# taz.de -- Geschäftsführende Piratin Marina Weisband: Eine, die alle lieben
       
       > Sie sagt, sie sei ein Kind des Internets. Insofern ist sie bei den
       > Piraten richtig. Aber Prinzessin Lillifee mögen? Marina Weisband rockt
       > die erstarrten Politprofis.
       
 (IMG) Bild: Vollkommen ungezwungen: Marina Weisband tickt anders als andere Politikerinnen.
       
       Die Tür geht auf. Die Show beginnt. Marina Weisband hat sich für das
       Wallende entschieden: Ein knöchellanger, bordeauxroter Stufenrock. Langes
       offenes Haar. Sie führt ins Wohnzimmer und sinkt aufs Sofa. Der Blick fällt
       auf ein blasses Dekolleté mit einem dezenten Davidstern. Sie sagt: "Die
       Politik muss wieder lebendig werden." Dann beißt sie beherzt in einen
       Germknödel, den sie mit rosa Zuckerstreuseln verziert und hübsch neben den
       Salzstangen angerichtet hat.
       
       Marina Weisband ist ein Exot im Metier der Zweckmäßigkeit. Die
       Geschäftsführerin der Piratenpartei empfängt nicht als Politikerin. Sie
       führt als schillernde Lady in ihr geheimes Reich. Jede ihrer dramatischen
       Gesten, jedes Detail in ihrer aufgeräumten Münsteraner Wohnung stimmt.
       
       Hier die sorgsam arrangierten Zimmerpflanzen, da die Billy-Regale Marke
       Buchefurnier voller russischer Romane und Fantasyschmöker. Zarte
       Bleistiftzeichnungen aus eigener Produktion. Ein sepiabraunes Bild mit dem
       Freund, beide als Tangotänzer.
       
       Marina Weisband sagt, sie sei ein Kind des Internets, sie sei mit
       Rollenspielen aufgewachsen. Sie erzählt gern, wie sie Theater spielt. Wie
       sie singt, dichtet, und russische Barden von Wladimir Wyssozki bis Bulat
       Okudschawa übersetzt, denn sie ist ein Kind russischer Einwanderer, sie
       kennt sich in vielen Welten aus.
       
       All das wiederholt ihre Botschaft vom biederen und versponnenen Mädchen,
       das aus der Fremde kam, das voller Überschwang ist und voller Unsicherheit.
       Marina Weisband trägt das Herz auf der Zunge. Es ist ihr auch nichts
       peinlich - Hauptsache, der verknöcherte Politikstil, wie wir ihn alle
       kennen, kommt mal so richtig durcheinander.
       
       Marina Weisband wurde 1987 geboren, als Tochter eines Informatikers und
       einer Ökonomin in Kiew. "Meine Familie gehörte zur verarmten jüdischen
       Intelligenz", erinnert sie sich. Marina Weisband musste mit Büchern auf dem
       Kopf balancieren, und schon mit zwei, sagt sie, hatte sie eine
       hochliterarische Sprache. Als sie sechs war, gingen die Eltern nach
       Deutschland.
       
       Natürlich konnten sie nie an das anschließen, was sie in der Sowjetunion
       hatten. Marina Weisband erzählt: "Ich war ein kränkliches Kind. Ich sprach
       kein Wort Deutsch, als ich eingeschult wurde." Und dann, erzählt sie, die
       Teenagerzeit. Sie musste sich vor allem um ihren jüngeren Bruder kümmern,
       der immer in der Schule einschlief und nicht mehr aufzuwecken war. Später
       wurde bei ihm das Asperger-Syndrom diagnostiziert.
       
       ## Kein Interesse für Politik
       
       Heute ist Marina Weisband 24 und studiert in Münster Psychologie. Für
       Politik interessierte sie sich nie, sagt sie. Aber dann wurde sie zu einem
       Stammtisch der Piratenpartei geschleppt. "Ich fühlte mich sofort
       aufgehoben", schmunzelt sie und greift zu ihrem Tee. Der tiefere Grund,
       warum sie sich geborgen fühlte?
       
       Marina Weisband hat ihn bereits geliefert: Das war im Oktober, als sie mit
       dem Parteivorsitzenden Sebastian Nerz und Berliner Fraktionschef Andreas
       Baum auf der Bundespressekonferenz der Piratenpartei auftrat. Marina
       Weisbands Haar war zu einer aufwendigen Zopffrisur geflochten, wie Julia
       Timoschenko, das Gesicht der ukrainischen Revolution.
       
