# taz.de -- Atomkatastrophen in der Literatur: Mehr als eine Weltuntergangsfantasie
       
       > Wer als Kind Gudrun Pausewangs "Die Wolke" las, begegnet jetzt vertrauten
       > Ängsten wieder: Die Atomangst ist archaisch. Chronik eines Schocks.
       
 (IMG) Bild: Unheimlicher noch als die Macht der atomaren Explosion ist die Strahlung. Notaufnahmelager der aus der Nähe von Fukushima Evakuierten.
       
       Endlich kommt der Frühling. Mürrische Großstädter lächeln grundlos. Im
       Lieblingscafé gibt es wieder Mangoeis. Man macht Pläne fürs Wochenende. Da
       kommt ein Anruf. "Geh sofort irgendwo fernsehen", lautet die Aufforderung.
       So dringend wurde ich zum letzten Mal am 11. September 2001 gebeten, am
       Weltgeschehen teilzunehmen.
       
       Es ist Freitag, der 11. März 2011, irgendwann am Vormittag. Ein gewaltiges
       Erdbeben hat in Japan einen Tsunami ausgelöst. Die Flutwelle schiebt
       Trümmer, Boote und Autos wie Spielzeug vor sich her. Zuerst heißt es, es
       wurden 200 Leichen gefunden, wenig später ist von mehr als tausend Toten
       die Rede. Das Atomkraftwerk Fukushima läuft nur noch im Batteriebetrieb. Es
       kann nicht mehr richtig gekühlt werden. Die Radioaktivität ist tausendmal
       höher als sonst. Erste Menschen werden evakuiert.
       
       Am nächsten Morgen klagt die Tochter den versprochenen Zoobesuch ein. Wir
       sind bei den Löwen, als der erste Anruf kommt. In Japan ist etwas
       explodiert. Die japanische Atomaufsicht spricht zum ersten Mal von
       Kernschmelze. Ich bekomme feuchte Hände. "Hallo, Atomangst", denke ich. "Da
       bist du ja wieder."
       
       Ein seltsamer Zufall, dass in wenigen Wochen der GAU Tschernobyl 25 Jahre
       alt wird. Ich war damals vierzehn. Wir durften nicht mehr auf den
       Pausenhof. Zu Hause gab es Jodtabletten, aufgelöstes Trockenmilchpulver
       und, was ganz gut war, Ravioli statt frischem Gemüse. Tagelang trug meine
       Mutter die oberste Erdschicht im Gemüsegarten ab und fuhr den Dreck mit der
       Schubkarre weg. Im Deutschunterricht lasen wir Gudrun Pausewang, und zwar
       gleich beide schrecklichen Bücher, "Die letzten Kinder von Schewenborn" und
       "Die Wolke": Ich weiß noch heute viele Sätze daraus: "Meine Schwester hatte
       keine Augen. Dort, wo sie hätten sein müssen, war nichts als Haut,
       gewöhnliche Haut." Im Zeitalter, als die Mutmacherbücher aufkamen, so hieß
       es in der FAZ vor ein paar Tagen ganz treffend, waren dies richtige
       Angstmacherbücher.
       
       ## Sozialkunde, Strahlenkrankheit
       
       In Sozialkunde, beim selben Lehrer, sahen wir "The Day After", den
       erfolgreichsten Fernsehfilm aller Zeiten. Viele Bilder haben sich ins Hirn
       gebrannt: Wie Denise durchdreht, den Bunker der Familie verlässt und in
       einer von Asche gepuderten Totenlandschaft eine Art Regentanz aufführt.
       Später bekommt sie deshalb die Strahlenkrankheit: Schwindel, Erbrechen,
       Krämpfe, Hautblutungen, all das.
       
       Kaum zu Hause, schalten wir den Fernseher an. Jetzt werden Menschen in
       einem Radius von 20 Kilometern evakuiert. Sie pumpen Meerwasser und
       Borsäure in den Reaktor, damit es nicht zur Kernschmelze kommt. Merkel will
       die deutschen Atomkraftwerke prüfen. Anderntags fällt bei einem weiteren
       Reaktor des AKW das Kühlsystem aus. Ist es Voyeurismus? Ist es Narzissmus?
       Wir starren jedenfalls hin. Wir haben eine Scheißangst. Es scheint, dass
       sich an dieser Scheißangst in den letzten 25 Jahren nichts geändert hat.
       Sie fühlt sich noch ganz genauso an.
       
       Am Montag, dem 14. März, gibt es wieder eine Explosion. Diesmal ist Block 2
       betroffen. Jetzt sind es nicht mehr tausend Tote, sondern zehntausend.
       Freunde, die ich seit Wochen um eine Einladung nach Japan beneide, sagen
       den Flug ab. Ich bekomme eine SMS einer anderen Freundin. Sie ist
       alleinerziehende Hartz-IV-Empfängerin: "Früher hab ich mich in Gorleben
       wegtragen lassen. Jetzt, mit Kind, kommt es nur noch zum allgemeinen
       Unrechtsempfinden. Noch so ein Ohnmachtsgefühl."
       
