# taz.de -- Marine Le Pen will ihren Vater beerben: Die Rakete
       
       > Machtwechsel beim Front National in Frankreich. Marine Le Pen ist
       > Favoritin auf die Nachfolge ihres Vaters Jean-Marie. Und tritt dabei als
       > Vertreterin der französischen Arbeiterschaft auf.
       
 (IMG) Bild: Bissig, zynisch, rhetorisch gewandt: Marine Le Pen beim parteiinternen Vorwahlkampf.
       
       PARIS taz | Marine Le Pen wirkt normalerweise sehr kühl, dieses Mal aber
       war sie sichtlich gerührt. Es gehe ihr wirklich ans Herz, dass ihr Vater
       nun zum letzten Mal als Parteipräsident des Front National (FN) seinen
       Anhängern seine Neujahrswünsche überbringe, sagte sie.
       
       Freilich kann sie sich damit trösten, dass sie beim Kongress in Tours am
       Wochenende mit großer Wahrscheinlichkeit den Vorsitz erben wird. Jean-Marie
       Le Pen hat bei seinem Auftritt mit seiner politischen Neujahrsbotschaft an
       die Presse vor wenigen Tagen noch einmal deutlich gemacht, wie sehr ihm
       daran liegt, dass mit der Wahl seiner jüngsten Tochter Marine zur
       Vorsitzenden der von ihm gegründete FN in der Familie bleibt.
       
       Dieser Auftakt zum Führungswechsel fand bei einem Empfang der Medienleute
       in der neuen FN-Parteizentrale in Nanterre statt. In diesem immer noch von
       den Kommunisten regierten Vorort im Westen von Paris hagelte es anfänglich
       Proteste, als der FN aus dem vornehmen Saint-Cloud ausgerechnet in dieses
       unschöne zweistöckige Haus an der Rue des Suisses in der proletarischen
       "Banlieue" umsiedelte.
       
       Der historische FN-Sitz muss zur Tilgung von Schulden aus früheren
       Wahlkämpfen verkauft werden. Die Diskrepanz zum luxuriösen "Paquebot"
       (Passagierschiff) in Saint-Cloud, an dessen Fassade noch immer ein
       Wahlslogan der Präsidentschaftskampagne von 2007 prangt, ist augenfällig.
       
       Ein Zufall war die Standortwahl in Nanterre keineswegs. Die Partei des
       Millionärs Le Pen will sich sichtbar bescheidener geben, denn sie
       beansprucht für sich, die Interessen der französischen Arbeitnehmer zu
       verteidigen – gegen Immigranten, gegen die EU, gegen das "Establishment"
       der traditionellen Parteien von links und rechts. Laut Wahlanalysen bekommt
       keine andere Partei so viele Stimmen aus Arbeiterkreisen wie der FN.
       
       Im nüchternen Vorortsgebäude, in dem trotz einer Abschiedsrede des
       82-jährigen Jean-Marie Le Pen keine dem Anlass entsprechende feierliche
       Stimmung aufkommen wollte, wischte sich Tochter Marine also eine Träne aus
       dem Gesicht. Und jeder unter den Journalisten, der sie als kompromisslose
       und gelegentlich sogar kaltschnäuzig auftretende Politikerin kannte, fragte
       sich unweigerlich, wie authentisch diese Rührung wohl war.
       
       Die vom abtretenden Chef mit seiner üblichen Autorität geleitete Zeremonie
       konnte nicht ganz überdecken, dass hinter den Kulissen seit Wochen ein
       erbitterter Kampf um seine Nachfolge tobt.
       
       Als Le Pens treuester Mitstreiter galt der Lyoner Professor Bruno Gollnisch
       lange Zeit als dessen Nachfolger. Natürlich hat er es nicht verdaut, dass
       seit Kurzem die jüngste der Le-Pen-Töchter den Parteivorsitz wie ein
       Familienerbe beansprucht. Doch eines muss Gollnisch seiner Rivalin lassen:
       Die 42-jährige rhetorisch gewandte Juristin und Politikerin kommt in den
       Medien und beim breiteren Publikum ganz einfach besser an. Die Sender laden
       sie auch gern zu Talkshows und Debatten ein.
       