       Eines der Lieblingsthemen von Marina Weisband ist Bildungspolitik. Ihre
       Diplomarbeit wird sie übers Wertesystem ukrainischer Schulkinder schreiben.
       Demnächst ist sie bei einem Wuppertaler Elternverein eingeladen, sie wird
       darüber sprechen, warum viele Migranten viel zu wenig wissen übers deutsche
       Schulsystem.
       
       Es ergibt also Sinn, dass Marina Weisband immer wieder betont, alle Ideen
       der Piratenpartei - Transparenz, Freiheit, Grundrechte - würden sich von
       einem Kerngedanken herleiten. "Jeder Mensch ist mündig, wenn man ihn
       informiert." Man könnte es auch popkulturell, in der Sprache von Punk
       sagen: Jeder darf Musik machen, wenn er will. Und wenn er weiß, wo man sich
       eine Gitarre borgen kann.
       
       Es war eine der schönsten Nebenwirkungen von Punk, dass er so vielen Frauen
       erlaubte, zu Gitarren zu greifen. Die kurze Geschichte der Marina Weisband
       ist auch eine Geschichte von sozialer Durchlässigkeit.
       
       ## Kein Viehzählen
       
       Damals, als Marina Weisband ihren großen Auftritt auf der
       Bundespressekonferenz hatte, da hieß es überall: Die Piratenpartei kümmert
       sich nicht um Frauen. Gegründet von einer Horde Hackern, sei die Partei bis
       heute dominiert von Männern um die dreißig mit gutbürgerlichem Hintergrund,
       die sich trotzdem frech weigern, eine Frauenquote einzuführen. Auch Marina
       Weisband sagt dazu, was die meisten Piraten sagen. "Ich bin Feministin,
       aber ich bin dagegen, Frauen zu diskriminieren, indem man sie wie Vieh
       zählt."
       
       Seither ist viel darüber nachgedacht worden, warum junge Frauen um die
       Zwanzig sich nicht für gläserne Decken interessieren, nur, weil sie selbst
       noch an keine gestoßen sind - und was das aussagt über den Zustand unserer
       Gesellschaft, dass jeder nur an sich selbst denkt und dabei keine
       Konfrontationen wagt.
       
       Wer Marina Weisband studiert, der könnte auch über anderes nachdenken. Zum
       Beispiel darüber, warum sie so viel Applaus von ihrer Partei bekommt.
       
       ## Nur nach außen hin ein Punk
       
       Einmal, sagt Marina Weisband, habe sie einen Bundesparteitag der Piraten
       unterbrochen. Sie zeigte eine Folge von "My little Pony" - eine
       US-amerikanische Fernsehserie für kleine Mädchen, in der rosa Pferde über
       ernste Themen wie Freundschaft diskutieren. Ihre Kollegen fanden das klug.
       
       "Marina Weisband agiert nur nach außen wie ein Punk. In Wahrheit hält sie
       den Laden zusammen", sagt etwa Stephan Urbach, seit Mittwoch Referent der
       Piratenpartei für Wissens- und Informationsmanagement im Berliner
       Abgeordnetenhaus.
       
       Er bewundert, wie sie es schafft, mit allen zu sprechen, und dabei immer
       freundlich zu bleiben. "Sie ist eine Friedensstifterin", sagt auch
       Sebastian Knorr, ein alter Kollege von den Piraten in Münster, und erzählt
       von den Nerds in seiner Partei, den Datenschützern, den Krawallmachern und
       Aluhüten, wie sie sich selbst nennen. Es ist ein Kunststück, solche Leute
       zu integrieren, meint er.
       
       Alle lieben Marina Weisband. Manche nennen sie "die nächste Kanzlerin"
       oder, was sie noch lieber mag, "die Prinzessin". Man kann es ihr nicht
       verdenken, dass sie auf dem Höhenflug ist. Auf dem Sofa in ihrer Wohnung
       plaudert sie klug, amüsant und ein wenig überdreht von Tschernobyl und
       Barbie, von frühkindlicher Erziehung und J. R. R. Tolkien. Dabei schaut sie
       nervös auf ihr Handy, checkt neue Nachrichten und Tweets, manche liest sie
       vor. Mal wirkt sie dabei aufgekratzt, mal seufzt sie ehrlich erschöpft.
       Einmal sagt sie, dass sie große Angst hat.
       
       Doch da kommt ihr Freund nach Hause. Markus Rosenfeldt, ein Zweimetermann
       mit Ahab-Bart, ist Buchhändler und studiert Geschichte. Während seine
       Freundin im Nebenzimmer ein Telefonat erledigt, ringt er um Erklärungen. Er
       will sagen, warum ihn die frühneuzeitliche Geschichtsschreibung
       interessiert, er will sagen, warum er Mitglied der Piratenpartei geworden
       ist.
       
