# taz.de -- Protestkultur in Japan nach der Katastrophe: Anti-Atomkraft? Nein danke!
       
       > Absolute Minderheit: Im Shiba-Park in Tokio treffen sich jetzt jeden
       > Sonntag die Atomkraftgegner. Sie blicken neidisch auf die
       > Anti-AKW-Bewegung in Deutschland.
       
 (IMG) Bild: Seltenes Bild auf Japans Straßen: Bei einer Anti-AKW-Demo fordert ein Protestler auf seinem Schild die Stillegung der Reaktoren.
       
       TOKIO taz | Im Café de Crie am Bahnhof Hamamatsucho in Tokio sitzen am
       Sonntagmittag vier piekfein in Schwarz gekleidete Jungstudenten, trinken
       Kaffee und rauchen. Sie kommen gerade von der Aufnahmezeremonie ihrer
       Fachuniversität und machen auf sorglos. Stört sie der fortdauernde
       Atomunfall gar nicht?
       
       "Wir essen Gemüse aus dem Süden", witzeln sie und lachen los. Fukushima
       liegt nördlich von Tokio. "Mal im Ernst", sagt der 18-jährige Seiya
       Ishihara schließlich. "Es gibt schon Leute, die Angst vor der
       Radioaktivität haben, aber dass jemand deshalb gegen Atomkraftwerke
       demonstrieren geht, das gibt's nicht", so Ishihara.
       
       Das gibt es aber doch. Im Shiba-Park, nur ein paar Schritte vom Bahnhof
       Hamamatsucho entfernt, treffen sich an diesem Sonntag die Atomkraftgegner
       der japanischen Hauptstadt zu ihrer zweiten Demonstration seit Beginn der
       Katastrophe in Fukushima. Ishihara und seine drei weiblichen Begleiterinnen
       zucken indes mit den Schultern. "Wenn wir die Atomkraftwerke abstellen,
       geht das Licht aus. Ich gehe jetzt bestimmt nicht demonstrieren", sagt die
       19-jährige Tatsuko Tanaga.
       
       Wie sie, so denken offenbar die meisten japanischen Jugendlichen. Denn auf
       der Kundgebung im Shiba-Park fehlen gerade sie: die schicken jungen
       Japanerinnen mit ihren auffällig bunt gefärbten Haaren - wie Tanaga. Oder
       die coolen, schlaksigen Tokioter Jungs mit ihren glänzenden
       Elvis-Dauerwellen - wie Ishihara.
       
       Dafür sind andere gekommen. Viele Senioren, ohne Plakate, einfach nur in
       ihrer normalen Ausgehkleidung für den Sonntagsspaziergang. In ihrer
       Generation sind die Erinnerungen an die Atombombenabwürfe in Hiroshima und
       Nagasaki wach geblieben. "Ich habe schon vor 30 Jahren gegen Atomkraft
       demonstriert", sagt ein alter Mann mit Schirmmütze. Stolz zeigt er eine
       Anstecknadel, auf der "Atomfreier Pazifik" steht. Die sei auch schon 30
       Jahre alt, erklärt er.
       
       Neben ihm hat sich im Shiba-Park eine Studentengruppe der elitären Tokioter
       Waseda-Universität aufgebaut. Die Studenten tragen neue, aufwendig
       bedruckte Banderolen, auf denen geschrieben steht: "Nieder mit der
       Regierung, die den Atomunfall vertuscht und die Menschen der Radioaktivität
       aussetzt". Der Sprecher der Gruppe heißt Shiseki Okuno, ist 28 Jahre alt,
       trägt Anorak und Rucksack und studiert Soziologie. Mit ihm kann man sich
       differenziert über alle Aspekte der Atomenergiekrise unterhalten.
       
       ## Keine japanischen Kameras
       
       Er klagt vor allem über die mangelhafte Informationspolitik von Regierung
       und öffentlichen Behörden. "Sie sagen alle nicht, wie viel Radioaktivität
       wirklich frei wird. Die Messungen sind einfach nicht vollständig genug",
       sagt Okuno. Er redet, wie man es auch von einem deutschen Atomkraftgegner
       erwarten würde. Man vergisst dabei leicht, dass er unter seinesgleichen in
       Japan eine große Ausnahme ist. Dabei ist Okuno selbst optimistisch: "Wir
       sind mit hundert Leuten hier. Vor Fukushima wären wir nur ein Dutzend
       gewesen. Die Stimme der Atomkraftgegner in Japan wird jetzt lauter", sagt
       er.
       