       Mit ihrer oft bissig-zynischen Schlagfertigkeit belebt sie
       Diskussionsrunden, die sonst mangels echter Meinungsdifferenzen zum Gähnen
       verleiten könnten. Im bewährten Stil aller Populisten argumentiert sie
       dabei, häufig in grober Vereinfachung komplizierter Realitäten, gern aus
       der Perspektive der frustrierten "kleinen Leute" gegen "die da oben", die
       laut FN von links bis rechts der Mitte sowieso alle unter einer Decke
       stecken.
       
       Gollnischs Anhänger beschweren sich, Le Pens Tochter verwässere die
       Parteiideologie mit ihrer "Lightversion" der FN-Politik, um sich so bei der
       bürgerlichen Rechten anzubiedern. Die Gegenseite kontert mit der
       Behauptung, Gollnisch habe umgekehrt versucht, diverse Dissidente, die Le
       Pen in den Rücken gefallen waren, in die Partei zurückzuholen, um seine
       Position zu stärken. Gollnisch verkörpert zweifellos mehr die alte Garde
       aus der Zeit der Parteigründung: die Nostalgiker der Algérie française,
       ultrakonservative Monarchisten und extremistische katholische Integristen,
       zu denen sich auch rechtsextreme Skinheads und andere Rechtsradikale
       gesellen.
       
       Marine Le Pen bringt soziale Themen in das traditionelle nationalistische
       Programm. Sie versucht, unbestreitbar mit Erfolg, neue Sympathisanten und
       Wählerkreise unter den Zukurzgekommenen der Globalisierung und der Krise
       anzusprechen, denen sie versichert, dass angeblich andere zu Unrecht auf
       ihre Kosten schmarotzen.
       
       Neue Hackordnung 
       
       In Nanterre saßen Marine Le Pen und ihr Gegner Bruno Gollnisch während der
       Ansprache des scheidenden Parteichefs auf der kleinen Tribüne einträchtig
       nebeneinander. Schon die Ankunft aber verriet die interne Hackordnung:
       Hinter dem Vater kam zuerst die Tochter, gefolgt vom Dritten, Gollnisch.
       
       In seiner Rede ließ der bisherige Parteipräsident keinen Zweifel an seiner
       Präferenz für Marine aufkommen. Sie hätten dieselben politischen Ansichten,
       bestätigte er, "bis auf wenige Nuancen, aber auch im Front National darf es
       schließlich verschiedene Meinungen geben". Damit diese dann doch nicht
       allzu sehr divergieren oder gar eine Spaltung bewirken, bleibt er als
       "Ehrenpräsident" mit Stimmrecht in der Parteileitung.
       
       Natürlich bedauert er rückblickend, dass es ihm nicht gelungen ist, mit dem
       FN in Frankreich die Regierungsmacht zu übernehmen. Doch dieser Misserfolg
       ist für ihn relativ, denn er sei nur "die erste Stufe einer Rakete, die nun
       eine zweite in Umlauf bringen wird, die dann das Ziel erreichen wird",
       meinte Le Pen mit wohlwollendem Blick auf seine Tochter. Sie betrachtet
       ihren Anspruch als legitim: "Ich kam in den Genuss einer permanenten
       Weiterbildung an der Seite eines Vaters, der zwischen Privatleben und
       Politik nie einen Unterschied gemacht hat."
       
       Heute ist sie längst politisch volljährig. Nicht zufällig hat sie eine
       ehemalige proletarische Bastion der Linken in Nordfrankreich als Wahlheimat
       auserkoren. Der unaufhaltsame Niedergang der Industrie seit dem Ende der
       Kohlengruben hat dort einen Nährboden für rechtspopulistische Thesen
       geschaffen.
       
       Dies erst recht, wenn sich wie in Marine Le Pens neuer Wahlhochburg
       Hénin-Beaumont die politische Linke mit einem Korruptionsskandal bei ihren
       traditionellen Wählern in verarmten Arbeiterschichten gründlich
       diskreditiert. Bis zu 40 Prozent erreichte die FN-Liste in diesem Städtchen
       bei den letzten Wahlen, bei denen es dem FN um ein Haar gelungen wäre, das
       Rathaus zu erobern. In Hénin-Beaumont fühlt sie sich aber auch so zu Hause.
       Wenn sie auf dem Markt Flugblätter verteilt, wird sie von Sympathisanten
       vertraulich mit dem Vornamen angesprochen.
       
