# taz.de -- Karl-Heinz Dellwo: "Wer mitmacht, ist verloren"
       
       > Karl-Heinz Dellwo war früher Terrorist, heute leitet er den Laika-Verlag,
       > in dem die "Bibliothek des Widerstands" erscheint. Ein Montagsinterview
       > über linke Geschichtsschreibung, die Fatalität des Profits und die
       > Notwendigkeit der Selbstkritik.
       
 (IMG) Bild: Will aus dem Kapitalismus heraus: Karl-Heinz Dellwo.
       
       taz: Herr Dellwo, Sie geben die "Bibliothek des Widerstands" heraus, ist
       das ein Kampf mit Büchern? 
       
       Karl-Heinz Dellwo: Wir, mein Kollege Willi Baer und ich, wollen mit unserem
       Verlag eine Geschichtsschreibung von links befördern. Denn wir wollen
       unsere Geschichte nicht dem bürgerlichen Lager mit seinen Prämissen und
       Wertsetzungen überlassen. Wir wollen Teil der Mobilisierung gegen den
       Kapitalismus sein.
       
       Die Bibliothek des Widerstands dokumentiert linke Kämpfe seit den 60er
       Jahren. Worin sehen Sie genau den Wert? 
       
       Wie wichtig das Wissen über unsere Geschichte ist, zeigt sich gerade mal
       wieder am Beispiel Griechenland. Da wiederholt sich doch die Zerstörung der
       DDR-Ökonomie durch westdeutsche Privatisierungen. Und das wird, wenn das
       Vorhaben gelingt, auch die gleichen Folgen haben. Einen solchen Überblick
       über alle sozialen Kämpfe in der Welt findet sich in der Bibliothek mit
       wichtigen Filmen aus dieser Zeit. Ich mache das Projekt gerne, auch vor dem
       Hintergrund, dass ich damals, am Anfang unseres revolutionären Kampfs noch
       keine eigene Geschichte hatte.
       
       Hat diese Geschichtslosigkeit Ihnen den Impetus verliehen, zu handeln,
       statt zu räsonieren? 
       
       Nein, das Bedürfnis zum unmittelbaren und radikalen Handeln ist zum einen
       ein schönes Privileg der Jugend. Ihr Mut ist da noch nicht durch schlechte
       Erfahrung verstellt. Zum anderen, was man nicht vergessen sollte, waren
       hoch entwickelte Erkenntnisse über die Gesellschaft vorhanden. Wir
       politisierten und radikalisierten uns am Vietnam-Krieg. Wir sahen unser
       ganzes Leben umstellt von lauter Alt-Nazis, Leuten, die uns permanent
       disziplinieren, anpassen und zurichten wollten. Wir sollten für den Profit
       von anderen verwertet werden. Ein Mitmachen innerhalb der damaligen
       gesellschaftlichen Verhältnisse wäre für mich wie eine Art Selbstmord
       gewesen.
       
       Heute blickt man auf '68 zurück und sieht die Möglichkeiten, die Leute
       damals für sich entdeckten: Emanzipation, Gegenkultur… 
       
       Ja, aber nur wo du dich gewehrt hast. Ohne das wärst du ein dummes Rädchen
       im System gewesen. Und was wir heute auch sehen, ist, dass das
       Gegenkulturelle alleine integrierbar und fürs System verwertbar ist. Es
       bleibt: Wer in dieser Gesellschaft mitmacht ohne Bewusstsein, dass ihr
       einziger übergeordneter Zweck der Profit ist, ist am Ende verloren, weil
       man darin für die obszönen Handlungen und Entscheidungen verantwortlich
       wird. Claudia Roth, als Beispiel, die damit kokettiert, dass sie früher mit
       Ton, Steine, Scherben durch die Gegend gezogen ist, oder Jürgen Trittin,
       maoistischer Linksradikaler der 70er Jahre, haben mit der SPD und Gerhard
       Schröder Hartz-IV als neue und dauerhafte Lebensebene im Keller des Systems
       eingebaut. Ein Verrat an den Armen, die überhaupt keinen Einfluss auf eine
       Systemlogik haben, deren Opfer sie sind.
       
       Ihre politische Biographie beginnt in der Hamburger Hausbesetzerszene. 
       
       Die Besetzung in der Eckhoffstraße war wichtig für mich. Ich war dafür ein
       Jahr im Gefängnis. Wir hatten aber vorher schon zu Vietnam demonstriert und
       waren auch mal in die Fabrik gegangen, hier in Hamburg zu Blohm und Voss.
       Ich erinnere mich an eine große Kantine, vielleicht 700 Arbeiter, die ein
       Reden über den Klassenkampf von uns nicht hören wollten. Ich hatte das
       erwartet und es hat mich nur in meiner Haltung bestärkt: Wir, die radikale
       Linke, müssen erst mal durch Praxis zeigen, dass man mit uns was machen
       kann und wir ernst zu nehmen sind. Vor dem Problem steht die Linke heute
       auch.
       
       Mit ihrer Praxis sind Sie aber gescheitert. 
       
       Alles was aus '68 hervorgegangen ist, ist in seinem Kernanliegen, den
       Kapitalismus abzuschalten, gescheitert. Individuell sieht die Bilanz dann
       noch mal anders aus. Als ich '95 aus dem Gefängnis kam, hatte ich das
       Gefühl, persönlich den Kampf gewonnen zu haben, der in den 20 Jahren Haft
       nicht gerade einfach war. Auch in Bezug auf meine eigene Gruppe, die RAF,
       habe ich die Unabhängigkeit gewonnen, meine Positionen nach dem zu
       formulieren, was ich für richtig halte. Gescheitert ist man erst, wenn man
       aufhört, für eine klassenlose Gesellschaft einzutreten.
       