       Doch diese Stimme ist, was das ganze große Japan mit seinen über 120
       Millionen Einwohnern betrifft, immer noch kaum zu hören. Vielleicht 2.000
       Japaner sind an diesem sonnigen Frühlingstag inmitten der herrlichen
       Tokioter Kirschblüte in den Shiba-Park gekommen. "Doppelt so viele wie vor
       zwei Wochen bei der ersten Demo nach Fukushima", tröstet sich eine
       Teilnehmerin. Doch im Grunde wissen die Demonstranten selbst ganz genau,
       dass sie in der japanischen Öffentlichkeit auf verlorenem Posten stehen.
       
       Die Schuld dafür geben sie nicht zuletzt den Medien. Tatsächlich fällt auf,
       dass die Kameras des US-Nachrichtensenders CNN und des deutschen
       ARD-Fernsehens mit viel Aufwand den Demonstrationszug vom Shiba-Park zum
       Tokioter Regierungsviertel filmen. Japanische Fernsehkameras sind weit und
       breit nicht zu sehen. Ebenso fehlen die Reporter der großen japanischen
       Tageszeitungen. Dafür wird der deutsche Reporter von vielen Demonstranten
       angesprochen, die sich bei ihm höflich für die Fukushima-Berichterstattung
       in den internationalen Medien bedanken.
       
       "Bitte, berichtet der Welt die Wahrheit", sagt der 59-jährige Lungenarzt
       Nobuhiko Muramatsu aus dem Tokioter Vorort Narita. Er ist mit einer mit
       Asche gefüllten Gesichtsmaske zu der Demonstrationen gekommen, die ihn, wie
       er sagt, einigermaßen effektiv vor dem Einatmen radioaktiver Teilchen
       schützt. Muramatsu lobt Deutschland: "Ihr wart über 200.000 Demonstranten,
       hundertmal so viel wir".
       
       Deshalb sorgt sich der Arzt, dass nach Hiroshima und Nagasaki auch
       Fukushima bedeutungslos bleibe. Er sei so traurig, weil er als Lungenarzt
       die Folgen kenne. Die Regierung sage, es gebe heute keinerlei
       gesundheitlichen Probleme, meint Muramatsu. Da stimme er ihr zu, "aber das
       Problem ist die Zukunft. Ich möchte nicht wissen, wie viele Kinder bald an
       Lungenkrebs erkranken", sagt Muramatsu.
       
       ## "It's a motherfucker"
       
       Je länger man mit den Demonstranten redet, desto deutlicher wird: Es sind
       alles kluge, undogmatische Leute. Normalerweise trifft man auf japanischen
       Demonstrationen die restlos Überzeugten: Sekten, Kommunisten,
       Rechtsradikale. Die fehlen an diesem Sonntag. Vielleicht ist das ein gutes
       Zeichen. Vielleicht ist dies wirklich erst der Anfang einer neuen
       japanischen Anti-AKW-Bewegung nach Fukushima. "Das hier ist doch nicht
       schlecht. Das ist sogar ziemlich groß", findet der 43-jährige Angestellte
       eines Musikstudios, Taro Kesen. Er trägt einen Mundschutz mit einer
       Aufschrift aus einem alten Sun-Ra-Song: "Talkin about nuclear war, it's a
       motherfucker, don't you know".
       
       Kesen ist das erste Mal in seinem Leben auf einer Anti-AKW-Demonstration
       und mag sich nicht beklagen. Er glaubt, dass heute kein normaler Mensch in
       Japan mehr der Regierung und dem AKW-Konzern Tokyo Electric (Tepco) traue.
       Und er empfiehlt, statt der Zeitungen die Diskussionsforen im Internet zu
       lesen. "Da sind die Leute ziemlich wütend", sagt Kesen. Doch die
       umweltkritische Tokioter Bloggerin Sukiko Kannaduki widerspricht ihm. "Auch
       die Leute im Internet sind glücklicher, wenn sie von nichts etwas wissen",
       sagt Kannaduki.
       
       Während der Demonstration trägt sie in einer Hand eine grüne Holzlatte mit
       "No Nukes"-Plakat und in der anderen Hand einen gelben Luftballon ohne
       Aufschrift. Warum ohne Aufschrift? Kannaduki erklärt, der gelbe Luftballon
       sei das Symbol der japanischen Anti-AKW-Bewegung. Er stehe für die
       Anti-AKW-Sonne, die die Atomkraftgegner in aller Welt immer auf ihre
       Aufkleber und Anstecknadeln gedruckt hätten. Was sie sagt, leuchtet ein.
       Das Geheimnis der japanischen Ästhetik lag immer in der Kunst der
       Reduzierung und Minimalisierung.
       
       10 Apr 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
       
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