# taz.de -- Polnisch-preußische Spurensuche: Das Feindbild bröckelt
       
       > Vor 300 Jahren wurde der Preußenkönig Friedrich II. geboren. Die
       > preußische Geschichte ist Teil unserer Identität, sagt der Pole Grzegorz
       > Podruczny. Er gräbt sie wieder aus.
       
 (IMG) Bild: Historisches Schauspiel: Die Schlacht von Kunersdorf wurde im Jahr 2009 mit Statisten nachgestellt.
       
       KUNOWICE taz | Objekt 219 ist bald gefunden. Eine Musketenkugel, mehr als
       250 Jahre alt. Grzegorz Podrucznys Hand, mit Handschuhen aus derbem
       Wollstrick gegen die Kälte geschützt, hält triumphierend das runde Ding
       hoch, von der Größe einer Murmel etwa.
       
       Mit einer Zahnbürste säubert Podruczny die Kugel von Dreck. Dann fischt er
       in seiner Tasche nach einem Tütchen, in das er die Kugel fallen lässt. Auf
       einen Zettel notiert er die Objektnummer. In sein GPS-Gerät gibt er die
       Positionsdaten seines Funds ein.
       
       "Wer etwas Neues über die Schlacht von Kunersdorf erfahren will, muss nicht
       eine oder hundert, sondern tausend solcher Kugeln finden", sagt Grzegorz
       Podruczny. Der polnische Wissenschaftler hat diese Ausdauer.
       
       Fünf Stunden wird er heute Feldforschung betreiben, fast alleiniger Herr
       über das Schlachtfeld von Kunersdorf, ein Acker am Ortseingang des heutigen
       Kunowice, einem 530-Seelen-Vorort der polnischen Grenzstadt Slubice.
       Abseits stehen neue Einfamilienhäuser, kleine architektonische Scheusale.
       
       ## Mit Spaten und Detektor auf dem Schlachtfeld von Kunersdorf
       
       Andrzej ist eine Art stummer Diener des Schlachtenforschers. Mit
       Militärparka, Mütze und derben Schuhen ausgerüstet, weiß Andrzej als
       ehemaliger Grenzpolizist, wie man mit einem Metalldetektor umgeht. Er ortet
       Fundstellen, markiert sie mit einem Fähnchen.
       
       Dann setzt Andrzej den Spaten an, Podruczny holt Erde aus dem Boden, die
       wiederum mit dem Detektor geprüft wird. Häufchen für Häufchen wird Erde
       aussortiert, bis am Ende Objekt 220 auftaucht, das Stück einer
       Granathaubitze.
       
       "Alte Quellen kennt man doch zur Genüge. Wir wollen etwas Neues machen:
       Schlachtfeldarchäologie. In den USA gibt es das seit dreißig Jahren", sagt
       Grzegorz Podruczny. Der 35-Jährige ist Kunsthistoriker, spezialisiert auf
       Festungsbauten aus friederizianischer Zeit. "Davon gibt es hier ziemlich
       viele", sagt er.
       
       70 Prozent des historischen Preußen liegt heute auf polnischem Gebiet,
       vierzig Prozent der preußischen Bevölkerung sprach Polnisch. Friedrich II.,
       der vorzugsweise Französisch und von der "polnischen Wirtschaft" abfällig
       sprach, war am Verschwinden des polnischen Staates beteiligt. Keine
       Identifikationsfigur für einen Polen. Im Siebenjährigen Krieg 1756 bis 1763
       legte sich Friedrich mit Österreich, Frankreich und Russland an, in
       Kunersdorf erlitt er 1759 seine größte Niederlage.
       
       ## Die Teilungen Polens sind heute noch spürbar
       
       Die Schlacht, bei der Russen und Österreicher die Preußen vernichtend
       geschlagen haben, ist kein Thema für den Polen Podruczny. Für ihn ist
       Friedrich kein Feind, sondern ein Aufklärer. "Die preußische Geschichte ist
       jetzt polnische Geschichte, sie ist Teil unserer Identität. Ich sehe das
       positiv."
       
       Die drei Teilungen Polens - in preußisches, österreichisches und russisches
       Staatsgebiet - seien noch spürbar. Das preußische Polen fühlt westlich,
       denkt europäisch, daran lässt Podruczny kein Zweifel. Die Polen im Westen
       wählen mehrheitlich die liberale Bürgerplattform, nicht die konservative
       Partei PIS.
       
