# taz.de -- US-Soziologin über Occupy-Bewegung: "Niemand will Arbeiterklasse sein"
> Die neue Protestbewegung ist ein Mittelschichtphänomen. Noch. Die
> US-Soziologin Frances Fox Piven über echte Armut, alte und neue
> Feindbilder und innovative Strategien des Protests.
(IMG) Bild: "Die extreme Ungleichheit in den USA wächst seit mehr als 30 Jahren."
taz: Frau Fox Piven, Sie schreiben schon lange, dass die USA politisches
Engagement und eine Mobilisierung der Armen brauchen. Ist das der Moment,
auf den Sie gewartet haben?
Frances Fox Piven: Es ist auf jeden Fall der Moment des Protests von sehr
großen Teilen der Bevölkerung. Aber es ist noch unklar, ob die 50 Millionen
Armen in den USA mitmachen werden. Bislang sind sie zwar einbezogen, aber
spielen keine herausragende Rolle.
Wovon hängt das ab?
Der Widerstand gegen Zwangsvollstreckungen könnte die Aufmerksamkeit auf
jene lenken, denen es am schlechtesten geht. Ich hoffe, dies gelingt.
Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Proteste die Sprache vergangener
Jahrzehnte wiederholen. Die Mittelschicht stand im Zentrum, und die Armen
wurden weiter marginalisiert.
Warum ist die Mittelschicht und ihr "amerikanischer Traum" so zentral?
Wir sind eine sehr verbraucherorientierte Gesellschaft. Die Zugehörigkeit
zur Mittelschicht geht einher mit einem hohen Konsumniveau. Die Leute
imitieren die Wohlhabenden in ihrem Konsumentenverhalten. Das ist in den
USA möglich, weil massenproduzierte Güter relativ billig sein können. Die
USA sehen sich gern als eine sehr mobile Gesellschaft.
Ist diese Mobilität nicht real?
Es gehört zum kulturellen amerikanischen Mythos, dass Leute als Hausierer
beginnen und als Eigentümer von Handelsketten enden. Tatsächlich gibt es
bei uns heute keine größere vertikale Mobilität als in den wohlhabenden
europäischen Gesellschaften. Und auch in der Vergangenheit sind in den USA
nur wenige tatsächlich die Leiter nach oben gestiegen.
Die Occupy-Bewegung spricht von sich selbst als den "99 %". Das
signalisiert Offenheit nach fast allen Seiten. Birgt es auch die Gefahr der
Verwässerung?
Es gibt ein gewisses Risiko, und der Slogan ist auch nicht ganz akkurat.
Denn tatsächlich ist es den "Top 10 Prozent" sehr gut ergangen. Aber mich
beunruhigt mehr, dass die Unbekümmertheit und sprachliche
Aufgeschlossenheit von jenen ablenken könnte, die am stärksten leiden.
Andererseits ermöglicht der Slogan, die Hand nach allen möglichen
Unterstützern auszustrecken. Nach Leuten, die nur ein mittleres Einkommen
haben oder weniger und die sich selbst mit den 99 Prozent identifizieren
können. In den USA will niemand Arbeiterklasse sein.
Schließt der Slogan "Wir sind die 99 %" auch die Mitglieder der rechten Tea
Party ein?
Auf der Liberty Plaza (Zuccotti Park) in New York sind mehrfach
Tea-Party-Leute aufgekreuzt. Aber ihnen geht es definitiv besser als den
durchschnittlichen amerikanischen Familien.
Sie sehen keine Parallelen zwischen Tea Party und Occupy-Bewegung?
Die Bewegungen sind sehr unterschiedlich: demografisch, ökonomisch wie
kulturell. Tea Party-Leute sind weiß, älter und in der Regel Eigentümer
ihres Hauses. Die meisten wuchsen in einer Zeit auf, als die USA sich als
weiße Nation verstanden und die US-Flagge über weiten Teilen der Welt
flatterte. Diese Leute sind ängstlich. Aber ihre Ängste sind nicht
wirtschaftlicher Natur.
Die Protagonisten der Occupy-Bewegung sind zur Zeit des Mauerfalls und des
Zusammenbruchs der Sowjetunion zur Welt gekommen. Ergibt das Verschwinden
des alten Feindbildes neue Freiheiten in den USA?
Jetzt haben wir dafür Terroristen, die unter jedem U-Bahn-Sitz lauern. Nach
9/11 haben die Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen in den USA enorm
zugenommen. Sie werden jetzt dafür eingesetzt, Proteste zu überwachen.
Die Occupy-Bewegung reagiert auf ökonomische und soziale Ungleichheiten,
die seit Jahren existieren.
Die extreme Ungleichheit in den USA wächst seit mehr als 30 Jahren. Aber im
ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz beschleunigt.
Die Armut hat stärker zugenommen. Dann kam die Rezession dazu, die in
Wirklichkeit mit einer finanziellen Panik begann. Als Erstes hat Wall
Street ein großes Rettungspaket verlangt - und bekommen. Als Zweites begann
eine Austeritätspolitik sowie die Konzentration auf die Schulden. Dann
stellten die Leute fest, dass die Steuern für Unternehmen und insbesondere
für finanzielle Transaktionen in den vergangenen 40 Jahren kontinuierlich
gesunken sind.
Wieso ist die Protestbewegung gerade in diesem Herbst entstanden?