       Was bleibt vom ehemaligen Kollektiv-Gedanken? 
       
       Die Erfahrung, dass Solidarität wichtig ist, um vertrauensvoll kämpfen zu
       können. Dazu gehört die Sicherheit, dass das Kollektiv auch Widerspruch
       aushält, sonst taugt es nichts. Was man im Kollektiv als Erstes lernen
       muss: Widersprich deinem Genossen, wenn für dich irgendetwas ungeklärt ist.
       Mit meiner linken Praxis will ich doch, dass jeder Mensch die Möglichkeit
       hat, das in ihm steckende Potential entwickeln zu können und dass er "ich"
       sagen kann, ohne zu lügen.
       
       Glauben Sie, wenn es das "Wir" in der alten Form für Sie nicht mehr gibt,
       noch an das "Ihr", ans klare Feindbild: die bürgerliche Gesellschaft? 
       
       Ich lebe heute innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, weil das derzeit
       alternativlos ist und weil es keine glaubwürdigen Konzepte gibt,
       gesellschaftlich die Machtfrage zu stellen. Ganz zarte Fragmente gibt es
       vielleicht in so einer Bewegung wie Recht auf Stadt, wo gesagt wird, das,
       was da ist, muss auch für uns alle zur Verfügung stehen. Das muss auf den
       ganzen gesellschaftlichen Reichtum ausgeweitet werden. Lebenserfüllung ist
       auch mit dem Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum verbunden. Wenn
       die einen den zehntausendfachen Zugriff beanspruchen und die anderen im
       Keller leben und von allem ausgeschlossen sind, hat das auch eine
       rassistische Komponente.
       
       Wann kam Ihnen die Erkenntnis, dass die RAF ein Irrtum gewesen ist? 
       
       Sie sagen Irrtum, ich sage Scheitern. Ich verteidige den Aufbruch. Es war
       der Versuch, eine revolutionäre Umwälzung der schlechten Verhältnisse
       herbeizuführen und nicht bei der Erkenntnis ihrer Unerträglichkeit stehen
       zu bleiben.
       
       Aber es gibt doch einen Punkt, an dem die Sache in den fatalen Irrtum
       gekippt ist. 
       
       Es gab Aktionen der RAF, die politisch und moralisch falsch waren und wo
       uns auch der Vorwurf trifft, dass wir es hätten wissen können. Was wir
       irgendwann erkannt haben, war, dass die RAF keine Zukunft hat. Die
       Ursprungsidee der RAF war ja, als kleiner Motor den großen Motor in Gang zu
       setzen. Das trat nicht ein.
       
       Wie sind Sie zu dieser Selbstkritik gelangt? 
       
       Die Kritik muss man zuerst an der eigenen Praxis entwickeln. Die
       Geiselerschießung, die wir in Stockholm zu verantworten haben, besitzt
       keine Legitimation. Die Haltung hinter ihr enthält keinen verlängerbaren
       Wert. Ich kann zur Rechtfertigung nur anführen, dass es eine Aktion wie
       Stockholm ohne den Tod von Holger Meins nicht gegeben hätte.
       
       Meins starb im Hungerstreik. 
       
       Holger Meins, später Sigurd Debus, ist Opfer des summarischen Blicks der
       herrschenden Klasse und ihrer staatlichen Führung, die eine grundsätzliche
       Widerspruchsposition vernichten wollten. Wer sich nicht integrieren lässt,
       der wird zerstört. Das war das Credo der Regierungspolitik. Wir haben
       diesen summarischen Blick dann auf die herrschende Klasse selbst angewandt
       und ab einer bestimmten Ebene auch jeden verantwortlich gemacht.
       
       Welche Lehre ziehen Sie aus diesem moralischen Debakel? 
       
       Das, was man macht, muss für sich alleine gültig sein. Es darf nicht vom
       Bezug zum anderen oder zur anderen Seite leben. Das ist Rechtfertigung,
       aber keine eigenständige Moral.
       
       Trotz dieser Erkenntnis sind Sie nicht aus der Gruppe ausgeschert. 
       
       Sich einfach vom Acker machen oder sich von anderen zu trennen - das ist
       nur eine billige Geschichte und egoistisch. Jeder ist auch verantwortlich
       für die ganze Politik der Gruppe und was in ihr abgelaufen ist.
       
       Man muss die Handlung losgelöst betrachten, sagten Sie. Sahen das Ihre
       Genossen auch so? 
       
       Die sagen leider nichts. Für die ganze Geschichte gilt, dass man sie nicht
       nur verteidigen kann. Man muss sich kritisch mit ihr auseinandersetzen. Die
       RAF ist nichts, was man repräsentieren kann. Heute ist niemand mehr RAF.
       Die Kämpfe von heute sind andere. Aus den verarbeiteten Erfahrungen könnte
       man dazu Wichtiges beitragen.
       
       Womit wir wieder bei der Bibliothek des Widerstands wären? 
       
       Genau. Denn sie ermöglicht aus der Geschichte den Bezug zu heute.
       Irgendwann wird es darin auch ein Buch zum bewaffneten Kampf in der BRD
       geben.
       
       Wen würden Sie das Buch schreiben lassen? 
       
       Alle, die sich dran beteiligen wollen ohne zu glorifizieren und ohne
       abzurechnen. Aber es ist nicht das entscheidende Thema in unserem Verlag.
       Das ist vielmehr, wie wir aus der kapitalistischen Zerstörung der Welt und
       des Lebens herauskommen.
       
       26 Jun 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) L. Kaiser
 (DIR) M. Probst
       
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 (DIR) Philosophie
       
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