# taz.de -- Der Protest der Integrierten: Öko hui, Arme pfui
       
       > Die Republik bewegt sich wieder. 2010 ging es viel um den Bahnhof in
       > Stuttgart und die Anti-Atom-Bewegung. Doch die soziale Frage geriet dabei
       > ins Abseits. Eine Bilanz.
       
 (IMG) Bild: Und nach dem Protest gibt's Kürbissuppe mit einem Häubchen Creme Fraiche.
       
       Mein Dank geht in diesem Jahr an den Papst. Er und seine katholische Truppe
       sind augenscheinlich die Einzigen, die in vorweihnachtlicher Kälte
       Bettdecken verteilen und zu Spenden für die Ärmsten aufrufen. Sonst blieb
       die soziale Frage in diesem bewegten Protestjahr völlig unterbelichtet.
       
       Doch der Reihe nach. Wer am Ende des Jahres 2010 eine bewegungspolitische
       Bilanz ziehen möchte, darf natürlich als Erfolg werten, dass überhaupt
       wieder Bewegung in die Republik gekommen ist. In Stuttgart haben - für
       viele überraschend - Bürger nicht nur die Frage nach einem Bauprojekt,
       sondern auch die nach der demokratischen Verfasstheit der Demokratie auf
       die Tagesordnung gesetzt. Und die Antiatomkraftproteste in Berlin und
       Gorleben entfalteten eine beeindruckende Kraft, mit der so niemand
       gerechnet hatte.
       
       Nun ist das Vielesein kein Wert an sich. Bewegungen sind immer auch zu
       messen an ihren Wirkungen. Also: Was hat Stuttgart bewirkt, was Gorleben?
       
       Protest der Integrierten 
       
       Natürlich stimmt, dass der Stuttgarter Tiefbahnhof voraussichtlich gebaut
       wird und dass auch in Zukunft noch mehr Atommüll produziert werden wird.
       Dagegen konnten auch Hunderttausende auf den Straßen nichts ausrichten.
       Also vertane Zeit? Nein. Denn Protest ist meist nicht unmittelbar
       erfolgreich. Politisch effektiv waren diese beiden Protestbewegungen
       allemal: Sie eröffneten eine bundesweite Debatte über den Zustand der
       Demokratie, die schon jetzt zu veränderten Parteiausrichtungen geführt hat
       - und an die sich Politikerinnen und Politiker, aber auch Wählerinnen und
       Wähler bei den nächsten Wahlen erinnern werden.
       
       Besonders beachtlich sind jedoch die Erfolge innerhalb der Bewegungen
       selbst. Gerade da hat sich in diesem Jahr viel entwickelt. Nach mühseliger
       und kleinteiliger Bündnisarbeit lautet die Erfolgsbilanz des Jahres:
       Kinderwagen meets Widerstand. Zum einen findet das
       bürgerlich-linksintellektuelle Milieu wieder auf die Straße, zum anderen
       haben auch Gruppen innerhalb der radikaleren Linken das lebensverlängernde
       Mittel des Pragmatismus wiederentdeckt.
       
       Diese Erfolgsgeschichte drückte sich in den Sitzblockaden von Dresden im
       Februar aus, als tausende Menschen friedlich einen massiven Naziaufmarsch
       verhinderten. Dresden war ein Anfang, der anschließend strategisch genutzt
       wurde. Am 1. Mai setzte sich in Berlin der sozialdemokratische
       Vizebundestagspräsident Wolfgang Thierse gemeinsam mit anderen Politikern
       gegen Rechte auf die Straße. An diese Toleranz gegenüber
       Alltagswiderständigem knüpfte schließlich die radikalste
       Provokationskampagne des Jahres an. Beim "Schottern" im Wendland wollten
       4.000 Menschen offen den Castortransport sabotieren - und konnten damit
       Teil eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses bleiben.
       
