# taz.de -- Aus "Le Monde diplomatique": Union der Lohndrücker
       
       > Statt Vermögen und Finanzgeschäfte zu besteuern, wird von den unteren
       > Einkommen Lohndisziplin verlangt. Dieses deutsche Modell soll in der
       > ganzen EU Schule machen.
       
 (IMG) Bild: Hartz IV hat die Armut verschärft.
       
       Es war eine Premiere: Im April 2010 verlangte die Troika aus EU-Kommission,
       Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) von
       Griechenland erstmals eine 25-prozentige Lohnkürzung im öffentlichen
       Sektor.
       
       Kurz darauf griff die Troika auf ähnliche Weise in Rumänien ein, dieses Mal
       sogar im privaten Sektor. Im Juni 2010 wurde die Regierung in Bukarest
       angewiesen, „ein reformiertes Arbeitsrecht und eine gesetzliche Regelung
       der Tarifverhandlungen einzuführen, um die Einstellungskosten zu senken und
       die Lohnflexibilität zu verbessern“.(1)
       
       Und im Dezember 2011 forderte die Troika von Griechenland erstmals die
       Kürzung des Mindestlohns für den privaten Sektor. Im Juni desselben Jahres
       hatte die EU-Kommission in Belgien die Aufgabe des Indexlohns (der
       automatischen Inflationsanpassung) angemahnt, weil „die Lohnstückkosten in
       Belgien rascher gestiegen sind als in den Nachbarländern“.(2)
       
       Griechenland, Rumänien, Belgien – offensichtlich rückt die EU die
       Lohnentwicklung immer stärker ins Zentrum ihrer
       Krisenbewältigungsstrategie. Die nationalen Regierungen werden von Brüssel
       dazu angehalten, die Löhne zu drücken. Nun steht allerdings im Maastrichter
       Sozialabkommen, das als Zusatzprotokoll zum EU-Vertrag am 1. November 1993
       in Kraft trat, im Artikel 2.6 der Satz, dass die „Unterstützung und
       Ergänzung“ der nationalen Sozialpolitiken durch die Gemeinschaft „nicht für
       das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das
       Aussperrungsrecht“ gelten. Diese Einschränkung wurde auch in den Vertrag
       von Lissabon übernommen.
       
       ## Der neue Brüsseler Kurs
       
       Obwohl also die Tarifpolitik offiziell der gemeinschaftlichen Zuständigkeit
       entzogen bleiben soll, zielen die von der EU durchgesetzten Maßnahmen zur
       Haushalts- und Schuldenkontrolle darauf, eine „Lohnzurückhaltung“ zu
       gewährleisten. Diese Beeinflussung erfolgte früher diskret und ohne direkte
       Einmischung. Das hat sich nun geändert.
       
       Und der neue Brüsseler Kurs ist nach den Worten von Manuel Barroso, dem
       Präsidenten der EU-Kommission, keine bloße Krisenepisode: „Was sich
       gegenwärtig vollzieht, ist eine stille Revolution, in kleinen Schritten,
       hin zu einer stärkeren wirtschaftspolitischen Steuerung. Die
       Mitgliedstaaten haben akzeptiert – und hoffentlich verstanden –, dass den
       europäischen Institutionen größere Aufsichtsbefugnisse übertragen
       werden.“(3)
       
       Die Regierungen haben beschlossen, sich auf europäischer Ebene zu
       koordinieren und eine gemeinsame restriktive Lohnpolitik zu betreiben.
       Schon der im März 2011 vereinbarte Euro-Plus-Pakt sorgt für eine Aushöhlung
       der Zuständigkeiten der Tarifpartner. Jetzt will sich die Union über eine
       Begrenzung der jährlichen Haushaltsdefizite und der Staatsverschuldung
       hinaus – die nach deutschem Vorbild in den Verfassungen der einzelnen
       Ländern verankert werden soll – auch in die nationalen Tarifverhandlungen
       einmischen, um ihre Idee von Lohndisziplin durchzusetzen.
       
       ## Vergifteter Sixpack
       
       Mehr noch: Das „Gesetzgebungspaket zur wirtschaftspolitischen Steuerung“
       („Sixpack“), das Ende September 2011 vom Europäischen Parlament
       verabschiedet wurde, stattet den Euro-Plus-Pakt – der eine bloße
       zwischenstaatliche Verpflichtungserklärung ist – mit juristischen
       Sanktionsmöglichkeiten aus.
       
