# taz.de -- Serie Atomkraft in Asien (III): Der Fischer und die Fabrik
       
       > Am 18. April erschoss die Polizei im indischen Sakhari Nate den
       > 30-jährigen Tabrez Sayekar. Er und die Dorfbewohner protestierten gegen
       > das größte AKW der Welt.
       
 (IMG) Bild: Hier soll bald "die Fabrik" gebaut werden: Das Riesen-Areva-Atomkraftwerk.
       
       SAKHRI NATE taz | Abdul Sayekar besitzt nur noch ein Passfoto von seinem
       Sohn. Der 55-jährige Fischer hat das Bild sorgfältig auf einen grünen
       Plastikuntersetzer geheftet und diesen auf den Küchenboden gelegt. Dann
       knien der Fischer, seine Frau und drei Tanten gemeinsam vor dem Foto und
       beten, die Frauen singen Koranverse und weinen.
       
       Sayekar sagt, sie tun das jeden Morgen seit dem 18. April. An diesem Tag
       erschoss die Polizei den 30-jährigen Tabrez Sayekar mit drei Kugeln, die
       laut Polizeibericht in Herz, Lunge und Leber eindrangen. Es war der Tag, an
       dem die Bewohner des kleinen Fischerdorfs Sakhri Nate am Arabischen Meer
       das erste Mal in ihrem Leben gegen Atomkraft demonstrierten.
       
       Nur einen Fußmarsch von ihrem Dorf entfernt wollen die indische Regierung
       und der französische AKW-Hersteller Areva in den nächsten Jahren die größte
       Atomanlage der Welt mit einer Leistung von 10.000 Megawatt bauen. Noch im
       letzten Dezember vereinbarten der französische Staatspräsident Nicolas
       Sarkozy und der indische Premierminister Manmohan Singh in Delhi eine
       umfangreiche Zusammenarbeit bei der Atomenergie. Das Riesenprojekt in
       Jaitapur, dem Nachbarort von Sakhri Nate, zählt dazu. Deshalb warfen die
       Fischer am 18. April Steine auf eine mit Elitepolizisten der indischen
       Zentralregierung besetzte Polizeistation in Sakhri Nate. Da wehrten sich
       die Polizisten, und nun ist Tabrez tot.
       
       ## "Es gab immer genug Fische"
       
       Abdul Sayekar trägt unter dem Fez ein abgenutztes kariertes Hemd und ein
       Tuch um die Lenden. Er ist unrasiert, seine Haut braun gegerbt von Sonne
       und Wind. Er muss dieser Tage nicht fischen, weil ihm gleich drei
       Oppositionsparteien in Delhi Entschädigungen in Höhe von umgerechnet 6.000
       Euro zahlten. Vor dem Tod seines Sohns aber fuhr er dreißig Jahre täglich
       aufs Meer hinaus, um den Familienunterhalt zu verdienen. "In den 30 Jahren
       hatte sich hier nichts verändert", sagt Sayekar. "Es gab immer genug
       Fische." Es klingt, als wäre er damals ein zufriedener Mann gewesen.
       
       Das gute Leben in Sakhri Nate gibt es auch heute noch. Sayekar besitzt ein
       Ziegelhaus mit zwei Zimmern und Küche unter einem mit Palmenblättern
       bedeckten Dach. Wortkarg, aber mit einladenden Blicken zeigt er sein
       kleines Anwesen und die vielen Fische in den Aluminiumeimern in der Küche.
       Täglich kann seine Familie frischen Fisch essen. Die Küstenregion ist
       gesegnet mit einem der reichsten Fischvorkommen Indiens. Damit versorgt das
       Dorf viele Kunden im nördlich gelegenen Mumbai und im südlichen Goa. Wird
       es demnächst die Metropolen mit Atomstrom versorgen?
       