       Wer viele Menschen hinter seinem Projekt versammeln kann, hat die
       Wahrnehmung auf seiner Seite. Das ist ein Erfolg und ein überzeugender
       Schritt hin zu der Idee einer Mosaiklinken: die politische Vision einer
       gesellschaftlichen Kraft, bei der unterschiedliche Lebensentwürfe und
       Politikzusammenhänge nebeneinanderstehen bleiben können und trotzdem klare
       Alternativen benennen. Früher zerlegten sich linke Bündnisse am liebsten
       selbst. Heute haben diejenigen, die das Zerlegen betreiben, einen schweren
       Stand in Strategierunden und Aktionsplena. Das hat damit zu tun, dass sich
       mit Schwarz-Gelb der übermächtige Gegner deutlich zeigt. Für die
       Entwicklung eines neuen rot-grün-roten Lagerbewusstseins und
       parlamentarischer Perspektiven sind diese außerparlamentarischen
       Koalitionen nicht zu unterschätzen. Heute gilt: Wer die Differenz über die
       Vision stellt, kann keine glaubhafte Idee von Solidarität mehr vermitteln.
       
       Leider ist es aber so, dass das Jahr mit Solidarität und Visionen wenig bis
       nichts zu tun hatte. Protest 2010 war der Protest der Integrierten.
       Abgesehen von den Ökoknallern, die vor allem das gutsituierte
       Bildungsbürgertum bewegen, sah es überall dort mau aus, wo es tatsächlich
       existenziell wurde. Drei Beispiele.
       
       Die deutsche und europäische Ausgrenzungspolitik gegen Roma hat kaum für
       Empörung gesorgt. Und das bei einem Thema, das menschenrechtliche Aspekte
       betrifft und durchaus Anknüpfungspunkte an die deutsche Geschichte liefert.
       Auch ist es bewegungspolitisch weder gelungen, die weltweite Finanzkrise
       als eine Kapitalismuskrise zu deuten, noch konnten gegen die massiven
       Sparprogramme der Bundesregierung auch nur annähernd nachhaltige Proteste
       mobilisiert werden. Rente und Pflege, Gesundheit und Hartz IV - der Kern
       des Wohlfahrtsstaates ist hinter dem berechtigten Geschrei um Schienen und
       Castoren still verschwunden.
       
       Linksbürger an Gartenzaun 
       
       Das hat drei Gründe: Erstens mangelt es in der sozialen Frage an
       Selbstorganisation. Zweitens versagen die institutionellen Akteure. Und
       drittens reicht die politische Entschlossenheit des bewegungsaffinen
       linksbürgerlichen Spektrums dann doch eher gerade bis zum Gartenzaun. Es
       ist offenkundig, dass etwa Erwerbslose im Hartzschen Hamsterrad nur über
       eingeschränkte Mobilisierungsstrukturen verfügen. Der Bedarfssatz reicht
       kaum zum S-Bahn-Fahren, und das Arbeitsamt verteilt nun mal keine
       Demo-Flyer. Wo es Erwerbsloseninitiativen gibt, haben diese eher
       Selbsthilfeformat, sind meist klein, oft auch zerstritten.
       
       Jene am Rand der Gesellschaft sind also angewiesen auf das
       politisch-solidarische Handeln institutioneller Akteure. Doch auf die war
       2010 kein Verlass. Gerade die Gewerkschaften, die anlässlich des
       Sparprogramms der Bundesregierung einen heißen Herbst angekündigt hatten,
       haben ihre gesellschaftliche Aufgabe nicht wahrgenommen. Sie sind die
       Handelsvertreter der von der Bundesregierung vermeintlich verschonten
       Arbeitsplatzbesitzer.
       
       Wenn Selbstorganisation und Solidaritätsstrukturen versagen, dann weil
       soziale Themen in ein unpolitisches Nirwana delegiert werden können: Die
       soziale Frage eignet sich für Spenden-, nicht aber für Demoaufrufe. Und das
       hat mit der funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaft zu tun. Für
       die Alten sind die Pflegeheime zuständig und für die Armen die
       Wohlfahrtsverbände, die jetzt in den Weihnachtstagen wieder den Ausputzer
       spielen.
       
       Weil die Caritas und ihre vielen Geschwister sich aber nicht als politische
       InterventionistInnen, sondern eher als Notstandsverwaltungen begreifen,
       erlöst uns eine seelsorgerische Infrastruktur vom Blick auf das soziale
       Elend. Das Protestjahr 2010 war nicht solidarisch. Es war nur
       semisolidarisch: Wir bewundern diesen Bahnhofsaufstand und vergessen
       diejenigen, die noch niemals ICE gefahren sind.
       
       17 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Martin Kaul
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Atomkraft
       
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