       Dieses Regelwerk, das aus sechs europäischen Gesetzgebungsmaßnahmen
       besteht, wurde in aller Eile und Diskretion installiert. Unter Aufsicht der
       Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen (DG Ecfin), der nationalen
       Wirtschaftsministerien und der EZB soll ein „Scoreboard“ (Statusanzeiger)
       Alarm schlagen, sobald ein „makroökonomisches Ungleichgewicht“ oder ein
       „Verlust an Wettbewerbsfähigkeit“ zu gravierend wird. Wenn sich ein Land
       nicht an die Empfehlungen hält, wird es mit finanziellen Sanktionen belegt.
       
       Die Indexzahl, die das wirtschaftliche Gleichgewicht anzeigen soll, ist
       hinsichtlich des Faktors Löhne keineswegs neutral. Als entscheidende Größe
       gelten nämlich die Lohnstückkosten – und nicht die Lohnquote.(4) Der erste
       Wert spiegelt die Entwicklung der nationalen Löhne im Verhältnis zu denen
       der anderen EU-Länder, der zweite misst dagegen die Verteilung des
       Wohlstands zwischen Arbeit (Löhnen) und Kapital (Gewinnen).
       
       ## Konkurrenzkampf der Arbeitnehmer
       
       In Wirklichkeit geht es also – was das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ nur
       kaschiert – um eine verschärfte Konkurrenz zwischen den europäischen
       Arbeitnehmern in einer Union, die doch nach den offiziellen Bekenntnissen
       gerade die Kooperation der Mitgliedstaaten fördern sollte.
       
       Europa bekommt also ein neues Modell vorgesetzt: ein Deutschland, das in
       den ersten fünf Jahren des 21. Jahrhunderts von der Regierung Schröder zum
       Musterland der Modernisierung umgebaut wurde. „Deutschland hat in den
       letzten zehn Jahren hervorragende Arbeit geleistet“, schwärmte im März 2010
       die damalige französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde: „Es hat
       seine Wettbewerbsfähigkeit verbessert und die Lohnkosten deutlich
       gedrückt.“(5)
       
       Im September 2010 lobte dann der damalige EZB-Präsident Jean-Claude
       Trichet, die deutschen Unternehmen hätten sich rasch auf die Globalisierung
       eingestellt: „Dass sie dabei besonders auf die Produktionskosten geachtet
       und Reformen eingeleitet haben, um die Wirtschaft flexibler zu machen, kann
       seinen Nachbarn als Beispiel dienen.“(6)
       
       Dass Gerhard Schröder schnell den Beinamen „Genosse der Bosse“ erhielt,
       verdankt er allerdings eher der Tatsache, dass sein Kampf für erhöhte
       Konkurrenzfähigkeit mit einem sozialen Kahlschlag endete. Wobei hinzu
       kommt, dass Deutschlands deflatorische Wettbewerbspolitik – sprich
       Exportförderung durch Lohnsenkungen – ein treffliches Beispiel für das ist,
       was europäische Zusammenarbeit nicht sein sollte.(7)
       
       Deutschland hatte diese Politik Ende der 1990er Jahre eingeleitet und
       damals mit der gesunkenen Produktivität und der verschlechterten
       Handelsbilanz infolge der Wiedervereinigung begründet. Mittlerweile sind
       sämtliche maßgeblichen ökonomischen Kennzahlen wieder im grünen Bereich –
       aber zu welchem Preis? „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren
       aufgebaut, den es in Europa gibt“, meinte Gerhard Schröder im Januar 2005
       auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.
       
       ## Deutschland muss weniger deutsch werden
       
       Tatsächlich hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (Hartz-IV-Gesetze)
       die Armut in Deutschland erheblich verschärft. Die Zeitarbeit hat sich zu
       einem eigenständigen Sektor entwickelt; Arbeitslosenbeihilfen wurden
       gekürzt; dafür gibt es jetzt immer mehr „Minijobs“. Heute sind 40 Prozent
       der Beschäftigten in „atypischen“ und etwa ein Drittel in „prekären“
       Arbeitsverhältnissen. Zugleich arbeiten 6,5 Millionen Menschen (etwa 28
       Prozent) zu „Niedriglöhnen“ von weniger als 10 Euro pro Stunde.(8)
       
       Auch die Einkommensverhältnisse der regulär Beschäftigten sind nicht mehr
       so stabil wie früher. Unter allen OECD-Ländern verzeichnet Deutschland von
       2000 bis 2009 den langsamsten Anstieg der Nominallöhne. Der
       (inflationsbereinigte) Reallohn ist sogar um 4,5 Prozent gesunken, während
       er im selben Zeitraum in Frankreich um 8,6 Prozentund in Finnland um 22
       Prozent angestiegen ist.(9)
       
