# taz.de -- Debatte Doktortitel: Das Guttenberg-Syndrom
       
       > Die Promotion ist längst zur Farce geworden. Und wer Karriere machen
       > will, braucht den Doktortitel nicht. Warum schafft man ihn nicht ab?
       
 (IMG) Bild: Dr. strg. c. Veronica Saß, hier mit Papa Edmund Stoiber.
       
       Es gibt Leute, die beinahe schon als Chef, Leiter oder Vorstand zur Welt
       kommen: Menschen, die bereits nach wenigen Monaten Berufserfahrung zum
       Chefredakteur aufsteigen oder sofort irgendetwas leiten: eine Abteilung,
       ein Ressort, ein Ministerium oder am besten den ganzen Konzern.
       
       Man sieht es ihnen auf den ersten Blick an, dass ihr Weg direkt nach oben
       führt. Egal welche Schnitzer sie sich erlauben, welche handwerklichen
       Fehler und Mängel: Jeder Flop führt sie einen Schritt weiter - mit oder
       ohne Doktortitel.
       
       Auch in den Medienbetrieben findet man sie. Deutschlands mächtigster
       Medienboss etwa, der Bild-Zeitungs-Chef Kai Diekmann, konnte es sich sogar
       erlauben, sein Studium abzubrechen. Der akademische Abbruch, der einem
       sonst gern als mangelndes Durchhaltevermögen ausgelegt wird und die
       Berufschancen fast in Richtung Hartz VI mindert, bildete bei Diekmann den
       Start in eine wunderbare Karriere. Schon vier Jahre nach dem Beginn seiner
       Ausbildung trug er den Titel "Chefreporter". Auch die Mehrheit der
       Vorstände in den DAX-Unternehmen hat es zu keiner Doktorwürde geschafft,
       dafür aber an die Spitze der Macht.
       
       ## Wer den Doktor noch braucht
       
       Niedergelassene Ärzte können mit oder ohne Titel viel oder wenig Geld
       verdienen. Die Doktorwürde ist dort das Relikt einer Standestradition und
       mit einem wissenschaftlichen Aufwand, der dem einer Bachelorarbeit ähnelt,
       zu erlangen. Naturwissenschaftler promovieren, wenn sie in der Forschung
       arbeiten wollen. Bei den Anwälten der großen Wirtschaftskanzleien gilt der
       Dr. auf der Visitenkarte als Ausweis ihrer Milieuzugehörigkeit. Die Global
       Player der Unternehmensberater schmücken sich noch gern mit dem Titel, um
       die Macht ihres Wissens zu demonstrieren.
       
       Für die üblichen Jobs in der urbanen "Wissensgesellschaft" ist allzu
       tiefgründiges Wissen eher ein Hindernis. Hier zählen Flexibilität und
       schnelle Wendigkeit. "Organisationen, in denen Inhalte sich ständig ändern,
       erfordern mobile Problemlösungsfähigkeiten. Das Bestreben, sich sehr
       intensiv mit einem Problem zu beschäftigen, wäre dysfunktional, da Projekte
       ebenso abrupt enden, wie sie beginnen", schreibt der US-Soziologe Richard
       Sennett in seiner Zeitdiagnose "Die Kultur des neuen Kapitalismus".
       
       Gemäß dieser Kultur sind die deutschen Universitäten im vergangenen
       Jahrzehnt zu Fachschulen für instrumentelle Bildung umgestaltet worden. Der
       Bachelor als Regelabschluss passt haargenau ins postfordistische Getriebe
       der kurzen Produktionszyklen: griffige Formeln, knappe Merksätze. Der
       Powerpoint-Vortrag ersetzt die zähe Lektüre der Klassikertexte. "Das
       postmoderne Wissen", von dem Jean-François Lyotard schon 1979 sprach,
       zerfällt in Module und wird in Form von Credit Points austauschbar bis
       beliebig.
       
