den Staat".
Was machen wir jetzt?
"Aufklärung, die sich über sich selbst aufklärt", so Luhmann, griffig wie
immer, "organisiert sich als Arbeit". Und die ist langwierig und
langweilig. Es waren nicht die euphorisierenden Demonstrationen, die in den
Siebzigern eine Politikwende erzwangen, sondern es war die Verdoppelung der
Parteimitglieder. Aber, so Willy Brandt, "nichts ist von Dauer". Nicht die
Überzeugungen ehemaliger Jusos, nicht das Volkseigentum an Schulen,
Sozialwohnungen, Bahngleisen. Und auch nicht das Wachstum und daher nicht
die Konsumdemokratie unserer goldenen Jahre.
Existenziell spürbar wird das, wo sich die Folgen von drei Jahrzehnten
neoliberaler Politik konzentrieren: in den Kommunen. Andererseits: Wo immer
in den letzten Jahren Alternativen entstanden, wuchsen sie zumeist aus
lokalen Initiativen. In den Kommunen - das ist das kleine Hoffnungszeichen
von Stuttgart - wird daher am ehesten ein Wir entstehen, das über
punktuelle Proteste hinausträgt.
Das tut Not in einer Zeit, die der Republik und jedem einzelnen Bürger eine
Beschleunigung des gesellschaftlichen Lernens, eine Veränderung aller
Systeme der Daseinsvorsorge und eine Umwälzung unseres Alltagslebens
aufnötigt. Umdenken und Wir-Gefühl aber allein werden es nicht tun, denn
nach der Auflösung der korporatistischen Deutschland AG und dem Schwund der
"Volksparteien" gähnt eine institutionelle Lücke zwischen politischen
Apparaten und atomisierten Bürgern.
Agenda für 2011
Der Wind nimmt zu auf der Bahnhofsbrache, also flüchten wir in ein Café und
entwerfen unsere Architektur für die Demokratie 21: Finanziell autonome
Bürgerversammlungen beraten in Stadtvierteln und beschließen über lokale
Belange wie Schulen, Pflegeeinrichtungen, Stadtgestaltung, Wohnungsbau.
Diese Basisorganisationen wählen die nächsthöhere Ebene, etwa das
Stadtparlament, wo etwa über 100 Hektar Stuttgart-Mitte entschieden wird.
Parteien "wirken mit", Willen und Sachverstand der Bürger und der
politischen und administrativen Profis fusionieren - zunächst auf lokaler
Ebene. Dann kann man weitersehen. Das alles ist nicht neu, Hannah Arendt
hat es vorgedacht und untaktisch "Rätedemokratie" genannt, da müssen die
Semantiker noch mal ran.
Träume an Berliner Heizpilzen? Nun, 2011 finden in acht Bundesländern
Landtags- oder Kommunalwahlen statt - eine Chance für Parteien, um eine
solche Runderneuerung der Republik zu konkurrieren. Mit Forderungen wie:
Reform der Gemeindefinanzen, Autonomie der Schulen, Liste unveräußerlicher
Gemeingüter, Öffentlichkeit der Sitzungen, kommunale Medien, Vorwahlen - da
lässt sich vieles denken. Und als Startschuss: ein Aufruf zur Gründung von
runden Tischen an hundert Orten.
Eine Stunde wohl haben wir uns an derlei Gedanken gewärmt, am Rande der
großen, längst verkauften Brache nördlich vom Hauptbahnhof. Schließlich
sagte eine: "Also, was wird mit Berlin 21?" Und einer entgegnete: "Nichts
frisst so unbarmherzig Lebenszeit wie institutionalisierte Politik." Und so
gingen wir wieder ins Kalte. Kleinbürger im Winter.
7 Dec 2010
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## AUTOREN
(DIR) Mathias Greffrath
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