Schwer zu sagen. Aber für mich wäre es noch überraschender gewesen, wenn
nichts passiert wäre. Alle Zeichen stehen auf Sturm: Auf der einen Seite
wächst das wirtschaftliche Elend. Eine unglaubliche Anzahl von Häusern
stehen "under water" [haben einen geringeren Marktwert als die Hypotheken,
die auf ihnen lasten, d. Red.]. Die mittleren Löhne sinken. Und die
Arbeitslosigkeit rangiert in zweistelliger Größenordnung. Andererseits
haben die Banken ihre Verluste vom Anfang der Finanzkrise nicht nur
ausgeglichen, sondern sie machen jede Menge Profit. Das ist Elend,
kombiniert mit der Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Elends. Es kommt
hinzu, dass die Leute auf eine bestimmte Gruppe weisen können, die
verantwortlich ist und sowohl die Wirtschaft als auch das politische System
bestimmt.
Welche Rolle spielt die Präsidentschaft von Barack Obama bei der Genese der
Proteste?
Wenn überhaupt, dann hat Obamas Präsidentschaft das Ausbrechen der Proteste
verzögert. Die Leute haben sehr viel von ihm erwartet. Doch er erwies sich
als ein Politiker, der sehr schnell dem Druck nachgegeben hat. Und der
teilweise diesen Druck sogar selbst erzeugt hat, indem er sich mit
Republikanern und mit Clintonites umgab, deren Orientierung nichts mit den
Versprechen seiner Kampagne zu tun hat. Obama war eine Enttäuschung.
Insbesondere für junge Leute. Und für Minderheiten.
Wie stark haben die Proteste von Ägypten bis Spanien die Occupy-Bewegung in
den USA beeinflusst?
Protestbewegungen in verschiedenen Nationen haben sich immer gegenseitig
beeinflusst. Schauen Sie sich 1968 an: Das gab es weltweit. Aber ich denke,
es hätte in den USA auch ohne Tunesien und ohne Ägypten Proteste gegeben.
Was Tunesien und Ägypten hingegen beeinflusst haben, ist die Strategie der
Proteste. Platzbesetzungen sind eine gute Neuerung bei Protesten. Es ist
einfach für die Obrigkeit, eine Demonstration oder eine Kundgebung
auszusitzen. Aber es ist schwer, eine Besetzung auszusitzen.
Würden Sie diese Bewegung revolutionär nennen, wie manche Besetzer
behaupten?
Sie wollen nicht zu den Waffen greifen oder Barrikaden bauen, sondern die
Gesellschaft total umgestalten. Viele Protestbewegungen denken an eine
Umgestaltung und bekommen Reformen. Wie umfassend die Umgestaltung wird,
hängt davon ab, wie die amerikanischen Eliten auf diese Bewegung antworten.
Und das ist extrem schwer vorherzusagen. Die amerikanische Oberschicht ist
so individualistisch geworden, so unzusammenhängend und zersplittert. Es
scheint, als würde sie nicht einmal mehr dafür sorgen wollen, die
Institutionen zu reproduzieren, die sie zu der Führungsschicht gemacht
haben. Es ist unglaublich, dass man Schulen und Lehrer mit enormen
Haushaltskürzungen attackiert. Eine Führungsschicht, die auf ein langes
Leben für sich, ihre Kinder und Enkel in diesem Land hofft, würde nicht so
kurzsichtig und räuberisch sein.
Wie ordnen Sie die Bewegung ideologisch ein?
Als radikale Demokraten und Postanarchisten. Sie praktizieren direkte
Demokratie. Das ist langwierig und mühsam. Aber sie tun es. Daraus kann
ganz gewiss nur Gutes entstehen. Ich schätze das sehr. Auch wenn ich selbst
nicht diesen Weg wählen würde, weil ich ihn schwierig und frustrierend
finde.
Wird der Winter die Besetzungen beenden?
Die Bewegung muss ihre Taktiken ändern.
Wie lange kann sie durchhalten?
Die Bürgerrechtsbewegung hat 14 bis 15 Jahre gedauert. Die
Arbeiterbewegung, die sich 1933/ 34 explosionsartig ausbreitete, hat
ebenfalls rund ein Dutzend Jahre angehalten. Bewegungen haben eine
Lebenszeit. Zum Teil, weil Leute etwas von dem bekommen, was sie verlangen,
und zum Teil, weil die Energie, die eine Bewegung erfüllt, schrumpft. Wenn
wir diese Bewegung zehn oder zwölf Jahre hätten, wäre das ein Segen.
Im November 2012 wählen die USA einen neuen Präsidenten. Welchen Einfluss
werden die "99 %" haben?
Wahlen sind Propagandaschlachten. Sie hängen von Kampagnen-Beiträgen ab.
Und von allen möglichen Scharaden. Aber diese Bewegung hat schon jetzt die
Debatte verschoben. Das Hauptthema ist jetzt die wirtschaftliche
Ungleichheit. Das ist eine echte Leistung.
Ist die Occupy-Bewegung eine Unterstützung oder eine Bedrohung für Barack
Obama?
Beides. Obama muss sich nach links bewegen. Um seine Kernwählerschaft zu
halten. Und das wird wiederum viel Skepsis gegen ihn auslösen. Die Bilanz
ist vermutlich eher positiv für ihn. Aber es ist heikel. Und ich bin
sicher, er wäre froh, würde das alles aufhören.
31 Oct 2011
## AUTOREN
(DIR) Dorothea Hahn
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