       ## Antiquierter Bildungsfetisch
       
       Für die Berufspraxis des heutigen Akademikers genügt dies. Denn
       betriebliches Handeln wird nicht nur in der Produktion, sondern inzwischen
       auch in den Humandienstleistungen durch Manuals und sogenannte
       Qualitätshandbücher standardisiert. Die Lektüre der Originale - wie
       beispielsweise der Schriften der beiden oben zitierten Autoren, Sennett und
       Lyotard - hat daher auch in der universitären Forschung längst ausgedient.
       
       Die Drittmittelforschungen in den Sozialwissenschaften müssen auf
       etablierten Methoden basieren und zu quantifizierbaren Ergebnissen führen.
       Eine Durchdringung des Gegenstands erscheint oft nebensächlich - und vor
       allem ineffizient. Der Forscher wird austauschbar, da er ohnehin
       standardisierte Formeln auf die jeweilige Problemstellung anwendet. Die
       kurzen Zyklen der Drittmittelbewilligungen limitieren die Bewegungen des
       Geistes. Im harten Konkurrenzkampf um die befristeten Stellen wird die
       wissenschaftliche Erkenntnis zum Mittel für den Zweck.
       
       Der Doktortitel entstammt einer ganz anderen Zeit. Er wurde im 13.
       Jahrhundert in Bologna erfunden, als die Wissenschaft noch einem winzig
       kleinen, elitären Zirkel vorbehalten war. Die Massenuni seit den 1970er
       Jahren führte zwar zu einer gewissen Chancengerechtigkeit, aber auch zu
       einer Fetischisierung von Abschlüssen und Titeln. Je mehr sie in Umlauf
       gerieten, desto wertloser wurden sie.
       
       In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Promotionsabschlüsse
       verdoppelt und lag 2009 bei über 25.000. Der Doktor-Fetisch ist in diesem
       Lande so mächtig wie in keinem anderen, und doch anachronistisch. Als eine
       Farce wird die Promotion nicht nur durch den Fund von Plagiaten entlarvt,
       sondern auch durch jene zahlreichen Arbeiten, die aus endlos
       zusammengereihten, aber korrekt nachgewiesenen Zitaten bestehen.
       
       ## Mitschuld der Doktorväter
       
       Die Doktorväter tragen daran eine gehörige Mitschuld. Statt mit Genie und
       Originalität zu glänzen, wetteifern sie selbst um die Anzahl ihrer
       Veröffentlichungen in den Fachzeitschriften mit den höchsten
       Impact-Faktoren (die, die am meisten zitiert werden). Neues findet man
       darin selten. Alte Thesen und Ergebnisse werden permanent umgeschrieben und
       neu verpackt: Output-Optimierung ersetzt Qualität. Das Plagiat ist der
       Offenbarungseid jener Uni, die sich der Industrie längst angeglichen hat.
       
       Den Doktor abzuschaffen wäre nur konsequent. Mit ihm ginge jedoch die
       typisch deutsche Ideologie von der Autonomie des Geistes verloren, die
       trotz ihrer Unwahrheit einen Funken an Utopie enthält. Um die Promotion für
       jene Studenten zu retten, die tatsächlich aus Leidenschaft und ehrlichem
       Erkenntnisdrang lernen und forschen wollen, wäre neben der neuen
       Bologna-Uni eine zweite, komplementäre Bildungsinstitution notwendig.
       
       Das sollte dann eine freie Möglichkeits-Uni sein, die von der
       bürokratischen Last der vielen Prüfungen, Zertifizierungen und
       Evaluierungen frei bleibt und dafür Angebote und Unterstützung, anregende
       Diskussionen sowie Zeit zur freien Lektüre bietet.
       
       Auf Wettbewerbsfähigkeit und unmittelbare "Praxisorientierung", wie sie die
       Wirtschaft vorgibt, muss darin verzichtet werden. Nur als Kulturgut wie ein
       geschütztes Denkmal, das schließlich seinen Wert hat, hat der Doktor eine
       Zukunft. Wer Karriere machen will, braucht ihn ohnehin nicht.
       
       10 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rainer Kreuzer
       
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