# taz.de -- Krankenversorgung auf dem Land: Das Gartower Modell
       
       > Der Hausarzt Reiner Kretschmer pendelt jeden Tag zwischen seiner eigenen
       > Praxis und der angemieteten Filiale. So entgeht der Ort Gartow dem
       > Ärtzemangel.
       
 (IMG) Bild: In den kommenden Jahren werden nach Schätzung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 7.000 Ärzte fehlen.
       
       GARTOW taz | Die Schlange reicht weit bis vor die Tür. Es ist Montagmorgen,
       zehn vor acht, die Leute warten ungeduldig darauf, dass Reiner Kretschmer
       die Pforten seine Praxis öffnet. Reiner Kretschmer ist Arzt. Er betreibt
       eine Praxis in Gartow im niedersächsischen Wendland - die einzige im
       Umkreis von 40 Kilometern.
       
       Der kleine, drahtige Mann in Jeans und grauem Poloshirt könnte der Prototyp
       sein, den Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) im Blick hatte, als er
       kürzlich das "Versorgungsstrukturgesetz" vorstellte: Kretschmer ist
       Landarzt und bald im Ruhestand. Er wird im Oktober 63, in zwei Jahren will
       er in Rente gehen.
       
       Trotzdem verkörpert der Allgemeinmediziner nicht nur das "Problem", das das
       Gesetz lösen soll: Ärztemangel "in der Fläche", wie Minister Bahr das
       nennt. Junge Fachkräfte zieht es nämlich eher in die Städte. Reiner
       Kretschmer ist auch eine "Lösung", zumindest für Gartow.
       
       Denn Reiner Kretschmer gehört eigentlich gar nicht in diese "Samtgemeinde"
       (von "Gesamtgemeinde"), einen Verbund, zu dem Orte zählen wie Gorleben,
       Schnackenburg und Prezelle. Der Arzt hat in Schweskau, einem Dorf dreißig
       Kilometer weiter weg, noch eine weitere Praxis, seine "richtige". Die
       betreibt er seit zwanzig Jahren, zusammen mit zwei Kollegen. Die Räume in
       Gartow sind eine Art Filiale.
       
       ## Fast die Hälfte der Einwohner ist über 60
       
       Vor zwei Jahren ist der Arzt in der Samtgemeinde, in dessen Praxis Reiner
       Kretschmer jetzt jeden Vormittag arbeitet, überraschend gestorben. Die Not
       war groß. Von den rund 3.720 Einwohnern in Gartow ist fast die Hälfte über
       60 Jahre alt und hat chronische Leiden: Herz-Kreislauf, Bluthochdruck,
       Diabetes, Ischias, offene Beine. Nach dem Tod des Arztes mussten die
       Patienten plötzlich weit fahren - nach Lüchow, nach Dannenberg, nach
       Salzwedel. Oder nach Schweskau zu Reiner Kretschmer.
       
       "Für die meisten ist der Weg beschwerlich", sagt der Allgemeinmediziner:
       "Manche haben gar kein Auto, einige nicht mal einen Führerschein." So
       verkaufte der Apotheker in Gartow zwischenzeitlich verschreibungspflichtige
       Arzneien auch mal ohne Rezept. Und die Praxis in Lemgow platzte aus allen
       Nähten. Kein Zustand, schon gar nicht für die Kranken.
       
       Wie löst man das Problem? Kretschmer hatte eine schlichte Idee: Ich nutze
       die Praxis in Gartow. Seit 2007 dürfen Ärzte sogenannte Zweigpraxen
       betreiben. Bedingung: Die "Versorgung der Versicherten an den weiteren
       Orten muss verbessert und die ordnungsgemäße Versorgung der Versicherten am
       Ort des Vertragsarztsitzes darf nicht beeinträchtigt werden", heißt es dazu
       im Gesetz. Der Lemgower Arzt mietete die Gartower Räume von der
       Gemeindeverwaltung, renovierte sie und brachte die Technik auf den neuesten
       Stand.
       
       ## 87 Behandlungen am Ende des Vormittags
       
       Punkt acht Uhr. Reiner Kretschmer ruft die ersten Patienten auf. Eine alte
       Dame humpelt ins linke Sprechzimmer, ein Mann in Arbeitsmontur setzt sich
       in dem Raum daneben auf eine Liege. Der Arzt hat wenige Minuten für jeden.
       Tür auf, Tür zu, der Nächste bitte. So geht das bis halb eins, obwohl nur
       bis zwölf Sprechstunde ist. Am Ende des Vormittags wird Reiner Kretschmer
       87 Frauen und Männer behandelt haben: Verbände gewechselt, Blutdruck
       gemessen, Überweisungen geschrieben, Rezepte ausgestellt.
       
