# taz.de -- Erste grüner Ministerpräsident: Heimliche Unterstützer
       
       > Winfried Kretschmann ist neuer Landesvater von Baden-Württemberg. Und
       > mindestens zwei Abgeordnete der Opposition stimmten ebenfalls für ihn.
       
 (IMG) Bild: Nach der Wahl: Winfried Kretschmann legt den Amtseid ab.
       
       STUTTGART taz | Sabine Kurtz schüttelt immer wieder den Kopf. Dann nimmt
       die kleine, dunkelhaarige CDU-Abgeordnete ihre Hand zum Kopf und scheint
       jemandem den Vogel zu zeigen. Wer konnte nur so dumm sein? Wer von uns hat
       Winfried Kretschmann mitgewählt? Sie läuft hin und her, guckt die schwarz
       gekleideten Männer neben sich fragend an. Doch ihre Kollegen sind genauso
       verdutzt.
       
       Die Diskussion, die Grüne und Rote so sehr fürchteten, müssen sich nun CDU
       und FDP gefallen lassen: Zwei Abweichler aus den eigenen Reihen hätten
       Kretschmann die Wahl gekostet. Nun haben mindestens zwei Abgeordnete aus
       der schwarz-gelben Opposition für den ersten grünen Ministerpräsidenten
       votiert.
       
       73 Ja- zu 65 Nein-Stimmen lautete das Ergebnis. 70 Stimmen hätten
       ausgereicht, Grün-Rot hat zusammen 71 Stimmen.
       
       Bis Landtagspräsident Willi Stächele das verkündet, muss Kretschmann 39
       Minuten zittern. Um 11 Uhr wird die Plenarsitzung im Stuttgarter Landtag
       eröffnet.
       
       ## Am Tisch festgekrallt
       
       Ein vorerst letztes Mal nimmt Kretschmann auf seinem Abgeordnetenplatz in
       der ersten Reihe der Fraktion Platz. Nervös tippelt er mit seinen Fingern
       auf die Tischplatte, rückt immer wieder seine Aktenmappe zurecht, krallt
       sich am Tisch fest.
       
       Seit 1980 saß er mit zwei kurzen Unterbrechungen auf diesem Platz und
       musste von dort aus stets zu konservativen Regierungen aufschauen. 1979 war
       er Mitgründer der Grünen im Südwesten. Die Liebe zur Natur, sagt er, sei
       dafür sein "Antrieb" gewesen. "Jaa, jetzt sind die Grünen da", sangen er
       und seine damaligen Fraktionskollegen 1980, als sie in den Landtag zogen.
       
       31 Jahre später bleibt Kretschmann die meiste Zeit an seinem Platz sitzen,
       während ein Abgeordneter nach dem anderen in geheimer Wahl seine Stimme
       abgibt. Die anderen stecken ihre Köpfe zusammen, blättern in der neuen
       Auflage des Landtags, um sich die Gesichter und Namen der neuen
       Abgeordneten zu merken. Grünen-Chefin Claudia Roth winkt in einer
       grellgrünen Jacke strahlend von der Zuschauertribüne herunter.
       
       Einige Tische weiter sitzt Kretschmanns Vorgänger. Mal lässt Stefan Mappus
       die Schultern hängen und schaut stumm in den Saal, mal scherzt er mit
       Parteikollegen, die zu ihm kommen. In diesen Momenten schielt er kurz nach
       oben auf die Tribüne, wo die Presse versammelt ist. Doch kaum einer schaut
       an diesem Tag zurück.
       
       Die Kameras sind auf Kretschmann gerichtet - und auf die Auszählung der
       Stimmen in der hintersten Ecke des Saals. Kurz vor der Bekanntgabe des
       Ergebnisses zuppelt der 62-Jährige noch einmal seine Krawatte zurecht und
       schaut noch auf seine Fingernägel. Dann die Erlösung. Ein Jubelschrei geht
       durch den holzvertäfelten Landtag.
       
       Edith Sitzmann, die Kretschmann als Fraktionschefin ablöst, ist die Erste,
       die ihn beglückwünscht und umarmt. Danach folgen SPD-Landeschef Nils Schmid
       und SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel. Dieser dreht sich danach um, nimmt
       beide Arme angewinkelt hoch und tänzelt grinsend an der wartenden
       Gratulantenmenge vorbei.
       
       Dass seine Sozialdemokraten die nächsten fünf Jahre Juniorpartner sein
       werden, scheint weniger wichtig als die Genugtuung über den Sieg über die
       CDU.
       