       ## "Die Fabrik ist schuld"
       
       Sayekar ist keiner, der von sich glaubt, solche Fragen beantworten zu
       können. Aber seit dem Tod seines Sohns denkt er über Dinge nach, die ihn
       zuvor noch nie beschäftigt haben. "Nicht die Polizei ist schuld am Tod
       meines Sohns, sondern die Fabrik. Wir müssen die Fabrik stoppen", sagt
       Sayekar. Das Hindi-Wort für Atomkraftwerk kennt er nicht. Deshalb redet er
       von der "Fabrik".
       
       Sayekar ist unterwegs zum Hafen. Er will Netze holen, die er daheim
       repariert, um nicht untätig zu sein. Sein Dorf liegt unter Palmen und
       Mangobäumen geschützt am Hang einer Küstenhochebene. Dort oben soll einmal
       die Atomanlage stehen. Der Fischer passiert die einem Leuchtturm ähnelnde
       weiße Moschee des Dorfs, den belebten Marktplatz und eine enge Gasse.
       Überall grüßen ihn die Leute. Sie tun das in Anerkennung für seinen
       verstorbenen Sohn. Seit den Schüssen vom 18. April ist die Dorfgemeinschaft
       zusammengerückt.
       
       Sayekar erreicht den Hafen. Vor ihm liegen zwei hölzerne Schiffswerften,
       auf denen Zimmerer mit Holznägeln und Leim neue Fischkutter bauen. Der
       Kutter, von dem Sayekar jetzt ein Netz holt, sieht genauso aus, nur alt und
       abgenutzt. "Er ist schon drei Jahre alt", sagt der Fischer. So schnell
       nutzten sich die Schiffe ab und schaffen Bedarf für neue.
       
       ## Das AKW als Fabrik
       
       Die Schiffszimmerer von Sakhri Nate haben Arbeit genug. Einer von ihnen
       erinnert sich noch, wie vor ein paar Jahren der Industrieminister des
       Bundesstaats Maharashtra zu ihnen kam, um die AKW-Baupläne für die
       Hochebene über dem Dorf bekannt zu geben. "Werdet Ingenieure!", rief der
       Minister den Dorfbewohnern zu. Doch Sameer Bhatkar hörte schon damals weg.
       "Nur Universitätsabgänger finden als Ingenieure Arbeit in der Fabrik. Aber
       nicht wir", sagt er. Auch Bathkar spricht vom AKW als "Fabrik". Aus seiner
       Rede geht hervor, dass die Dorfbewohner schon vor der Atomkatastrophe in
       Fukushima Bedenken gegen den Atombau vor ihrer Haustür hegten. Ihr
       Widerstand aber begann erst, als die Neuigkeiten aus Fukushima das Dorf
       erreichten.
       
       An diesem Morgen setzen sich Fischer und Zimmerer auf die Kaimauer und
       zeigen sich gegenseitig ihre inzwischen verheilten Wunden an Wade und
       Oberarm. Die Kinder im Hafen schließen sich an, rollen Ärmel und Hosen hoch
       - für sie ist es ein Vergnügen. Denn jeder ist stolz, wenn er noch eine
       Narbe von dem Tag trägt, an dem Tabrez starb. "Mein Sohn ist heute ein
       Märtyrer", sagt Sayekar. Er kann zwar noch nicht mit den Kindern lachen,
       aber ihr naives Heldengebaren gefällt ihm.
       
       Zurück im Dorf macht Sayekar in der Teebar auf dem Marktplatz halt. Dort
       sammeln sich zur Mittagszeit die Fischer. Sie bilden einen Spalt, um
       Sayekar an einem der weißen Betontische neben der Teeküche Platz nehmen zu
       lassen. Sayekar wirft das Netz unter den Tisch. Kurz darauf setzt sich ihm
       der Imam des Dorfs zur Seite.
       
       Mansoor Solkar trägt eine weiße Kutte. Er ist ein junger, agiler Mann mit
       Vollbart und spricht sofort auf Sayekar ein: "Tausende stehen bereit, sich
       wie dein Sohn für die Sache zu opfern", sagt er. Der Imam will dem Fischer
       vermitteln, dass andere sein Schicksal teilen. Sayekar scheint das
       gutzutun. Aufrecht sitzend schlürft er süßen Milchtee.
       
