# taz.de -- Montagsinterview M-99 Betreiber H.G. Lindenau: "Ick lass mir net vertreiben"
       
       > Hans-Georg Lindenau verkauft seit 25 Jahren im Kreuzberger
       > "Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" Sturmmasken, Bücher und
       > Szenezeitschriften. Und er schwärmt von veganer Sahnetorte.
       
 (IMG) Bild: H.G. Lindenau in seinem vollgestopften Gemischtwarenladen
       
       taz: Herr Lindenau, sollen wir Sie HG nennen? 
       
       Hans-Georg Lindenau: Klar, das machen doch die meisten.
       
       Kurz vor Weihnachten hatten Sie mal wieder die Polizei im Haus. Es war die
       53. Durchsuchung seit Bestehen des Ladens. Wie halten Sie das durch? 
       
       Ich singe. Und die Polizisten finden das gut, zumindest die Kreuzberger
       Patrouillen. Einige Staatsschützer nicht, die mobben mich. Die haben mich
       schon seit den 80ern im Visier.
       
       Was singen Sie denn? 
       
       (HG hebt an zu einem Mix aus Volkslied und Operette) 
       
       In über 25 Jahren betreibe ich meinen Berliner Laden, trotz
       Gedankenpolizei.
       
       Denn die wolln mir vertreiben, die Gedankenpolizei.
       
       Aber ick werde bleiben, ick lass mir net vertreiben.
       
       Denn die Gedanken sind ja frei, trotz Gedankenpolizei-ei-ei-ei.
       
       Aber wie in aller Welt, kostet Menschen die Freiheit der Gedanken ihr
       Leben, die Freiheit oder viel Geld, viel Geld.
       
       Hjolerrarridiiiie, hjollerradikaal, hjolerrarridierriediiiie!
       
       Die Polizei lässt sich ja vielleicht durch Singen besänftigen. Aber erst
       vor ein paar Wochen haben Unbekannte einen Brandanschlag auf Ihren Laden
       verübt - die Schäden sieht man immer noch. Sie vermuten Neonazis hinter der
       Tat. Haben Sie Angst um Ihr Leben? 
       
       Darüber rede ich nicht. Es ist jedenfalls nicht das erste Mal. Ich hatte
       bisher drei Brandstiftungen an meinem Laden.
       
       Trauen sich Neonazis inzwischen nach Kreuzberg? 
       
       Die kaufen sogar bei mir ein, woanders kriegen sie es ja nie so billig.
       
       Und das lassen Sie einfach so zu? 
       
       Das weiß ich doch oft gar nicht, die haben ja ihre Einkäufer. Einmal wusste
       ich es von ein paar Typen und habe Bilder von denen ins Schaufenster
       gehangen - warum soll ich mir mit meinen Augenproblemen die Mühe machen,
       die zu erkennen. Die erkennen sich doch selbst viel besser und sind dann
       nie wieder gekommen.
       
       Hat sich Kreuzberg verändert in den letzten 25 Jahren? 
       
       Ich erlebe kein Kreuzberg, ich erlebe nur meinen Laden, weil ich den ganzen
       Tag drinsitze. Wenn, dann kommt Kreuzberg zu mir. Und die Touristen aus
       aller Welt kommen, um den Exotikpark hier zu sehen. Ich stehe ja seit
       Jahren in vielen alternativen Reiseführern.
       
       Das M99 als Ihr Lebensmittelpunkt: Sind Sie ein politischer Einzelkämpfer? 
       
       Nein, ich bin eine Agaz.
       
       Eine was? 
       
       Eine autonome Gruppe mit anarchistischer Zielsetzung. Ich will autonom sein
       von jeglichen Dogmatismen. Ich war zwar oft Kontaktadresse für alle
       möglichen Kampagnen, aber in Teilen der Szene schnell unten durch, weil ich
       in den Gruppen nie eine Linie voll durchgehalten habe. Deshalb nehme ich
       das Wort links auch nicht ohne Weiteres für mich in Anspruch.
       
       Sondern? 
       
       Ich will nicht in Vereinfachungsbegriffen denken wie: die Szene, die
       Richter, die Staatsanwälte, die Polizei, der Staatsschutz. Ob Menschen sich
       nun Linke oder Grüne oder Bürger nennen, ist mir egal. Ich guck halt, wo
       ich mit wem Gemeinsamkeiten habe, und dann mache ich mit oder nicht.
       