       ## "So wahr mir Gott helfe"
       
       Kretschmann bedankt sich anschließend "für das große Vertrauen des Hohen
       Hauses" und schreitet schließlich nach vorn, um seinen Amtseid zu leisten.
       "Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe", spricht der gläubige Katholik. Dann
       geht Kretschmann die zwei Treppenstufen runter und auf der anderen Seite
       des Landtagspräsidenten wieder rauf. Hier ist sein neuer Platz im
       Plenarsaal. Auf seinem alten bleiben drei Blumensträuße zurück.
       
       Nach der historischen Plenarsitzung verlässt der Mann als Erster den Raum,
       der noch bis vor wenigen Wochen auf der Regierungsbank saß: Mappus hat es
       besonders eilig. Er ist der erste CDU-Regierungschef, der im Südwesten vom
       Volk abgewählt wurde. Als ob dies nicht schon bitter genug wäre, mussten
       noch zwei Schwarz-Gelbe den Wechsel endgültig besiegeln.
       
       Die zwei Stimmen aus der Opposition seien ein Auftrag, nicht zu
       polarisieren, sondern für Zusammenhalt zu sorgen, sagte der neue
       Ministerpräsident. Sein künftiger Stellvertreter, Schmid, ergänzt: "Einen
       besseren Start kann man sich kaum denken."
       
       Nach der Mittagspause ist Schmid der erste Minister, der von Kretschmann
       vereidigt wird. Als Letzte reihte sich Gisela Erler in die Regierungsriege
       ein. Die neue Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung muss
       sich an ihren neuen Platz noch gewöhnen: Nach der Vereidigung wollte sie
       wieder zurück zu ihrem Stuhl nahe dem Ausgang gehen.
       
       12 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nadine Michel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Streit der Woche: Bürgerbeteiligung? Stimmenfang!
       
       Seit einem Jahr regieren die Grünen Baden-Württemberg: Beteiligen sie die
       BürgerInnen besser? Von wegen, höhnt Piratin Beer. Schauspieler Sittler
       widerspricht.
       
 (DIR) Baden-Württembergs grüner Landesvater: Die neue Radikalität der Grünen
       
       Oppositionelles Regieren? Winfried Kretschmann weiß, wie das in
       Baden-Württemberg gehen kann. Er ist ein gutes Beispiel für die Realität
       der Post-Volksparteien-Zeit.
       
 (DIR) Kretschmanns Regierungserklärung: Gründerzeitpathos in Stuttgart
       
       Nachhaltiges Wirtschaften und eine andere Bildungspolitik: Der grüne
       Ministerpräsident Winfried Kretschmann will bürgernah regieren.
       
 (DIR) Nils Schmid über Zukunft der BaWü-Koalition: "Nicht die Rosinen rauspicken"
       
       Baden-Württembergs Vizeregierungschef Nils Schmid (SPD) fordert von den
       Grünen, für "Stuttgart 21" Verantwortung zu übernehmen. Und erklärt, warum
       er nicht nur der Gruß-Onkel sein wird.
       
 (DIR) Tarek Al-Wazir über grüne Verantwortung: "Wir sind nicht größenwahnsinnig"
       
       Der hessische Abgeordnete der Grünen, Tarek Al-Wazir, konnte den Wahlsieg
       im Ländle kaum glauben. Jetzt aber über einen grünen Kanzlerkandidaten zu
       spekulieren, lehnt er ab.
       
 (DIR) Kommentar Grüner Ministerpräsident: Eine ordentliche deutsche Partei
       
       Nur Umweltpolitik reicht langfristig nicht für eine Partei. Nach ihrem
       Erfolg in der Atompolitik müssen die Grünen jetzt auch in der Sozialpolitik
       Farbe bekennen.
       
 (DIR) Ministerpräsidentenwahl in BaWü: Kretschmann erster grüner Landesvater
       
       Winfried Kretschmann ist nun offiziell Ministerpräsident von
       Baden-Württemberg. Für die Grünen ist es ein historisches Ereignis. Ihr
       Kandidat erhielt sogar zwei Stimmen aus der Opposition.
       
 (DIR) Landtag in Baden-Württemberg: CDU-Altlast wird neuer Präsident
       
       Der neue Landtag in Baden-Württemberg hat Willi Stächele zu seinem
       Präsidenten gewählt. Unter Mappus war er Finanzminister und am umstrittenen
       EnBW-Deal beteiligt.
       
 (DIR) Kommentar Baden-Württemberg: Die grüne Selbstbeschränkung
       
       Die Grünen haben der SPD im baden-württembergischen Kabinett alle
       Schlüsselressorts überlassen. Aber das ist keine Kapitulationserklärung.