       Mit Detektor und Spaten rücken Grzegorz Podruczny und sein Helfer dem Acker
       zu Leibe. Jeder Fund eine Zigarette für Andrzej, während der Historiker
       seine Objekte im GPS vermerkt. Objekt um Objekt verschwindet in Podrucznys
       Tasche. Eine polnische Münze von 1923, Kartätschenkugeln, ein Teil einer
       Uniform, eine Kugel ist abgeflacht. "Das heißt, damit wurde jemand
       erschossen. Sie ist an etwas abgeprallt."
       
       Einmal haben sie das Skelett eines russischen Grenadiers gefunden. Viel
       blieb nicht übrig von der Schlacht. Das Terrain, wo 60.000 Russen und
       19.000 Österreicher Stellung bezogen hatten, liegt zwischen Wald und
       Sümpfen und muss noch genauer geografisch bestimmt werden.
       
       Die Fundstücke werden nach Warschau geschickt, gemessen, beschrieben und
       inventarisiert. 1.000 Objekte haben sie in den letzten drei Jahren
       gefunden, berichtet Podruczny, auf zehn Jahre sei das Projekt angelegt. Er
       arbeitet für die Mickiewicz-Universität in Posen. "Eine Kugel ist Träger
       vieler Informationen. Sie erzählt mir etwas vom Stress des einfachen
       Soldaten, bisher gab es keine Historiografie von einfachen Menschen. Ein
       Pferd war mehr wert als ein Infanterist."
       
       ## Die eigentliche Schlacht war schnell vorbei
       
       Nach Fundort und Zustand der Kugel lässt sich rekonstruieren, ob an der
       Stelle gekämpft wurde, ein Soldat auf der Flucht war oder er zum
       Zeitvertreib Kugeln als Würfelspiel benutzt hat. Soldatsein bedeutete vor
       allem Kampieren, Exerzieren, Langeweile und Drill; die eigentliche
       Schlacht, in der 6.000 preußische Soldaten starben, war schnell vorüber.
       Podruczny ist sich sicher, dass es hier Massengräber geben muss. Wenn sie
       jemand finden kann, dann er.
       
       "Ziehen Sie sich warm an, Podruczny macht keine halben Sachen", hatte
       Werner Benecke auf den Weg nach Kunowice mitgegeben. Der 300. Geburtstag
       von Friedrich II. werde in Polen keine große Aufmerksamkeit erregen,
       prognostiziert der Historiker von der Viadrina-Universität in Frankfurt,
       Slubices Partnerstadt jenseits der Oder.
       
       Dafür sei Friedrich zu negativ besetzt und auch eng mit der ungeliebten DDR
       verbunden. Er erklärt sich die polnische Abneigung gegen Friedrich und
       Preußen mit der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Schließlich
       habe Friedrich propagiert, man müsse "Polen verspeisen wie eine
       Artischocke". Außerdem sei Friedrich "befremdet gewesen von der enormen
       politischen Selbständigkeit des polnischen Adels". In Preußen hatte der
       Adel dem Staat zu dienen.
       
       Dass nun Interesse an Preußen aufkeimt, schreibt Benecke der jüngeren
       Generation zu, Leuten wie Podruczny. "Sie haben Interesse, eine neue
       Selbstverständlichkeit und einen gewissen Abstand zur Geschichte. Mit
       Preußen ist etwas Regionales gemeint, das Kulturerbe, nicht der Staat."
       
       Benecke und Podruczny arbeiten am Collegium Polonicum in Slubice, einer
       Außenstelle der Posener Mickiewicz-Universität und der Viadrina in
       Frankfurt. Der Neubau streckt sich längs zur Oder, kein Wunder, dass der
       Historiker und Polonist Benecke lieber hier sein Büro bezogen hat. Der
       Ausblick auf den Fluss ist prächtig. Und das Collegium ist mehr als eine
       Außenstelle der beiden Unis, es ist auch Nachbarschaftszentrum. Henryk
       Raczkowski kommt oft hierher, er ist Leiter der deutsch-polnischen
       Seniorenakademie.
       
       ## "Den Feind besser verstehen"
       
       "Unser Ziel war es, die Deutschen besser kennen zu lernen. Und umgekehrt",
       sagt der 80-Jährige mit dicker Brille und Lew-Kopelew-Bart. In
       sozialistischen Zeiten gab es kaum Kontakt über den Fluss. Die Akademie hat
       einen kleinen Raum im Collegium Polonicum.
       