       Kam daher die Idee, einen Infoladen zu betreiben? 
       
       Ich habe 1980 begonnen, authentische Zeitdokumente zum Häuserkampf zu
       sammeln, weil ich gegen eine Zensur und Unterdrückung von aus meiner Sicht
       berechtigten Missstandsäußerungen war. Meine Idee von einem Infoladen war
       es immer, die Texte im Original zu veröffentlichen. Das ist doch auch
       demokratisch. Es wäre entmündigend, dem Bürger Literatur vorzuenthalten und
       zu verhindern, dass er sich selbst ein Bild machen kann.
       
       Die Gerichte sehen das anders: Sie sind angeklagt wegen der Anleitung zu
       Straftaten, weil Sie die Zeitschrift Interim und ähnliche Druckerzeugnisse
       vertrieben haben, in denen Bauanleitungen für Brandsätze abgedruckt sind. 
       
       In 722 Ausgaben Interim sind seit 1988 unter rund 10.000 Flugblättern und
       Arbeitspapieren vielleicht ein paar Dutzend solchen Inhalts gewesen. Ich
       habe die nicht im Laden, um jemanden zu Straftaten anzuleiten, sondern weil
       ich ein authentisches Dokumentationszentrum dieser "grauen Literatur" sein
       will.
       
       Und das überzeugt die Richter? 
       
       Ja, meist werden die Verfahren nach einem halben Jahr wieder eingestellt.
       Weil die Richter anerkennen, dass ich mich nicht mit allen Inhalten
       identifiziere und sie als Ladenbetreiber auch nicht alle kontrollieren kann
       und muss. Aber die Absicht des Staatsschutzes ist doch klar: Kampagnen der
       Szene im Keim ersticken und danach feststellen, dass es doch nichts
       Strafbares gab.
       
       Sie verkaufen hier aber nicht nur Szenezeitschriften, sondern auch
       Pfefferspray und Teleskopschlagstöcke. Damit kann man Menschen auf jeden
       Fall verletzen. 
       
       Ja, sicher. Aber solche Sachen haben eine Mischfunktion und dienen auch der
       Selbstverteidigung. Vor allem liegen die Sachen bei mir nicht wie im
       Militaryshop ganz vorn im Laden. Ich lasse die Leute länger laufen und
       nachdenken, rede mit ihnen.
       
       Verteidigen Sie sich und Ihre Ziele auch mit Schlagstock und Pfefferspray? 
       
       Ich selber brauche keine Waffen. Ich habe inzwischen mein Alter, meine
       Stimme und meine Performance. Damit habe ich viel mehr erreicht.
       
       Sie wurden in der Szene immer wieder mal als Spitzel verdächtigt, weil Sie
       an vielen Aktionen beteiligt waren, aber nie im Knast landeten. Wie haben
       Sie es geschafft, immer auf freiem Fuß zu bleiben? 
       
       Ich saß tatsächlich nur zwei Tage ein und war immer gut über Razzien gegen
       mich informiert. Das hatte damit zu tun, dass ich aus der Polizei und
       Politik, vor allem von SPD-Leuten, Infos gesteckt bekommen habe. Es war in
       den 80ern im Interesse der SPD, den Häuserkampf nicht zu sehr eskalieren zu
       lassen.
       
       Was war Ihr größter Coup? 
       
       Ich habe den Mauerfall mit eingeleitet.
       
       Oha, das steht aber in keinem Geschichtsbuch. 
       
       Ich weiß. Aber Ende Mai 1988 haben wir mit bis zu 600 Leuten das
       Lennédreieck, gleich an der Mauer, besetzt. Fünf Wochen später wollte die
       Polizei räumen. Da habe ich mir ein Megafon genommen und zum Überklettern
       der Mauer aufgerufen. 200 Leute haben mitgemacht. Alles gewaltfrei, die
       Molotowcocktails hatten wir vorher der Presse übergeben. Der Westberliner
       Senat verlor daraufhin die Wahl, die Volkspolizisten servierten uns
       Frühstück. Die Aktion hat die Mauer ad absurdum geführt, für viel
       internationales Aufsehen gesorgt und die Mauer letztlich mit zu Fall
       gebracht.
       