       Nebenbei hat er einen Kaffee getrunken und einen Keks gegessen. Um eins
       schließt die Schwester die Tür ab, und Kretschmer läuft um die Ecke ins
       Altenheim. Dort schaut er zweimal in der Woche vorbei. Danach will er noch
       zwei Hausbesuche machen. Anschließend geht es zurück nach Lemgow, in die
       "Stammpraxis".
       
       An der Rezeption in Gartow steht ein Schild: "Überweisungen und Rezepte
       bitte einen Tag vor Abholung bestellen. Das spart Wartezeit." Manche
       Patienten müssen sich trotzdem gedulden, mitunter bis zu zwei Stunden. Auch
       "Bestellte" planen immer mehr Zeit ein. Aber niemand beklagt sich. "Die
       Menschen sind dankbar", sagt Reiner Kretschmer, "dass es im Ort überhaupt
       einen Arzt gibt." Ein zweiter Allgemeinmediziner, Jürgen Severin, ist vor
       einem Jahr in Rente gegangen. Jetzt behandelt er "nach Vereinbarung"
       Privatpatienten.
       
       Hugo Hager dreht seine rechte Hand hin und her. Neulich hat er sich an
       einer scharfen Metallkante zwei Finger bis auf die Knochen aufgeschlitzt.
       "Ich hab geblutet wie ein Schwein", sagt er. Er ist 69 und wohnt in Kapern,
       wenige Kilometer von Gartow entfernt. Mit seiner offenen Wunde raste er in
       die Notaufnahme der Elbe-Jeetzel-Klinik nach Dannenberg. Als bluttropfender
       Notfall, sagt er, wäre er beim Hausarzt Reiner Kretschmer nicht richtig
       gewesen. "Aber sonst gehe ich mit allen meinen Problemen zu ihm", sagt der
       Rentner. Selbst den Verdacht auf Hautkrebs hat er mit dem
       Allgemeinmediziner besprochen.
       
       Hugo Hager schiebt seinen Strohhut beiseite und deutet auf die roten
       Stellen auf seinem Schädel. Und wenn es im Rücken wieder zieht, setzt er
       sich bei Kretschmer ins Wartezimmer. Hugo Hager sagt: "Wenn ich dann bis
       nach Lüchow müsste, käme ich wahrscheinlich nicht mehr zurück."
       
       Das "Gartower Modell" ist in Niedersachsen einzigartig. "Aber es könnte
       bundesweit Zukunftsmodell werden", glaubt Reiner Kretschmer. Der
       medizinische Fachkräftemangel trifft - bis auf reiche Gegenden wie
       Starnberg, Freiburg, München oder Garmisch-Patenkirchen - fast alle
       ländlichen Regionen in Deutschland.
       
       In den kommenden Jahren werden nach Schätzung der Kassenärztlichen
       Bundesvereinigung 7.000 Ärzte fehlen, 3.600 Stellen auf dem Land könnten
       jetzt sofort besetzt werden. Mit dem "Versorgungsstrukturgesetz" will
       Gesundheitsminister Bahr junge Fachkräfte unter anderem durch finanzielle
       Anreize locken. So sollen Landärzte künftig für jeden Patienten gleich viel
       Geld bekommen. Bislang wurden die Arzthonorare ab einer bestimmten Anzahl
       von behandelten Patienten gekappt. Außerdem soll die sogenannte
       Budgetierung für Arzneimittel wegfallen, Ärzte dürfen dann unbegrenzt
       Pillen und Tropfen verschreiben. Machen sie das jetzt, zahlen sie drauf.
       
       Das Gesetz ist eine gute Idee, findet Reiner Kretschmer: "Anders geht es
       nämlich nicht mehr." Er arbeitet im Grunde jetzt schon so. Das ist "halb
       legal", räumt er ein, aber mit der Kassenärztlichen Vereinigung
       Niedersachsen (KVN) abgesprochen. "Sonst gäbe es diese Gartower Praxis
       nicht."
       
       ## 1.000 Fachkräfte fehlen - vor allem auf dem Land
       
       Bis 2020 werden in Niedersachsen 4.200 Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand
       gehen, prognostiziert die KVN. Dann werden 1.000 Fachkräfte fehlen, vor
       allem auf dem Land. Wenn Reiner Kretschmer und seine ebenfalls ältere
       Kollegin in zwei Jahren in Lemgow in Rente gehen, wird die Praxis dort
       trotzdem nicht verwaisen. Dafür sorgt ein Arzt von Mitte 30, er wird die
       Behandlungsräume übernehmen. Wie hat Kretschmer den geködert?
       
