# taz.de -- Weißrussische Soziologin über ihr Land: "Das ist der Anfang vom Ende"
> Die Historikerin und Soziologin Iryna Vidanava über die Zukunft ihres
> Landes und die Polarisierung von Meinungen. Sie ist überzeugt davon, dass
> die jungen Menschen sich nicht einschüchtern lassen.
(IMG) Bild: Singen, Beten, Hoffen: Jugendliche vor einem Minsker Gefängnis.
taz: Frau Vidanava, wie fühlen Sie sich nach den tragischen Ereignissen vom
19. Dezember? Wie ist heute die Stimmung in Minsk?
Iryna Vidanava: Ich bin geschockt. Niemand hatte die Brutalität erwartet,
mit der die Sicherheitskräfte gegen die Demonstration vorgegangen sind. In
diesen Tagen wird es immer offensichtlicher, dass die friedliche
Demonstration wohl von Provokateuren aus den Reihen des KGB unterwandert
wurde, um den Sicherheitskräften einen Grund zu liefern, gegen die
Demonstranten loszuschlagen. Diese Provokationen sind anscheinend im
Vorfeld geplant worden. Das stimmt mich traurig und sehr wütend.
Die Schriftstellerin Svetlana Aleksievitsch hat in einem offenen Brief an
Lukaschenko gemahnt, dass sie den Stalinismus der dreißiger Jahre in
Weißrussland aufziehen sieht. Wie sehen Sie das?
Wie viele meiner Freunde und Kollegen fühle ich mich deprimiert, wenn ich
an die Hunderte unschuldiger Menschen denke, die während der Proteste und
an den Tagen danach verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurden, die man
geschlagen und denen man die Knochen gebrochen hat, die zwei Tage ohne
Essen und Trinken in Polizeiwagen festgehalten wurden, weil es keinen Platz
mehr in den Gefängnissen gab. Präsidentschaftskandidaten wurden verprügelt
und in KGB-Gefängnisse gesteckt, Aktivisten wurden mitten in der Nacht in
ihren Wohnungen verhaftet.
Den Präsidentschaftskandidaten Andrej Sannikau, der verhaftet wurde, und
seine Frau Iryna Chalip, eine bekannte Journalistin, die ebenfalls im
Gefängnis sitzt, zwingt der Staat, das Sorgerecht für ihren dreijährigen
Sohn abzutreten. Als Historikerin, die die autoritären Regime und die
stalinistischen Repressionen studiert hat, fühle ich mich, als würde ich
die Episode und die Säuberungen der Dreißiger selbst erleben. Ich kann
einfach nicht glauben, dass dies im 21. Jahrhundert passiert.
Glauben Sie, dass die Ereignisse, so tragisch sie auch sind, die Opposition
im Nachhinein auch stärken könnten?
Trotz aller Trauer bin ich auch sehr wütend. Die Regierung, die Polizei und
die Staatsmedien lügen schamlos über die schrecklichen Ereignisse. Ich
glaube aber auch, dass das Regime eine Linie überschritten hat. Die
Menschen kommen zu den Gefängnissen, mit Kerzen und Hilfspaketen. Es wird
Geld gesammelt. Musiker und Künstler helfen mit Liedern und Postkarten. Die
Menschen haben keine Angst, ihre Geschichten und Beobachtungen den
unabhängigen Medien zu berichten.
Und diese haben keine Angst, sie zu veröffentlichen, obwohl sie so Gefahr
laufen, geschlossen zu werden. Trotz der Düsternis fühle ich, dass wir am
Morgen des 20. Dezember in einem anderen Land aufgewacht sind. Dies ist der
Anfang vom Ende für dieses Regime. Was wir jetzt brauchen, ist Stärke,
Durchhaltevermögen und Solidarität - innerhalb unseres Landes und
außerhalb.
Junge Weißrussen haben seit 2006 für neue Frische und Stärke in der
gesellschaftlichen und kulturellen Opposition gesorgt. Glauben Sie, dass
viele nun überlegen, das Land zu verlassen, weil sie keine Hoffnung mehr
haben und keine Perspektive sehen?
Es waren vor allem junge Weißrussen, die zu den Demonstrationen gekommen
sind, um sich am 19. Dezember für faire und freie Wahlen einzusetzen, die
geschlagen und verhaftet wurden, eben weil sie sich entschlossen hatten, zu
handeln und sich für ihre Rechte einzusetzen. Bei mehr als 600 Verhafteten
werden einige sicher gezwungen sein, das Land zu verlassen, weil sie ihre
Studienplätze verlieren werden und ihr Studium im Ausland fortsetzen
müssen. Aber einen Massenexodus wird es wohl nicht geben. Die vielen
Tausenden, die auf die Straßen gegangen sind, wollen Veränderungen - und
nicht das Land verlassen.
Darf man noch auf demokratische Veränderungen in Weißrussland hoffen?
So schlimm das alles im Moment ist - es wird der Beginn eines
demokratischen Revivals. Ein bekannter Politologe hat nach der Eskalation
gesagt: Es wird künftig keine Mitte im Meinungsspektrum mehr geben. Man
wird nicht in der Opposition sein und gleichzeitig mit dem Regime
kooperieren können. Die Fassade der "Liberalisierung" wurde zerstört und
das Bild ist nun schwarz-weiß. Du bist entweder für oder gegen das Regime.
Die demokratischen Kräfte haben nun keine andere Möglichkeit, als sich zu
konsolidieren und zu restrukturieren.
Womöglich wird man sie in den Untergrund zwingen, aber sie werden nicht
verschwinden. Die Tage nach der Demonstration haben ein größeres
Zusammengehörigkeitsgefühl in der demokratischen Bewegung geschaffen als
all die Jahre zuvor. Der KGB-Chef hat gesagt, dass er alle Teilnehmer der
Demonstration bestrafen wolle. Aber es ist einfach unmöglich, 20.000
Menschen zu verhaften. Mit solchen Aussagen demonstriert das Regime nur
seine eigene Schwäche und Angst. Für mich heißt all das, dass es einen
großen Hunger nach Demokratie aus dem Inneren von Weißrussland geben wird.
Aber internationale Solidarität und Hilfe werden wir auch brauchen - mehr
als jemals zuvor.
Aus der Kulturszene kamen bis dato besonders starke Impulse für die
Opposition.
Unglück schafft Kreativität, und Repressionen erneuern das Unglück. Die
Situation ist ähnlich der nach den Protesten im März 2006. Alle führenden
Kulturleute in Weißrussland haben bereits eine Solidaritätsaktion für die
Gefangenen ins Leben gerufen. Die jungen Weißrussen demonstrieren ihre
Kreativität schon heute im Internet - mit Blogs, Videos oder Liedern.
Unabhängige Medien sind so gefragt, dass sie kurz nach Erscheinen
ausverkauft sind. Alle News-Portale haben zehn bis zwölf Mal so hohe
Zugriffsraten wie normal. Ein Kommentator sagte, dass der "Blutige Sonntag"
die Büchse der Pandora geöffnet habe. Mit der Technologie des 21.
Jahrhunderts wird es nicht mehr so leicht sein, die Büchse zu schließen.
12 Jan 2011
## AUTOREN
(DIR) Ingo Petz
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