       Welche Konsequenzen hatte die Aktion für Sie? 
       
       Nach einem Tag sind alle wieder zurück nach Westberlin gefahren worden,
       ohne Probleme. Nur ich musste länger bleiben, weil ich einen Asthmaanfall
       hatte. Seit dem Tag wurde ich massiv durch bestimmte Staatsschützer
       gemobbt, hatte immer wieder psychosomatische Angstzustände und
       Suizidanfälle. Wenn die Attacken kamen, bin ich zu meiner Selbsthilfegruppe
       oder in die Kirche am Lausitzer Platz in Kreuzberg - ich dachte, da kann
       mir nichts passieren.
       
       Auch am 22. September 1989? 
       
       Meine Todesnacht. Was da passiert ist, weiß ich bis heute nicht. Ich kann
       mich nur noch erinnern, dass ich einen Anfall hatte und in der
       Selbsthilfegruppe abgewiesen wurde, weil sie damit überfordert war. Dann
       wurde ich von Passanten leblos vor der Kirche am Lausitzer gefunden. Laut
       Augenzeugen soll ich vom Kirchturm gesprungen sein. Sechs Wochen lag ich im
       Koma, meine Eltern wollten schon die Beerdigung organisieren. Aber ich habe
       überlebt.
       
       Seit dieser Zeit sitzen Sie querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Hadern Sie
       mit dem Schicksal? 
       
       Natürlich. Aber es war auch der Punkt, an dem ich ein zweites Leben
       angefangen habe. Vorher war ich anderen gegenüber nie wirklich offen. Ich
       habe immer gedacht, ich mache was Tolles und alle Leute müssen davon
       erfahren. Nach der Lähmung habe ich mich gezielt für soziale Kontakte
       geöffnet.
       
       Wie haben Ihre Freunde auf den Unfall reagiert? 
       
       Es war auffällig, dass mich nach dem Vorfall immer weniger besucht haben.
       Wenn die Menschen merken, es erdrückt sie, dass sie mir nicht helfen
       können, kommen sie lieber gar nicht mehr. Gerade in der Szene wirst du
       schnell ausgeschlossen und als Sicherheitsrisiko dargestellt, wenn du nicht
       richtig funktionierst.
       
       Das sind ziemlich harsche Worte. 
       
       Ja, aber es gibt Teile der Szene, die Inquisitionspolitik machen. Die
       sagen, ihre Linie ist die beste und alles andere schade nur dem politischen
       Ziel. Ich wurde mehrfach angegriffen durch Boykottaufrufe.
       
       Warum haben Sie der Szene trotzdem nie den Rücken gekehrt? 
       
       Ich hatte mich ja 1984 abgewendet. Da herrschte eine dogmatische Stimmung,
       wie ein Infoladen zu sein hat. Ich bin aber kein Kollektiv, sondern will
       mich als Einzelner in der Gemeinschaft entwickeln. Also habe ich ein Jahr
       auf dem Bau gearbeitet und dann 1985 meinen eigenen Laden, das M99,
       aufgebaut.
       
       Beteiligen Sie sich heute noch an Demos? 
       
       Nur noch selten. Auch an Veranstaltungen kaum noch, weil da so viel
       geraucht wird. Aber ich bleibe Teil der Szene. Die ist so vielfältig, da
       gehöre ich auch dazu.
       
       Viele würden eher von einer Zersplitterung der Szene sprechen. 
       
       Wenn Leute sich nicht auf ein gleiches Vorgehen einigen können, aber
       anerkennen, dass sie das gleiche Ziel verfolgen, dann ist das gut - die
       Faust hat viele Finger. Aber Zersplitterung ist schlecht, weil dann die
       einen ihre politischen Aktionen auf dem Rücken der anderen austragen. Das
       war ja der Grund, warum ich nie irgendwo dazugehören wollte.
       
       Fühlen Sie sich manchmal einsam? 
       
       Ständig. Wenn ich als prominenter HG, der ich ja nun mal bin, auf
       Vollversammlungen gehe, gibt es entweder Jubelstürme oder Schweigen. Eine
       wirklich gleichberechtigte Auseinandersetzung mit mir gibt es nicht mehr.
       Auch als Rollstuhlfahrer bleibe ich ständig übrig.
       