       Andere Kolleginnen und Kollegen geben im Deutschen Ärzteblatt eine Anzeige
       nach der anderen auf, um ihre Landpraxen zu verstärken. Aber sie finden
       einfach niemanden. "Wir hatten Glück", sagt Reiner Kretschmer: "Die Ehefrau
       unseres jungen Kollegen stammt aus dieser Gegend und wollte wieder zurück
       in die Heimat."
       
       Aber es läuft nicht nur übers Geld, sagt Kretschmer: "Da muss mehr
       passieren." Die Gemeinden müssen Wohnraum anbieten und vielleicht fertige
       Praxen. Ohne ein soziales Umfeld für Familien wird es nicht mehr gehen,
       auch nicht ohne Kitaplätze und ebenso wenig ohne Verdienstgarantien.
       Zwischen 80.000 und 100.000 Euro Jahresbrutto sollten für jeden Landarzt
       schon drin sein, meint er.
       
       Im Frühsommer hat die Gemeinde ein Plakat in alle Schaufenster der einzigen
       Hauptstraße gehängt: "Arzt gesucht. Praxis sofort zu vergeben." Ein
       Hilferuf, wie Bürgermeister Hans-Udo Maury (CDU) meint. Die TV-Talkrunde
       "Hart aber fair" hat darüber berichtet, auch manche Lokalzeitung, selbst
       bei Facebook wurde gepostet. Ergebnis: ein einziger Bewerber.
       
       Jan Geldmacher kommt aus Emmendingen in der Nähe von Freiburg in
       Baden-Württemberg, ist Arzt für Inneres, hat im Krankenhaus gearbeitet,
       eine eigene Praxis betrieben und war Vorstandsvorsitzender einer
       Kassenärztlichen Vereinigung. Am 7. September will der Zulassungsausschuss
       der KVN beraten, ob Jan Geldmacher in Gartow eine Hausarztpraxis aufmachen
       darf. Räume hat er schon gefunden, auch einen Architekten, der aus der
       alten Post Behandlungszimmer machen soll. Jan Geldmacher hat bislang keinen
       Konkurrenten. "Das wird ein harter Job", sagt er: "Aber auch ein
       dankbarer."
       
       Wird Jan Geldmacher das Gartower Arztproblem tatsächlich lösen? Er will
       "ein paar Jahre" praktizieren, sagt er. Er ist jetzt 65.
       
       18 Aug 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simone Schmollack
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Medizinische Versorgung in Niedersachsen: Nachwuchssorgen auf dem Land
       
       Niedersachsen gehen Hausärzte und Apotheken aus. Das Land will Ärzte jetzt
       mit zwei Millionen Euro fördern, aber letztlich bleibt das Problem an den
       Kommunen hängen.
       
 (DIR) Ärztemangel: Land sucht Arzt
       
       Ländliche Regionen Brandenburgs ringen um Mediziner. Junge Ärzte sollen nun
       mit Anreizen für Bildung und Kultur begeistert und aus Berlin weggelockt
       werden.
       
 (DIR) Die AOK kritisiert niedergelassene Ärzte: Zu wenig Zeit für gesetzlich Versicherte
       
       Niedergelassene Haus- und Fachärzte arbeiten zu wenig für ihr Geld. Das
       kritisiert die AOK in einer neuen Studie. Den Schaden beziffert sie auf
       mehrere Milliarden Euro.
       
 (DIR) Internetsuche nach Medizinern: Schulnoten für die Ärztin um die Ecke
       
       Wer einen guten Doktor in seiner Umgebung sucht, kann jetzt unter zwei
       großen Arztbewertungsportalen wählen. Hier kann man auch nach Spezialisten
       fahnden.
       
 (DIR) Kommentar Landärztemangel: Placebo mit Nebenwirkungen
       
       Der Vorstoß des Gesundheitsministers ist erneut saubere Klientelpolitik:
       Die ohnehin schon gut verdienenden Ärzte bekommen noch mehr Geld.
       
 (DIR) Rösler stellt Landärztegesetz vor: Trostpflaster für Provinzmediziner
       
       Die Bundesregierung will mehr Ärzte in dünn besiedelte Regionen locken. Die
       Menschen sollen "einen Arzt in ihrer Nähe finden", sagt Gesundheitsminister
       Rösler.