# taz.de -- Ein Plädoyer für Bundespräsident Gauck: Einer, der den Widerspruch auslebt
       
       > Joachim Gauck trägt das Thema Freiheit vor sich her. Dafür gibt es sehr
       > gute Gründe. Zentral dabei ist Verantwortungsübernahme: für sich selbst
       > und auch für alle.
       
 (IMG) Bild: Er predigt, erst die Freiheit des Einzelnen bedinge die Freiheit aller: Joachim Gauck.
       
       Schon bei der Kandidatenkür 2010 hagelte es Kritik. Joachim Gauck sei nicht
       geeignet für das Präsidentenamt, hieß es. Die Stimmen kamen vorwiegend aus
       dem Osten, vorwiegend aus der ehemaligen Oppositionsszene. Seit dem 19.
       Februar 2012, dem Tag, an dem die Kanzlerin dem Landsmann zähneknirschend
       ihren Segen erteilte, sind die Stimmen der Kritik an dem künftigen
       Bundespräsidenten zum Chor angeschwollen. Und nicht nur die taz reihte sich
       ein.
       
       Medien und das Netz verbreiteten immer neue Meldungen und Statements, die
       Gaucks Eignung als Bundespräsident in Zweifel zogen, bis hin zu dem
       ungeheuerlichen Vorwurf, er sei eitel. Ja, damit hat er wohl ein
       Alleinstellungsmerkmal im öffentlichen Leben unserer sonst so
       altruistischen Republik. Das meiste verstand zwar kaum jemand außerhalb der
       Kritikergemeinde, aber die Demokratie funktioniert, die Pressefreiheit ist
       intakt – das hat die aktuelle Debatte schon mal erwiesen.
       
       Aber nicht nur das. Offenbar sind auch alle, gerade die Kritiker(innen),
       mit dem Grundgesetz sehr zufrieden. Das dürfte nicht zuletzt Gauck
       erfreuen. Denn die Debatte über die Eignung des Rostocker Theologen für das
       höchste Staatsamt dreht sich im Kern um die Frage, ob er die vorgesehene
       Überparteilichkeit des Amts wahren kann. Und nun wird es interessant. Denn
       diese Debatte ist wahrlich neu – oder kann sich jemand erinnern, dass einem
       designierten Bundespräsidenten vorab vorgehalten wurde, warum er dem im
       Grundgesetz festgeschriebenen Überparteilichkeitsgebot nicht entsprechen
       könnte. Es gab immer wieder Kritik; erinnert sei an Köhlers IWF-Tätigkeit,
       aus der er aber offenkundig andere Schlüsse gezogen hatte, als ihm viele
       seiner KritikerInnen zunächst unterstellten. Bei Gauck aber ist alles
       anders. Warum eigentlich?
       
       Der 72-Jährige ist parteipolitisch nicht verortet, verfügt über ein
       stabiles Wertesystem und preist Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
       Freiheit eindringlich und lustvoll, wie es in Deutschland nicht nur
       unüblich ist, sondern auch verdächtig macht. Eigentlich lässt sich besser
       punkten, wenn man ausufernd aufzählt, was alles nicht geht, was alles gar
       nicht geht und was alles überhaupt nicht geht. Meist ist dann die Nacht
       vorbei, und es bleibt keine Zeit mehr für Antworten auf naheliegende
       Fragen, was eigentlich geht oder was wie verändert werden könne.
       
       ## Zentral ist Verantwortungsübernahme
       
       Beim nächsten Treff fängt man zunächst von vorn an, und die Nacht ist
       erneut vorschnell vorbei. Gauck fängt in diesem Sinne von hinten an – macht
       sich damit beliebt bei nun nicht gerade wenigen BürgerInnen, aber umso
       verdächtiger bei jenen, denen ein Ja zur Bundesrepublik nicht einmal nach
       einem Urlaub in weniger demokratisch organisierten Gesellschaften und
       Staaten über die Lippen käme.
       
       Ihm wird überdies vorgehalten, er habe einen „negativen Freiheitsbegriff“,
       der die soziale Gerechtigkeit ausklammert. LeserInnen der taz mögen sich
       vielleicht noch an die Hochphase der Friedensbewegung erinnern. Im Osten
       Europas, und zuweilen sogar im Westen, ist seinerzeit betont worden,
       Frieden, Menschenrechte und Freiheit seien unteilbar. Wer im Inneren das
       eine nicht garantiere könne, sei auch ungeeignet, dies nach außen zu
       repräsentieren. Das war die Motivation, aus der die Solidarnosc, die Charta
       77 und auch die kleine Opposition in der DDR ihre Kraft bezogen.
       
