# taz.de -- Dokumentarfilmfestival in Amsterdam: Verbrechen und Strafe
       
       > Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam blickt in die USA. Zu
       > sehen gibt es dort Mörder, Richter, Todeskandidaten und Gefängnispfarrer.
       
 (IMG) Bild: Ein dreifacher Mörder in der Todeszelle: Werner Herzogs "Into the Abyss".
       
       Marc Dreier berät sich mit seinem Anwalt. Die beiden sitzen in Dreiers
       weitläufigem Apartment, durch die großen Fenster schweift der Blick über
       Manhattan. Die Wände sind kahl, Haken zeugen davon, dass hier vor nicht
       allzu langer Zeit noch Bilder hingen. Thema des Gesprächs ist die
       Beschaffenheit des Gefängnisses, in das Dreyer eingeliefert wird: Muss er
       in einen Hochsicherheitstrakt? Kann er in der Nähe von New York bleiben?
       Irgendwann fragt er: "Wie ist denn das Essen?"
       
       Der Anwalt, ein Mann Mitte 50 mit akkurat getrimmtem Vollbart, sucht eine
       Weile nach den richtigen Worten. "Essbar", sagt er schließlich. Dreier
       bleibt beunruhigt: "Wenn ich jeden Tag Hotdogs essen muss … Das kann ich
       einfach nicht."
       
       Dreier ist der Protagonist in Marc H. Simons Dokumentarfilm "Unraveled" (in
       etwa: entwirrt), der zurzeit in Amsterdam beim Internationalen
       Dokumentarfilmfestival zu sehen ist. Zwischen 1998 und 2008 lieh Dreier im
       Namen Dritter und ohne deren Kenntnis insgesamt 400 Millionen Dollar, die
       er in den Aufbau seiner Anwaltskanzlei steckte und außerdem darauf
       verwendete, als enorm reicher Mann aufzutreten. An den leeren Wänden in
       seinem Apartment hingen mehrere Bilder Andy Warhols, eines von Roy
       Lichtenstein, eines von Mark Rothko; seine Jacht war 18 Millionen Dollar
       wert.
       
       Jedes Mal, wenn einer der erschwindelten Kredite fällig war, lieh er neues
       Geld nach derselben Methode. Niemand schöpfte Verdacht, niemand
       kontrollierte, ob die, in deren Namen er agierte, ihm wirklich einen
       Auftrag erteilt hatten. Geschnappt wurde Dreier im Dezember 2008, als er in
       Toronto einen besonders dreisten Deal abschloss. Zwischen seinem
       Schuldeingeständnis und dem Haftantritt bleiben ihm 60 Tage, die er mit
       einer elektronischen Fußfessel und zwei bewaffneten Beamten in seinem
       Apartment verbringen darf; der Regisseur begleitet ihn durch diese Zeit,
       was dem Film eine Countdown-Struktur verleiht.
       
       "Unraveled" mag mit seinem Musikeinsatz und seiner etwas distanzlosen
       Haltung gegenüber der Hauptfigur nerven, bietet aber erstaunlich viele
       Einsichten in das Wesen der Wirtschaftskriminalität, in den überhitzten
       Finanzsektor der Nullerjahre und in die Verfasstheit der US-amerikanischen
       Elite. Er ist bei Weitem nicht der einzige Film in Amsterdam, der sich mit
       Verbechen und Strafe in den USA befasst, aber er ist der Einzige, der sich
       dem White Collar Crime zuwendet.
       
       ## Ungleich verteilte Ressourcen
       
       Alle anderen, über die unterschiedlichen Festivalsektionen verstreuten
       Dokumentationen erkunden eine Kriminalität, die aus Armut, Mangel an
       Bildung und einer über Generationen hinweg eingeübten Gewalttätigkeit
       entspringt. Aus dem Zusammenspiel der Filme ergibt sich das triste Bild
       einer gespaltenen Gesellschaft. Die Ressourcen sind erschreckend ungleich
       verteilt, und es ist nicht abzusehen, dass sich an der Kluft jemals etwas
       ändern wird.
       