       Nachdem Marine Le Pen zuerst in den Fußstapfen ihres Vaters marschierte,
       geht sie nun ihren eigenen Weg. Ihre Vorbilder stammen weniger aus der Zeit
       des Faschismus der Vorkriegszeit, sie verfolgt vielmehr mit größtem
       Interesse, wie heute in Europa rechtspopulistische Bewegungen und Parteien
       mit ähnlichen antieuropäischen Positionen und vor allem mit dem Feindbild
       schlecht integrierter Muslime punkten.
       
       Vor dem Kongress in Tours provozierte auch Marine Le Pen mit einem
       vehementen Angriff auf Muslime in Frankreich: Dass manche Gläubige an
       gewissen Tagen in einigen Städten (mangels Platz in Moscheen) auf der
       Straße beten, setzte sie mit der nazideutschen Besetzung Frankreichs
       während des Kriegs gleich. Längst nicht alle waren in Frankreich über
       diesen bewusst skandalösen Vergleich schockiert. 54 Prozent der befragten
       UMP-Anhänger sagten laut France-Soir, sie teilten Marine Le Pens Äußerungen
       über die Muslime, die mit ihren Gebeten in der Öffentlichkeit ein Ärgernis
       seien.
       
       Sie weiß sehr wohl, dass im Unterschied zum Antisemitismus und Rassismus
       die Islamophobie praktisch kein Tabu mehr darstellt. Für solche Angriffe
       gegen die sichtbare Präsenz des Islams existieren zahlreiche
       Berührungspunkte mit Kreisen in der konservativen Regierungspartei UMP.
       
       UMP im Dilemma 
       
       Diese steht vor einem strategischen und taktischen Dilemma: Soll die
       bürgerliche Rechte sich weiterhin klar von den Extremisten distanzieren
       oder aber die von diesen lancierten Themen, die auch Anklang bei
       konservativen Wählern finden, selbst aufgreifen?
       
       Das hatte die Regierung 2009 mit einer landesweiten Debatte über die
       "nationale Identität" erfolglos versucht. Auch eine ständig verschärfte
       Ausländer- und Sicherheitspolitik vermochte nicht, die Anziehungskraft der
       extremen Rechten dauerhaft zu schwächen. Wird diese sogar als Partner
       unumgänglich, falls unter der neuen Führung der FN nicht mehr permanent
       Anstoß erregt wie unter Jean-Marie Le Pen, sondern halbwegs "salonfähig"
       wird?
       
       Einer von Sarkozys Präsidentenberatern, der namentlich nicht genannt werden
       will, glaubt, dass der FN schon in wenigen Jahren Teil einer rechten
       Regierungskoalition sein werde, wenn sich diese Partei unter der Regie der
       neuen Chefin etwas weniger extremistisch gebe. Deren vermeintliche Mäßigung
       sei aber nur "Fassade" oder ein "Airbag", warnt das Magazin L'Express: "Was
       zählt, ist das Programm, nicht die Verpackung." Eine Entwicklung wie (mit
       Fini) in Italien werde es in Frankreich nicht geben.
       
       Eine andere Konsequenz eines erneuten Erstarkens des FN, welche die derzeit
       regierende Partei von Präsident Sarkozy in Verlegenheit bringen könnte,
       prophezeit der Politologe Dominique Reynié. Mit voraussichtlich mehr als 15
       Prozent der Stimmen werde Marine Le Pen als Präsidentschaftskandidatin 2012
       zu einer ernsthaften Gefahr für den Amtsinhaber im ersten Wahlgang.
       
       Man erinnert sich in Frankreich noch gut, wie ihr Vater im April 2002 für
       eine Sensation sorgte, als er den Sozialisten Lionel Jospin und mit ihm die
       mit allzu vielen Kandidaten antretende Linke aus der Stichwahl eliminierte.
       Laut Reynié ist es nicht auszuschließen, dass dieses Mal der UMP-Kandidat
       Opfer der Konkurrenz des FN wird.
       
       Mit solchen schadenfreudigen Gedanken schickt Jean-Marie Le Pen jetzt seine
       "Rakete" Marine an die Abschussrampe. Sie soll vollenden, was er begonnen
       hat, weil er seine Thesen im Trend der Zeit sieht: "Es besteht die
       Möglichkeit, oder sogar die Wahrscheinlichkeit, dass die FN-Kandidatur [bei
       den Präsidentschaftswahlen 2012] ein außerordentliches Resultat erzielt,
       und dies nicht nur im ersten Durchgang, sondern vielleicht sogar im
       zweiten."
       
       13 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Balmer
       
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