# taz.de -- Tarek Al-Wazir über grüne Verantwortung: "Wir sind nicht größenwahnsinnig"
       
       > Der hessische Abgeordnete der Grünen, Tarek Al-Wazir, konnte den Wahlsieg
       > im Ländle kaum glauben. Jetzt aber über einen grünen Kanzlerkandidaten zu
       > spekulieren, lehnt er ab.
       
 (IMG) Bild: Was für ein Jubel und Geklatsche: Winfried Kretschmann, erster grüner Landesvater.
       
       taz: Herr Al-Wazir, welche Bedeutung hat die Wahl von Winfried Kretschmann
       zum Ministerpräsidenten für die Grünen? 
       
       Tarek Al-Wazir: Das ist für uns ein historischer Tag. So bedeutsam wie der
       Einzug in den Bundestag, der Tag der Ministerübernahme von Joschka Fischer
       in Hessen, der Tag der ersten Beteiligung an der rot-grünen
       Bundesregierung. Erstmals werden die Grünen eine Regierung führen.
       
       Und für Sie persönlich? 
       
       Es ist das Gefühl: Kneif mich bitte mal jemand. Unser Kretsch - das ist
       sein Spitzname - ist Regierungschef? Wenn mir das jemand vor einem Jahr
       erzählt hätte, hätte ich gesagt: Was hast du denn genommen? Eine Anekdote
       könnte ich da erzählen ...
       
       Bitte 
       
       Kretschmann war immer davon ausgegangen, dass er in Baden-Württemberg
       höchstens mal mit den Schwarzen regieren könnte ...
       
       ... weil es mit der SPD nie reichen würde. 
       
       Vor eineinhalb Jahren standen wir bei unserem Parteitag in Rostock beim
       Presseempfang beieinander. Im Hintergrund lief im Fernseher dann die
       Nachricht: Oettinger geht aus Stuttgart nach Brüssel, Mappus wird
       Nachfolger. Kretschmann wurde käsebleich - und sagte immer nur: "Der
       Mappus, der Mappus! Mit dem kannscht net regiere!" Dass Mappus jetzt weg
       ist und Kretschmann Ministerpräsident, das ist eine echte Ironie der
       Geschichte.
       
       Die Erwartungen an die neue Landesregierung sind so hoch wie an kaum eine
       andere. Muss Grün-Rot nicht daran scheitern, diese Ansprüche zu erfüllen? 
       
       Das ist Baden-Württembergs Grünen wohl bewusst, das wurde in den
       Koalitionsverhandlungen deutlich. Aber nehmen wir beispielsweise das
       Großthema Stuttgart 21: Wenn unsere Erwartung richtig ist, wird das Projekt
       in der bisherigen Form nicht leistungsfähig genug sein und schon an der
       Geldfrage scheitern - weil hohe Mehrkosten anfallen würden.
       
       Das ist nicht die einzige Herausforderung. Grün-Rot will die
       Gemeinschaftsschule in einem jahrzehntelang konservativ regierten Land
       einführen. 
       
       Man darf sich nichts vormachen. Wir sind dort erstmals an der Regierung,
       die kommunale politische Landschaft ist größtenteils tiefschwarz, die CDU
       ist immer noch ziemlich stark. Für die Koalition geht es darum, sich auf
       den Weg zu machen, und dabei muss sie möglichst viele Menschen mitnehmen.
       Veränderungen im Bildungssystem sind dann erfolgreich, wenn man sie nicht
       von oben verordnet, sondern von unten wachsen lässt - das wird in
       Baden-Württemberg der Fall sein.
       
       Solch ein Prozess läuft langsam ab. Ist nicht Enttäuschung der Wählerschaft
       programmiert? 
       
       Es wird einige geben, denen es nicht schnell genug geht. Dafür aber andere,
       die finden, oh, das machen die ja ganz vernünftig. Die Umfragewerte dort
       sind für die Grünen weiter gestiegen, auch nach den
       Koalitionsverhandlungen. Ich glaube deshalb, dass es für uns mehr Chancen
       als Risiken gibt. Kretschmann muss jetzt allerdings liefern, aber das weiß
       er selbst am besten.
       