       Der Imam spricht zu den Umstehenden: "Wir hatten immer den Verdacht, dass
       die Atomkraft böse ist. Fukushima hat das bewiesen. Deshalb ist es gut,
       dass Gott Fukushima geschehen ließ", sagt Solkar. Der Geistliche leistet
       Überzeugungsarbeit. Er berichtet den Fischern, die es von ihm sicher schon
       öfter gehört haben, wie ihrem Dorf nach dem Atomunfall in Japan
       Unterstützung aus dem ganzen Land zuteilwurde. Hinduisten, Kommunisten,
       linke Studenten, Intellektuelle und Wissenschaftler - alle seien nach
       Sakhri Nate gekommen, um den Fischern die Risiken der Atomkraft samt der
       relativ hohen Gefahr von Erdbeben und Tsunami in ihrer Gegend zu erklären.
       Er erzählt, wie einige Aktivisten aus Mumbai einen Protestmarsch nach
       Sakhri Nate unternahmen, bei dessen Ankunft 50.000 Menschen aus der Gegend
       friedlich demonstrierten. In der Teebar klebt noch ein Anschlag für die
       Demo.
       
       ## "Unser Fisch wird zu Gift"
       
       Bald entbrennt unter den Fischern eine lebhafte Diskussion. Der Imam ist
       ihr Anführer, aber alle wollen ein Wort mitreden. "Vor ein paar Jahren
       hattet ihr alle noch keine Ahnung!", sagt einer. "Ich habe euch schon bei
       dem großen Tsunami von 2004 gesagt, dass das auch für uns gefährlich werden
       kann", sagt ein anderer. Der dritte in der Runde dichtet: "Das Meer nährt
       unseren Bauch und der Bauch unsere Existenz. Wir dürfen das Meer nicht
       verseuchen."
       
       Sayekar verfolgt das Gespräch aufmerksam mit. In der Küche daheim fasst er
       seine Gedanken zusammen: "Wir wissen jetzt, dass wir die Fabrik nicht
       brauchen. Unser Fisch wird zu Gift werden. Was den Fischern in Fukushima
       passiert ist, wird auch uns passieren. Unsere Fabrik soll sogar noch größer
       werden als die in Fukushima", sagt Sayekar. Eine konkrete Vorstellung von
       der größten Atomanlage der Welt hat er nicht. Der riesige Bauplatz über
       seinem Dorf wird zwar heute schon mit großen Schildern der AKW-Betreiber
       ausgewiesen und von Einheiten der Elitepolizei bewacht. Doch die
       Bauarbeiten haben noch nicht begonnen.
       
       Neben Sayekar in der Küche sitzt seine 38-jährige Schwägerin Chandbi Sattar
       im langen braungemusterten Sari und hört zu. Wie schon beim Morgengebet
       hält sie den Koran in den Händen. "Wir verstehen doch nichts von Politik",
       entgegnet sie ihrem Schwager. "Ja, wir sind wütend. Mir ist oft, als würde
       Tabrez noch unter uns sitzen.Aber wem können wir unsere Wut zeigen? Auf uns
       hört doch keiner", sagt Sattar.
       
       Sayekar wirkt überrascht. Man kann sich gut vorstellen, dass politische
       Gespräche in seinem Haus, noch dazu zwischen Frau und Mann, eher selten
       vorkommen. Aber die Umstände sind einmalig. Offen wendet sich Sayekar
       seiner Schwägerin zu: "Wir sind uns doch heute im Dorf einiger als je
       zuvor. Wir brauchen die Fabrik nicht. Und deshalb werden wir sie
       verhindern", sagt er. Das klingt, als sei er auf dem Weg, den Tod des Sohns
       zu bewältigen. Inzwischen reichen die Gedanken des Fischers sogar bis
       Fukushima. Für Sayekar hat sich in den letzten drei Monaten mehr geändert
       als in den letzten dreißig Jahren.
       
       27 Jul 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Georg Blume
       
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