       Wer sind denn heute Ihre Freunde? 
       
       Ich bin zu jung für mein Alter und viel zu auseinandersetzungsbereit,
       deshalb wechseln die Leute oft, die mit mir zu tun haben, weil ihnen das zu
       anstrengend ist. Aber ich sage immer: Lieber anstrengend und differenziert
       als vereinfacht und oberflächlich. Es sind dann eher die jungen Leute, die
       sich darauf einlassen. Und nach fünf bis zehn Jahren gehen sie wieder.
       
       Wie steht es um die Liebe? 
       
       Ich habe meine erste Liebe mit 38 Jahren gefunden, vorher gab es nur die
       Sache für mich. Außerdem wurde jeder vom Staatsschutz gemobbt, der mit mir
       zu tun hatte. Aber dann kam die Frau, der das nichts ausmachte und die mein
       vieles Quasseln annimmt. In London haben wir zusammengelebt, im Baumhaus -
       trotz Rollstuhl. Jetzt ist sie unterwegs auf Weltreise. Ich sehe sie noch
       zweimal im Jahr. Ich würde gern mehr mit ihr durch die Welt reisen, aber
       noch habe ich Verantwortung für den Laden.
       
       Aber irgendwann wollen Sie ganz wegbleiben? Irgendwann soll es ein M99 ohne
       HG geben? 
       
       Seit zehn Jahren sage ich mir: Noch drei Jahre mache ich das hier. Die
       Repressionen gegen diesen Laden sind aber so hart, dass ich keinen finde,
       der ihn übernehmen kann. In den letzten 25 Jahren stand ich fünfmal vor dem
       Nichts: durch Krankheit, Beschlagnahmungen und Gerichtsverfahren,
       Hauseigentümerwechsel, Brandanschläge. Das hat mich Unmengen an Geld
       gekostet, ich zahle immer noch ab.
       
       Sehnen Sie sich da nicht manchmal auch nach etwas Bürgerlichkeit, nach ein
       bisschen Luxus? 
       
       Ich brauche kein Geld zum Leben. Ich bin glücklich, wenn ich singen und
       vegane Schwarzwälder Kirschtorte essen kann.
       
       HG, gibt es Leute, die Sie für verrückt halten? 
       
       Ja, natürlich. Immer wieder. Es gibt ständig Kritik an mir, aber ich höre
       auch zu und verändere mich. Ich will ja nicht ver-rückt sein - nicht
       entrückt von der Realität.
       
       2 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Heim
 (DIR) Konrad Litschko
       
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 (DIR) Besuch im Berliner Szeneladen M99: Revolutionsbedarf im Exil
       
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       Revolutionsbedarf in der Falckensteinstraße. Was hat sich verändert?
       
 (DIR) Kommentar zu Gentrifizierung in Berlin: Ein Erfolg mit Symbolkraft
       
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       Erfolg ist eine Aufforderung an Kiez und Bezirk, noch mehr gegen
       Verdrängung zu tun.
       
 (DIR) Legendärer Kreuzberger Laden gerettet: Revolution bleibt im Angebot
       
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       Lindenau bleibt mit seinem M99-Laden nach langem Kampf in Kreuzberg.
       
 (DIR) Berlin-Kreuzberg: Räumung verschoben: Galgenfrist für den Revolutionsbedarf
       
       Die für Dienstag angesetzte Räumung des Kreuzberger Szeneladens M99 wurde
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 (DIR) Einigung um Berliner Szene-Laden: Doch keine Räumung im M99
       
       Der Laden für „Revolutionsbedarf“ wird doch nicht geräumt. Aber eine
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 (DIR) Streit um legendäres Geschäft M99: Es gibt noch Revolutionsbedarf
       
       Der „Gemischwarenladen mit Revolutionsbedarf“ ist eine Kreuzberger Legende.
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 (DIR) Feuer im linken Szeneladen "M99": Brandstifter im Revolutionsladen
       
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 (DIR) Linke Läden durchsucht: Polizei beschlagnahmt routiniert die "Interim"
       
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       zum wiederholten Male mehrere linke Läden in Berlin.