       Zudem kann man Deutschland nur dann zum Modell der Krisenbewältigung
       ausrufen, wenn man darüber hinweg sieht, dass die Deutschen ihre
       Erzeugnisse nur absetzen können, weil ihre Partner sie kaufen.(10) Die
       deutschen Exporte sind von der Konsumbereitschaft aller Länder in der
       Region abhängig. Und diese hängt wiederum von der Kaufkraft der
       Bevölkerungen ab. Die Handelsbilanzüberschüsse der einen sind durch die
       Defizite der anderen bedingt. Der Financial-Times-Leitartikler Martin Wolf
       zieht daraus den Schluss, dass „Deutschland weniger deutsch werden muss“,
       damit die Krise in Euroland überstanden werden kann.(11)
       
       Die Brüsseler Gurus ficht das nicht an: Sie fordern, die anderen sollten
       sich sich am Vorbild Berlin orientieren. Aber damit halten sie nur an einer
       längst überholten Logik fest. In den 1980er Jahren hatte das Europäische
       Währungssystem (EWS) die nationalen Währungen praktisch an die D-Mark
       gekoppelt. Damit mussten sich die anderen Staaten der geld- und
       haushaltspolitischen Orthodoxie der deutschen Währungshüter unterwerfen.
       
       ## Der Euro und die Löhne
       
       Damals blieben ihnen noch zwei Strategien, um ihre Produktionskosten zu
       senken: wettbewerbsorientierte Abwertung (über die Wechselkurse) und
       Stabilitätspolitik (über die Lohn- oder Steuerschraube). Damit war es zu
       Ende, als 1992 der Maastricht-Vertrag bestimmte Konvergenzkriterien
       einführte, also eine neoliberal gefärbte Koordination der einzelnen
       Wirtschaftspolitiken durchsetzte, die das Kräfteverhältnis unter den großen
       EU-Ländern widerspiegelte.
       
       2002 kam dann der Euro. Frankreich wollte die Einheitswährung als Garantie
       für die europäische Einbindung des wiedervereinigten Deutschland. Im
       Gegenzug setzte Helmut Kohl das deutsche Zentralbankmodell mitsamt seiner
       Stabilitätsfixierung durch.
       
       Nach den Maastricht-Kriterien durfte das Haushaltsdefizit nicht mehr als 3
       Prozent, die Staatsverschuldung nicht mehr als 60 Prozent des
       Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Zudem sollten die Regierungen einen
       „hohen Grad“ an Preisstabilität anstreben (die nationale Inflationsrate
       soll nicht mehr als 1,5 Prozent über dem Durchschnitt der drei
       preisstabilsten Mitgliedstaaten liegen). Für die Löhne waren in diesem
       Stadium noch keine direkten Lenkungsmaßnahmen vorgesehen.
       
       Die Einführung des zunächst noch virtuellen Euro zum Jahresbeginn 1999
       markierte dann eine Wende. Die Gemeinschaftswährung entzog den Staaten die
       Möglichkeit, ihre Wettbewerbsfähigkeit durch Abwertung oder andere
       wechselkursbezogene Maßnahmen zu verbessern. Die Löhne wurden damit zur
       einzigen Variablen, mit der sie ihre Produktionskosten senken können. Das
       bedeutet einen ständigen Druck auf die Kaufkraft der europäischen
       Arbeitnehmer.
       
       ## Stete Anpassung nach unten
       
       Die Politik der Tarifverhandlungen hat sich damit grundlegend gewandelt.
       Sie wird zunehmend defensiv. Unter dem Druck von Umstrukturierungsmaßnahmen
       und steigender Massenarbeitslosigkeit korrigieren viele europäische
       Gewerkschaften (allen voran die deutschen) ihre Forderungen nach unten.
       
       Da sie unter der Drohung einer sinkenden nationalen Wettbewerbsfähigkeit
       verhandeln, sind sie nicht mehr vorrangig auf Lohnerhöhungen, sondern auf
       Beschäftigungssicherung bedacht. Damit einher ging die Abwertung von
       branchenbezogenen Verhandlungen in ganz Europa, wie man an der Unzahl von
       Unternehmenstarifverträgen sehen kann, die den Erhalt von Arbeitsplätzen
       durch das Zugeständnis längerer Arbeitszeiten erkaufen.(12 )
       