       Doch da kommt sie auch schon zurück und er muss wieder los, zu einer
       Verabredung. Marina Weisband, die zarte Empfindsame, steigt auf einen
       Stuhl, um ihn zu küssen. Dann beschließt sie, ohne ihn etwas essen zu
       gehen.
       
       ## Weisband ist konkurrenzlos
       
       Ihr Ziel, das Bohème Boulette, entpuppt sich als eine Mischung aus
       literarischem Salon der Zwanziger und Absturzkneipe. Marina Weisband wirft
       einen Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie sich malerisch langsam den
       Mantel aufknöpft. Dann bestellt sie sich eine Portion Bratkartoffeln mit
       Cola. Assoziationen stapeln sich auf Assoziationen.
       
       Ein Gedanke an Kate Bush ploppt auf, die Hohepriesterin der exzentrischen
       Kindfrauen im Pop. Ein Gedanke an Thomas Manns "kirgisenäugige" Clawdia
       Chauchat legt sich darüber, die am Mittagstisch durchs Drehen von
       Brotkügelchen und "ähnliche Ungezwungenheiten" auffällt. Und dann gibt es
       da auch noch einen Gedanken an Prinzessin Lillifee. Marina Weisband
       verwirrt.
       
       Aber das ist ja das Schöne, denn Alternativen zum Konzept Weisband gibt es
       zumindest auf dem Feld weiblicher Mainstream-Politik nicht. Renate Künast,
       die Sozialarbeiterin aus dem Knast, wirkt heute strenger als ihre
       strengsten männlichen Kollegen. Sahra Wagenknecht macht auch dann noch ein
       saures Gesicht, wenn das Publikum Beifall klatscht. Und Kristina Schröder,
       die als Kind Helmut Kohl anhimmelte, wartet lieber vergeblich darauf, dass
       die großen Jungs mit ihr spielen, als Frauenpolitik zu machen.
       
       ## Eloquenz und Empathie
       
       Marina Weisband hat mit einer Zopffrisur, rosa Ponys, Eloquenz und Empathie
       viel Rock 'n' Roll in der Politik dieser erstarrten Vollprofis entfesselt.
       
       Am nächsten Mittag übrigens, beim zweiten Treffen mit der jungen
       Politikerin in einem Café, kam ein junger Mann mit Oversize-Brille und
       Jogginghose aus Österreich zum Gespräch dazu. Zur Begrüßung fiel er vor
       Marina Weisband auf die Knie. "Du bist unsere Rettung, Marina!", rief er
       aus. Dann stellte er sich als Christian Windisch, zukünftiger Pirat,
       Nazijäger und Snowboardlehrer mit philippinischen Wurzeln aus der
       Steiermark vor.
       
       Er behauptete, er sei zehn Stunden gefahren, nur, um sie endlich
       kennenzulernen. Dabei wirkte er ein wenig übergeschnappt vor lauter
       Müdigkeit. Und hier nun zeigte sich Marina Weisband von einer Seite, die
       sie bislang verborgen hatte. Geradezu mütterlich griff sie zum Telefon -
       und organisierte erst einmal einen Ort, wo er sich gründlich ausschlafen
       konnte.
       
       18 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Marina Weisband
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Porträt Marina Weisband: Ausatmen und Einatmen
       
       Die frühere Piraten-Geschäftsführerin zog sich zurück, um wiederzukommen.
       Wie sie das tun will, ist unklar. Das Ziel aber steht fest: Die Welt
       retten.
       
 (DIR) Nach Weisbands Rückzugsankündigung: Piraten finden sich feminin genug
       
       Nach dem Rückzug ihrer Geschäftsführerin aus der Parteispitze sieht die
       Partei kein Frauenproblem. Alle Frauen seien aufgerufen, für den neuen
       Vorstand zu kandieren.
       
 (DIR) Weisband verlässt Piratenspitze: Erstmal zu Ende studieren
       
       Der Piratenvorsitzende Nerz bedauert den Abschied von Marina Weisband aus
       der Parteispitze der Piraten. Diese will nun ihr Studium abschließen und
       klagt über häufiges Kranksein.
       
 (DIR) Interview: Frauenmangel bei Piraten: "Barbies müsste man verbieten"
       
       Bei den Piraten gibt es einen großen Männerüberschuss. Zwei Piratinnen
       diskutieren, was man dagegen tun könnte - und ob das überhaupt ein Problem
       ist.