       Ich fange an, den besten Roman über Hiroshima und Nagasaki zu lesen. Er
       heißt "Schwarzer Regen" und stammt von Masuji Ibuse. Hier wird die
       Strahlenkrankheit als besonders schmerzhaft geschildert. Es geht auch um
       die Ausgrenzung der Strahlenkranken in der japanischen
       Nachkriegsgesellschaft.
       
       Ich verstehe nicht, wie ein Volk so traumatisiert und gleichzeitig so
       zukunftsgläubig und technikverliebt sein kann. Andererseits auch wieder
       völlig logisch. Mein Lieblingsautor Haruki Murakami hat es ja genau
       beschrieben. Die Monster sind immer und überall.
       
       Nicht umsonst ist er der Einzige, der mich mal qua Lektüre dazu gebracht
       hat, dass ich mich fast übergeben hätte. In "Mister Aufziehvogel". Darin
       beschreibt Murakami die japanische Besetzung Chinas in den Vierzigerjahren.
       Ein chinesischer Gefangener wird gefoltert. Der mongolische Kollaborateur
       zieht dem Mann lebendig die Haut ab und lässt ihn verbluten.
       
       Am nächsten Tag reden alle über Merkels Moratorium. Moratorium kommt aus
       dem Lateinischen. Morari heißt aufschieben. Ich hatte erwartet, es hat
       etwas mit morior, ähnlich dem französischen mourir, zu tun, das Sterben
       meint. Ist aber etwas anderes.
       
       Ich gehe mal wieder zur Staatsbibliothek in Berlin, zur schönsten
       Bibliothek der Welt. Ich finde Texte, die im Atommeiler mächtige
       mütterliche Rundungen entdecken und in der Atomfurcht die Angst vor der
       Zerschlagung der Symbiose, vor der Ablösung. Na ja. Noch so ein komischer
       Satz: "Die atomare Drohung wirkt auch deshalb regressionsfördernd, weil die
       Elternfiguren ihr gegenüber versagen."
       
       Was aber stimmt: Der Blitz, der Feuerball, die Druckwelle - das sind
       Kräfte, wie man sie vorher nicht kannte. "Ungeheuer, ungeheuer viel, viel
       Energie wird frei." So hat es einmal Blixa Bargeld mit seinen Einstürzenden
       Neubauten beschrieben, als er noch als Hungerhaken mit bedrohlichen
       Augenringen auftrat. Ich finde auch ein Gedicht von Gottfried Benn zum
       Thema: "Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion -:
       Gamma-Strahlen-Lamm".
       
       Unheimlicher noch als die Macht der atomaren Explosion ist die Strahlung.
       Sie ist zerstörerisch, allgegenwärtig, grenzüberschreitend und unsichtbar.
       Die Atomangst ist archaisch. Sie ist mehr als nur eine
       Weltuntergangsfantasie. In Tokio kommt es zu Hamsterkäufen, aber am
       Dienstag dreht der Wind Richtung Meer. Würden alle Menschen aus dem
       Großraum Tokio in den Süden flüchten, könnte die Insel ins Meer kippen und
       untergehen, stellt sich jemand vor. Das Technische Hilfswerk fliegt wieder
       heim, weil es wahrscheinlich keine Überlebenden mehr in den Trümmern gibt.
       
       Am Mittwoch, dem 16. März, scheitert ein Versuch, die Stromleitung zum
       Atomkraftwerk zu reparieren. Die Scheißangst verändert sich nicht. Man
       gewöhnt sich nicht an die Bilder. Warum funktioniert die Atomliteratur
       nicht kathartisch? Vielmehr ist es, als wäre alles, was man liest und
       sieht, eine Übung, eine Schulung, ein Training, eine Bahnung. Damit der
       Schock der Wirklichkeit erst richtig zur Wirkung kommen kann. Vielleicht
       gibt es das ja: Eine Art Urschrift der Atomangst, die sich nie abnutzt,
       sondern immer nur angereichert werden kann.
       
       ## Die "edlen Wilden" und die Symphonie
       
       Irgendein Ethnologe, vielleicht war es Claude Lévi-Strauss, hat einmal ein
       paar "edlen Wilden" eine Symphonie oder eine Oper vorgespielt. Sie haben
       nicht drauf reagiert. Als könnte man nur wahrnehmen, was man kennt. Jede
       Erfahrung muss vorbereitet werden. Durch Bücher und Filme zum Beispiel. Ein
       Kommilitone hat mir Anfang der Neunziger diese Anekdote erzählt. Ich habe
       sie nie wieder gefunden.
       
       Letzte Meldung vor Drucklegung dieses Textes: In Deutschland gehen die
       ersten AKWs vom Netz. Die Zahl der Toten in Japan könnte auf über 13.000
       steigen. Alle bisherigen Kühlversuche sind gescheitert. Hongkong fordert
       seine Bürger auf, Tokio zu verlassen. Amerika empfiehlt, viel mehr Menschen
       zu evakuieren als bisher geschehen.
       
       18 Mar 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
 (DIR) Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gudrun Pausewang
       
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