       Raczkowski hat nach dem Krieg Deutsch gelernt, heimlich. "Um den Feind
       besser zu verstehen", erklärt er, der seine Familie durch die Deutschen
       verlor. Friedrich und Preußen sind für ihn kein großes Thema. "Er hat
       dennoch viel Gutes bewirkt, zum Beispiel das Oderbruch trockengelegt."
       
       Auch die deutsch-polnische Seniorenakademie betreibt lokale
       Geschichtsforschung - aber der Fokus ist ein anderer als bei der jüngeren
       Generation, die sich nicht mehr an Faschismus und Kommunismus abarbeitet.
       Raczkowskis Thema ist der Kulturaustausch. Zwei ehemalige Lehrerinnen hat
       er zum Gespräch dazugeholt.
       
       Erwartungsvoll sitzen die Damen da, die Kommunikation stockt.
       Sprachbarrieren. "Wir Slubicer sind keine alteingesessenen Bürger", erklärt
       Raczkowski ihr Interesse für Geschichte. Nach dem Krieg wurden vor allem
       Polen aus dem damaligen Osten Polens im Westteil des Landes angesiedelt,
       "gezielt Leute ohne Tradition", sagt Werner Benecke.
       
       Gemeinsam mit Grzegorz Podruczny hat Benecke 2009 Veranstaltungen zu "250
       Jahre Kunersdorf" organisiert. Teil davon war auch eine Nachstellung der
       Schlacht - und Teil dieses "Reenactments" war Grzegorz Podruczny, der
       Schlachtenforscher. Bei Deutschen stößt diese Passion auf Befremden. Die
       Stadt Frankfurt sagte ihre Beteiligung an dem Programm ab, einigen
       Abgeordneten war das Interesse für Militarismus schlicht suspekt.
       
       "Das Militär ist in Polen viel angesehener als bei uns", sagt Werner
       Benecke. Die Schlachtnachsteller kommen von überall her, "das ist eine
       ganze Bewegung". Vor allem in Osteuropa. "Es gibt eine Sehnsucht nach
       Vergangenheit", erklärt Podruczny das Phänomen. "Ihr Deutschen seid
       pazifistisch, das ist gut so. Ich muss das nicht sein, ich darf preußischer
       Soldat spielen." Aber hat das nicht etwas vom rheinischen Karneval? "Das
       ist kein Karneval", sagt Podruczny ernst, "das ist lebendige Geschichte.
       Und mir hilft das bei der Forschung."
       
       23 Jan 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Seifert
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Auststellung über Friedrich II. und die Knolle: Neues vom Kartoffelkönig
       
       Dass es Friedrich II. war, der die Kartoffel nach Preußen brachte, stimmt
       nicht. Doch das Friedrichjahr ist eine gute Gelegenheit, der Spur von König
       und Knolle nachzugehen.
       
 (DIR) 300 Jahre Friedrich II.: Potsdam, das Fritz-Museum
       
       Friedrich II. und Potsdam gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Kein
       Wunder - der Alte Fritz hat die Stadt nach seinem Ideal aus preußischen,
       italienischen und französischen Stadtansichten entworfen
       
 (DIR) Sachbuchflut zum Friedrich-II-Jubiläum: Menschenschinden und Flötenspiel
       
       Neue Bücher zum 300. Geburtstag Friedrich II. korrigieren das
       Schöngeist-Image. Der Preußenkönig war menschenverachtend, ruhmsüchtig und
       sprach "wie ein Kutscher".
       
 (DIR) 300 Jahre Friedrich II.: Der König und sein Kriegsgericht
       
       Das Todesurteil gegen seinen Freund war der Höhepunkt im Konflikt zwischen
       Kronprinz Friedrich und seinem Vater. Das Köpenicker Schloss stellt den
       Prozess als Gerichtsdrama aus.
       
 (DIR) Der Zloty bleibt: Vorerst kein Euro in Polen
       
       Die Regierung Tusk wollte die europäische Gemeinschaftswährung Anfang 2012
       einführen. Doch das Projekt wurde aufgeschoben. Die Mehrheit der
       Bevölkerung findet das gut.
       
 (DIR) Vor 30 Jahren: Kriegsrecht in Polen: "Wir lassen uns nicht plattmachen"
       
       Als 1981 in Polen der Kriegszustand verhängt wurde, war Piotr Niemiec grade
       in Warschau. Dem Berliner und Studenten in Lodz waren DDR und Polen
       gleichermaßen vertraut.