       Längere Arbeitszeit bedeutet niedrigere Lohnkosten. Das weiß auch Jean
       Lapeyre, der damalige Generalsekretär des Europäische Gewerkschaftsbunds
       (EGB). Er erklärt die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in dieser Phase
       mit der hohen Arbeitslosigkeit von EU-weit 12 bis 13 Prozent: „Wir dachten,
       wir machen das im Interesse der Arbeitnehmerseite. Doch inzwischen fühlen
       wir uns von den Arbeitgebern verraten und verkauft, weil der Lohnanteil
       immer weiter sinkt, ohne dass sich die Beschäftigungslage verbessert.“(13)
       
       ## Entkernte Löhne
       
       Unter diesen neuen Bedingungen wird der Lohn entkernt. War er bisher ein im
       wahrsten Sinne politisches Verhandlungsobjekt, so ist er nun eine von
       vielen Variablen bei der Eindämmung der Inflation oder der Verbesserung der
       Wettbewerbsfähigkeit. Die entscheidende Frage, wie der Wohlstand verteilt
       wird, spielt keine Rolle mehr.
       
       Auf EU-Ebene verlagern die wirtschaftspolitischen Akteure die Diskussion
       über ökonomische Alternativen gern auf die politische Sphäre. Sie
       appellieren an die „Verantwortung“ der Sozialpartner, deren vorrangiges
       Interesse es doch sein müsste, die Lohnstückkosten zu senken. „Die
       Sozialpartner in den Mitgliedstaaten sollten weiterhin Verantwortung
       zeigen“, hieß es 2001 in Empfehlung des Europäischen Rats, „und
       Tarifverträge abschließen, die mit den allgemeinen Prinzipien in Einklang
       stehen, wie sie durch die langfristigen wirtschaftspolitischen Perspektiven
       vorgegeben sind.“(14)
       
       Seit das Thema Löhne in Brüssel von der sozialpolitischen Agenda entsorgt
       wurde, ist es in den Bereich der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik
       verwiesen. Auf dieser Ebene aber lassen die makroökonomischen Zwänge der
       Union nur noch die Perspektive eines organisierten Lohndumpings zu. Weil im
       Rahmen des Gemeinschaftsrechts derzeit weder EU-weite Tarifverhandlungen in
       Sicht sind noch eine Harmonisierung der Löhne nach oben, steht nur eine
       Option zur Debatte: die Anpassung nach unten.
       
       Fußnoten:
       
       (1) Absichtserklärung der rumänischen Regierung gegenüber dem IWF, 16. Juni
       2010.
       
       (2) Europäische Kommission, „Empfehlung des Rates zum nationalen
       Reformprogramm Belgiens 2011“, Brüssel, 7. Juni 2011, Paragraf 12.
       
       (3) Beitrag auf der Konferenz im Europäischen Hochschulinstitut Florenz,
       18. Juni 2010.
       
       (4) Die Lohnquote ist der Anteil der Einkommen aus nichtselbstständiger
       Arbeit an der Wirtschaftsleistung eines Landes.
       
       (5) „Lagarde au Conseil des ministres allemands“, "Le Figaro, 30. März
       2010.
       
       (6) „Les pays de la zone euro doivent faire des efforts“, Interview mit
       Jean-Claude Trichet, "Le Figaro, 3. September 2010.
       
       (7) Siehe Simon Sturn und Till VanTreeck, „Gefährliche Ungleichheit“, "Le
       Monde diplomatique, Dezember 2010.
       
       (8) Daten aus: Reinhard Bispinck und Thorsten Schulte, „Trade Union
       Responses to Precarious Employment in Germany“, WSI-Diskussionspapier, Nr.
       178, Dezember 2011, S. 27 und S. 16.
       
       (9) OECD, „Global Wage Report: Wage Policies in Times of Crisis“:
       [1][www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@dgreports/@dcomm/@publ/documents/publ
       ication/wcms_145265.pdf].
       
       (10) Etwa 60 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU, etwa 40 Prozent
       in die Eurozone.
       
       (11) Martin Wolf, „A disastrous failure at the summit“, "The Financial
       Times, 14. Dezember 2011.
       
       (12) Die bekanntesten Beispiele sind der Tarifvertrag bei Siemens 2004 und
       bei Bosch in Frankreich 2005.
       
       (13) Interview mit der Autorin.
       
       (14) „Empfehlung des Rates vom 15. Juni 2001 zu den Grundzügen der
       Wirtschaftspolitik“, ABl. L 179 vom 2. Juni 2001.
       
       Aus dem Französischen von Thomas Laugstien
       
       [2][Le Monde diplomatique] vom 10.2.2012
       
       16 Feb 2012
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@dgreports/@dcomm/@publ/documents/publication/wcms_145265.pdf
 (DIR) [2] http://www.monde-diplomatique.de
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Dufresne
       
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