       Sind die Grünen jetzt in einer ähnlichen Situation wie die FDP im Bund
       2009? Der Höhepunkt ist erreicht und nicht wiederholbar? 
       
       Es ist sicherlich so: Der Grat zwischen einem gesunden Selbstbewusstsein
       und Größenwahn ist oft schmal. Die Grünen müssen aufpassen, dass sie sich
       nicht größer machen, als sie sind. Ich erinnere daran, dass wir immer noch
       in einem Land, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern, gar nicht im Parlament
       sitzen, das ändert sich hoffentlich im September. Wir sind in bestimmten
       Bereichen mehrheitsfähig, aber es kommt stark auf die Situation vor Ort an.
       
       Die FDP hat seit ihrem historischen Hoch einen dramatischen Abstieg
       hingelegt. 
       
       Wir wissen, was mit der FDP passiert ist. Aber das ist nicht übertragbar:
       Erstens sind wir nicht größenwahnsinnig. Zweitens haben wir mehr als ein
       Thema, das ist ein struktureller Unterschied.
       
       Die CDU macht Familienpolitik, diskutiert Frauenquoten und schwenkt in der
       Atompolitik, entgiftet also ein Hemmnis für Schwarz-Grün. Sehen Sie diese
       Option für 2013? 
       
       Ich halte Ausschließeritis für fatal, wenn jeder immer erklärt, mit wem er
       auf keinen Fall zusammenarbeitet, dann geht am Ende oft nichts mehr, siehe
       Hessen 2008. Wenn es eine rot-grüne oder grün-rote Mehrheit geben wird, ist
       die Wahrscheinlichkeit hoch, dass daraus eine Regierung entsteht - weil wir
       mit der SPD mehr Schnittmengen haben als mit der CDU. Nun ist es aber so:
       Die Linkspartei hat bisher wirklich nicht daran gearbeitet, sich
       regierungsfähig zu machen. Wenn es 2013 nicht für Rot-Grün reicht, bin ich
       dafür, mit allen und natürlich auch mit der CDU zu reden. Dann käme es am
       Ende wirklich auf die Inhalte an, was geht und was nicht geht.
       
       Angesichts der Umfragewerte gab es sogar schon mediale Debatten über einen
       grünen Kanzlerkandidaten. 
       
       Ehrlich gesagt: Ich warte seit Monaten darauf, dass unsere Umfragewerte
       wieder runtergehen. Weil die Entwicklung in der politischen Landschaft in
       den vergangenen zehn Jahren unheimlich schnell geworden ist, weil es viel
       mehr Wechselwähler gibt. Wir dürfen uns deshalb die Debatte "Wer wird
       grüner Kanzlerkandidat?" um Himmelswillen nicht anhängen lassen. Die Grünen
       wachsen, das ist gut, aber niemand weiß, wie die politische Stimmung 2013
       ist.
       
       Welche Themen bleiben den Grünen noch, wenn Merkel jetzt zur
       Atomausstiegs-Kanzlerin wird? 
       
       Selbst wenn die Regierung einen akzeptablen Atomausstiegsplan vorlegen
       sollte, wird vielen Menschen klar sein, wer von Anfang an die Position
       vertreten hat. Das Thema bekommen die Grünen gutgeschrieben, nicht Merkel,
       die noch im vergangenen Jahr die AKW-Laufzeiten verlängert hat.
       
       Noch einmal: Mit welchen Themen wollen Sie die Zukunft bestreiten? 
       
       Die Energiewende ist ein Projekt für die nächsten zwanzig Jahre, das
       bleibt. Viele trauen uns in der Integrations-, Bildungs- und
       Familienpolitik und inzwischen auch in der Wirtschaftspolitik viel zu. Eine
       Kristina Schröder wird sicher nicht dafür sorgen, dass junge Frauen in den
       Großstädten ihr Kreuz bei der Union machen.
       
       13 May 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) M. Lohre
 (DIR) U. Schulte
       
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