# taz.de -- Krise in Belgien: Ultimativer Anlauf zur Kabinettsbildung
       
       > Seit über einem Jahr ohne ordentliche Regierung, verhandeln Flamen und
       > Wallonen erneut über eine Koalition. Einer der Knackpunkte: ein
       > umstrittener Wahlkreis.
       
 (IMG) Bild: Hat seinen letzten Kompromissvorschlag für eine gemeinsame Regierung vorgelegt: der französischsprachige Sozialdemokrat Elio di Rupo.
       
       BRÜSSEL taz | In der belgischen Hauptstadt Brüssel haben gestern die
       entscheidenden Gespräche zur Regierungsbildung zwischen den flämischen und
       frankophonen Parteien begonnen. Der französischsprachige Sozialdemokrat
       Elio Di Rupo, der Premierminister werden soll, hat seinen letzten
       Kompromissvorschlag auf den Tisch gelegt. Nur wenn sich die beteiligten
       acht Parteien diesmal einig werden, gibt es noch Hoffnung auf eine neue
       Koalition in Brüssel. Andernfalls werden die Belgier in den kommenden
       Monaten für Neuwahlen zu den Urnen gerufen.
       
       Bereits seit Juni 2010 hat das Land keine ordentliche Regierung mehr. Die
       Geschäfte werden von der vorherigen Koalition geführt. Jetzt geht es um
       alles: Flamen und Frankophone müssen vor allem Einigkeit über den
       umstrittenen Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde erzielen. In diesem
       Wahlkreis, der auf flämischem Gebiet liegt, haben die frankophonen Bewohner
       gewisse Privilegien. Sie dürfen frankophone Parteien wählen. Die Flamen
       wollen diese Ausnahmeregeln seit Jahren abschaffen. Nun gibt es dafür
       erstmals auch von frankophoner Seite Zustimmung, jedoch unter bestimmten
       Bedingungen, über die noch verhandelt werden muss.
       
       Belgien braucht dringend eine neue voll funktionstüchtige Regierung. Denn
       die Probleme werden immer dringlicher. "Das Land befindet sich in einem
       gefährlichen Zustand", sagt Paul Lootens, Generalsekretär der Gewerkschaft
       FTGB. "Dafür bezahlen letztendlich diejenigen, die am dringendsten Hilfe
       benötigen." Viele soziale Einrichtungen bekommen seit Anfang des Jahres ihr
       Geld nur noch monatlich zugeteilt, weil dem Land ein ordentlicher Haushalt
       fehlt und die Regierung keine neuen Ausgaben beschließen darf. "Sie
       bekommen die gleiche Summe wie im Vorjahr. Mit der Inflation bedeutet das,
       dass effektiv weniger Geld zur Verfügung steht. Außerdem bleiben
       Gesetzesvorschläge wie der zur Anhebung des Arbeitslosengeldes in der
       Schulblade", beklagt der Gewerkschaftler.
       
       ## Finanzpolitische Katastrophe verhindert
       
       Probleme gibt es in Krankenhäusern genauso wie in Suppenküchen und
       öffentlichen Verwaltungen. Die kommunalen Sozialzentren CPAS, die sich um
       die Verteilung von Sozialwohnungen kümmern, klagen ebenfalls über fehlende
       Mittel. Das Zentrum in Antwerpen musste im vergangenen Dezember einen
       Kredit aufnehmen, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. "Zu behaupten,
       dass das Land auch ohne Regierung funktioniert, ist absolut
       unverantwortlich", sagt Lootens. Nun steht die Ausarbeitung des Haushalts
       für 2012 an und niemand weiß, wer dafür zuständig sein soll.
       
       Immerhin die große finanzpolitische Katastrophe konnte Belgien bisher
       verhindern. Trotz der politischen Instabilität hat sich das Land
       erfolgreich gegen Angriffe von Hedgefonds und Spekulanten gewährt und auch
       sein AAA-Rating nicht verloren. Damit das so bleibt, hat die Regierung in
       Brüssel mit Frankreich, Italien und Spanien die sogenannten Leerverkäufe im
       Land verboten, bei denen Investoren auf den Zusammenbruch von
       Staatsfinanzen spekulieren.
       
       Ob sich die frankophonen und flämischen Parteien in Brüssel endlich einig
       werden und der Unsicherheit ein Ende bereiten, ist fraglich. Da sie die
       nationalistische flämische Partei N-VA von den Verhandlungen ausgeschlossen
       haben, müssen sich alle acht anderen - von Christdemokraten über Grüne bis
       hin zu den Sozialisten - einigen, damit eine mehrheitsfähige Koalition
       zustande kommt.
       
       Unterdessen reist der geschäftsführende Premier Yves Leterme durch den
       Nahen Osten. Es gab, so verlautet aus den Delegationskreisen, vor allem auf
       israelischer Seite großes Interesse an der belgischen Situation. Die
       scheint die dortigen Politiker bei allen Unterschieden auch an ihren
       eigenen Konflikt zu erinnern. Der flämische Christdemokrat Leterme lässt
       sich dadurch genauso wenig beeindrucken wie durch die chaotischen
       Verhandlungen zu Hause: Er genießt es, dass er dank der Uneinigkeit seiner
       Kollegen ein Jahr länger die Staatsgeschäfte leiten darf.
       
       6 Sep 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ruth Reichstein
       
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