       Tief hinein in diese Kluft schaut Steve James' "The Interrupters", eine
       geduldig beobachtende Dokumentation über ein Team von Streetworkern, das
       die eruptive Alltagsgewalt im Süden Chicagos in den Griff zu bekommen
       versucht. Die Männer und Frauen waren selbst Gangmitglieder und
       Drogendealer, das heißt: Sie sprechen die Sprache der Teenager, die aus
       nichtigem Anlass mit Messern aufeinander losgehen. Sie versuchen zu
       deeskalieren, indem sie klarmachen, dass es Alternativen zur Aggression
       gibt: Nicht zuzuschlagen, kann ein Zeichen von Stärke sein.
       
       Zwei andere Filme, "Bayou Blue" von Alix Lambert und David McMahon und
       "Sealed Fates" von JD Leete, blicken auf spektakuläre Mordfälle zurück,
       finden dabei aber weder zu einer Haltung gegenüber ihrem Gegenstand noch zu
       einer klaren filmischen Form; der erste ist nah dran, die in großer Armut
       lebenden, wenig artikulierten Angehörigen der Opfer auszustellen, der
       zweite drangsaliert sein Publikum mit dem Re-Enactment eines Mordes.
       
       Was ein Glück also, dass es Werner Herzog gibt! Sein jüngster Film "Into
       the Abyss" ist einer der Höhepunkte des Amsterdamer Festivals. Im
       Mittelpunkt steht der 28 Jahre alte Michael Perry, der wegen eines
       Dreifachmordes zum Tode verurteilt wurde und im Todestrakt im texanischen
       Huntsville auf seine Hinrichtung wartet.
       
       Wie in "Unraveled" verrinnt die Zeit, nur dass hier am Ende eine
       Giftinjektion statt eines Haftantritts stehen wird. In der ersten Szene des
       Films schweift die Kamera über ein Gräberfeld. Die Kreuze tragen keine
       Namen, nur Nummern und Daten. Am Ende sieht man diesen Friedhof noch
       einmal. Es gibt jetzt ein Kreuz ohne Namen mehr.
       
       ## Ein untrüglicher Blick für Verschrobenes und Irrsinniges
       
       Herzog macht von Anfang an unmissverständlich klar, dass er gegen die
       Todesstrafe ist, aber er sagt dem jungen Mann, der hinter einer Glasscheibe
       sitzt, auch geradeheraus: "Das heißt nicht, dass ich Sie mag." Er spricht
       mit vielen, die in diesen Fall verwickelt sind: mit dem Gefängniskaplan,
       der die zum Tode Verurteilten am Fußgelenk berührt, während ihnen das Gift
       injiziert wird, mit dem Täter und mit dessen Komplizen Jason Burkett, mit
       den Angehörigen sowohl der Opfer als auch der Täter, mit einem
       Vollzugsbeamten, der an über 100 Hinrichtungen mitgewirkt hat, bis er es
       nicht mehr aushielt und kündigte.
       
       Das Besondere an "Into the Abyss" ist, dass alle Interviewpartner an einen
       Punkt gelangen, an dem ihnen - und mit ihnen den Zuschauern - deutlich
       wird, wie sehr sie vom System der Todesstrafe beschädigt werden. Herzog
       gelingt das nicht, weil er sich einschmeichelte, sondern weil er neugierig
       und hartnäckig fragt.
       
       Wie in seinen anderen Dokumentarfilmen hat er einen untrüglichen Blick für
       Verschrobenes und Irrsinniges. Die Ehefrau des zu mehrfach lebenslänglicher
       Haft verurteilten Komplizen etwa hält stolz ihren schwangeren Bauch in die
       Kamera. Die Frau hat Burkett erst nach dessen Haftantritt durch
       Briefwechsel kennengelernt und später geheiratet; sie wird niemals in der
       Situation sein, mit ihrem Mann schlafen zu können, weil immer ein
       Vollzugsbeamter über die seltenen Begegnungen der beiden wachen wird.
       
       Herzog fragt sie, wie sie schwanger wurde. Sie druckst herum, sie will
       darüber nicht sprechen. Herzog: "Es ist also ein Geheimnis." Sie nickt. Er:
       "Aber man kann doch sicherlich sagen, dass in ein Gefängnis hinein allerlei
       geschmuggelt wird, genauso wie aus dem Gefängnis heraus, oder?"
       
       24 Nov 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
 (DIR) Cristina Nord
       
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