# taz.de -- DIW-Chef über Steuersenkungen: "Der Staat ist zu mager geworden"
       
       > Höhere Steuern sind durchaus tragbar, meint der Ökonom Gert G. Wagner.
       > Statt einer Entlastung der Mittelschicht plädiert der Berliner Professor
       > für höhere Investitionen in die Bildung.
       
 (IMG) Bild: Wollen unbedingt die Steuern senken: FDP-Politiker Philipp Rösler (r.) und Rainer Brüderle (l.).
       
       taz: Herr Wagner, die Bundesregierung debattiert über die nächste
       Steuersenkung. Welche Argumente sprechen dafür? 
       
       Gert Wagner: Steuern senkt man vor allem, um die Wirtschaft zu beleben. Das
       ist augenblicklich jedoch nicht notwendig, denn die Konjunktur läuft sehr
       gut. Deutschland wird auch dieses Jahr ein sattes Wachstum erreichen.
       
       FDP, CSU und Teile der CDU wollen niedrige und mittlere Einkommen
       entlasten. Ist es notwendig, dort für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen? 
       
       Gerechtigkeit ist eine sehr subjektive Kategorie. Deswegen stellt auch
       alles, was ich dazu sage, meine rein persönliche Meinung dar - ich spreche
       hier nicht für das DIW. Tatsache ist: Beschäftigte mit kleinen Einkommen
       zahlen heute keine oder wenig Steuern. Eine Senkung dort würde deshalb kaum
       Entlastung bedeuten. Spürbar sind dagegen die Sozialbeiträge, die auch bei
       kleinen Einkommen in voller Höhe erhoben werden. Wenn deshalb Teile der
       Union und der SPD darüber diskutieren, die Sozialbeiträge im unteren
       Bereich zu senken, finde ich das nachvollziehbar.
       
       Entlastungen kosten Geld. Dabei nimmt Finanzminister Schäuble allein dieses
       Jahr rund 30 Milliarden Euro neue Kredite auf. Erreicht die Verschuldung
       nicht allmählich die Grenze des Tragbaren? 
       
       Sicherlich ist es vernünftig, die Schulden nach der Finanzkrise wieder zu
       senken. Aber Überschuldung? Nein. Kein einziger Indikator zeigt an, dass
       ein deutscher Staatsbankrott zu erwarten wäre oder unser Staat Probleme
       hat, die Zinsen zu zahlen. Außerdem könnten wir mit wenigen Federstrichen
       unsere Einnahmesituation entscheidend verbessern. Denn die Belastung der
       oberen Einkommen liegt international betrachtet nur im Mittelfeld. Wenn
       sich die Regierung entschließen würde, die Steuern für hohe Einkommen oder
       die Erbschaftsteuer zu erhöhen, könnten wir die Schuldenlast abbauen und
       sogar wieder ein wenig mehr investieren.
       
       Ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent, wie er früher existierte, wäre also
       nicht schädlich? 
       
       Ich persönlich halte das für grundsätzlich tragbar - ohne mich für diesen
       Prozentsatz aussprechen zu wollen. Die Politik muss selbst entscheiden, für
       welchen Steuertarif sich eine Mehrheit finden lässt.
       
       Das DIW hat in den vergangenen Jahren mehrmals ein Schrumpfen der
       Mittelschicht diagnostiziert. Ist es deshalb nicht nachvollziehbar, sie
       entlasten zu wollen? 
       
       Sicher, der Anteil der mittleren Einkommen im Vergleich zu den unteren und
       oberen Schichten hat in den vergangenen zehn Jahren abgenommen. Deswegen
       ist die deutsche Mittelschicht als soziale Kategorie aber noch lange nicht
       in ihrem Bestand gefährdet. Die eigentlichen Probleme sind das Anwachsen
       niedriger Einkommen und die Dauerarbeitslosigkeit in bestimmten Schichten.
       Und da helfen ein paar Euro mehr im Monat für die Mittelschicht gar nicht.
       Viel besser wäre es deshalb, das Geld dafür auszugeben, die öffentliche
       Infrastruktur zu verbessern.
       
       Ist der Staat in den vergangenen 25 Jahren zu mager geworden? 
       
       Das meine ich allerdings. Schauen Sie sich nur die Infrastruktur an. Viele
       Schul- und Universitätsgebäude sind in jämmerlichem Zustand. Von den
       Straßen und Bürgersteigen etwa in Berlin ganz zu schweigen. Die Erkenntnis
       drängt sich auf: Es gibt legitime Aufgaben des Staates, und die müssen auch
       finanziert werden.
       
       Die Regierung hat bereits mehrere Milliarden-Programme aufgelegt, um
       Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten besser auszustatten. Warum
       ist jetzt noch mehr Geld nötig? 
       
       Bildung schützt vor Arbeitslosigkeit. Wir wissen, dass die
       Arbeitslosenquote in Deutschland nur bei den An- und Ungelernten dramatisch
       gestiegen ist. Abiturienten haben dagegen praktisch die gleichen Chancen
       wie früher. Was nicht verwunderlich ist: Unsere exportorientierten
       Industrie- und Dienstleistungsfirmen brauchen gut ausgebildete
       Beschäftigte.
       
       Aktuelle Umfragen ergeben, dass nur noch eine Minderheit der Bundesbürger
       für Steuersenkungen plädiert. Wie erklären Sie sich diesen Stimmungswandel? 
       
       Die Menschen erkennen, dass der Staat Steuern einnehmen muss. Einzelne
       Vermögende verlangen sogar, die Regierung solle sie und ihresgleichen
       stärker zur Kasse bitten. Diesen Steuerzahlern ist klar, wie sehr ihre
       hohen Einkommen auf der guten Bildung basieren, die sie im öffentlichen
       Schulsystem erhalten haben. Und sie wissen, dass ererbtes Vermögen - auch
       wenn es für manchen eine Bürde darstellt - im wahrsten Sinne des Wortes
       unverdient ist.
       
       4 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hannes Koch
       
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