       „Negativ“ oder „positiv“ hergeleitete Friedens- oder Freiheitsbegriffe gibt
       es nicht, sie mögen nicht universell sein, sie sind aber jeweils komplex
       und immer erfahrungsgesättigt. Gauck hebt auf Ebenen ab, die ihm nun um die
       Ohren geschleudert werden. Er predigt, erst die Freiheit des Einzelnen
       bedinge die Freiheit aller. Zentral dabei ist Verantwortungsübernahme: für
       sich selbst und auch für alle.
       
       ## Keinen zum Glück zwingen
       
       Freiheit entspringt keiner Gemengelage, ist nicht relativierbar und ist
       auch nicht mit anderen Kategorien aufzuwiegen oder abzuwägen. John Stuart
       Mills berühmte „Freiheitsformel“ aus dem Jahr 1859 hat nicht an Strahlkraft
       eingebüßt: „Dies Prinzip lautet: dass der einzige Grund, aus dem die
       Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer
       Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass
       der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines
       Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der
       ist: die Schädigung anderer zu verhüten. […] Man kann einen Menschen nicht
       rechtmäßig zwingen, etwas zu tun oder zu lassen, weil dies besser für ihn
       wäre, weil es ihn glücklicher machen, weil er nach Meinung anderer klug
       oder sogar richtig handeln würde.“
       
       Wenn Gauck also Freiheit vor sich her trägt, dann auch deswegen, weil er
       ganz ähnlich wie Ralf Dahrendorf oder Vaclav Havel diese nicht nur als das
       zentrale Problem jeder Gesellschaft ansieht, sondern weil sich alles andere
       – alles andere – nur auf diesem Boden überhaupt verwirklichen lässt. Das
       ist in Deutschland nicht sonderlich populär.
       
       Die Debatte trägt überdies, wenn es um Gauck geht, einen Zug, der fast
       lächerlich anmutet.
       
       ## Kleinkarierte Vorwürfe
       
       Aus allen Richtungen und Windungen kommen Bedenkenträger und Sittenwächter,
       die offenbar Bücher gelesen haben, die es gar nicht gibt: „Der perfekte
       Präsident oder Wie ein Bundespräsident sein sollte!“. Natürlich hat Gauck
       in den vergangenen Jahren auch immer wieder mal Unsinn von sich gegeben.
       Natürlich – welche BürgerInnen hätten dies nicht! Dies tat er als
       Privatmann. Ihm dies jetzt um die Ohren zu hauen ist in Ordnung, ihm aber
       nun zu unterstellen, er könnte künftig seine eigenen Positionen nicht
       revidieren, ist etwas kleinkariert. Mal sehen, was gesagt wird, sollte den
       neuen BP seine erste Auslandsreise in die Türkei führen.
       
       Gauck lebt im Widerspruch, lebt diesen aus und läuft überhaupt erst in der
       diskursiven Gegenrede zur Höchstform auf. Das muss man aber auch aushalten
       können, vor allem muss man vertragen können, anderer Meinung zu sein, ohne
       dafür gleich das „Schweinesystem“ verantwortlich zu machen. Ob es einem nun
       passt oder nicht, ein demokratisch-freiheitlicher Staat hat als
       Hauptaufgabe, das Gemeinwohl so zu organisieren, dass Revolutionen unnötig
       sind. Das ist das Grundanliegen eines demokratisch organisierten
       Verfassungsstaates.
       
       Apropos Revolution: Gauck ist ein echter 89er, kein halber, kein Viertel-
       oder Dreiviertel-89er, ein ganzer. Natürlich bezieht er zu einem nicht
       unbeträchtlichen Teil seine Argumentationszusammenhänge aus den Erfahrungen
       in der SED-Diktatur und der erfolgreichen Revolution. Wie sollte er auch
       anders? Jeder politisch denkende und handelnde Mensch beruft sich mehr oder
       weniger bewusst auf die eigenen Erfahrungen. Gauck wird nun vorgehalten, er
       habe in der DDR nicht zur Opposition gezählt.
       
       Na und? Das werfen ihm vor allem solche einstigen Oppositionellen vor, die
       mutig gegen die SED-Diktatur kämpften, aber mit den einstigen Herrschern
       den Traum vom irdischen Paradies teilten. Das ist ihr gutes Recht. Ebenso
       war es Gaucks Recht, als Pfarrer in der DDR zu leben und zu arbeiten, Trost
       im Kleinen zu geben.
       
       Durch die Verhaftung, Verurteilung und Verbannung des eigenen Vaters
       traumatisiert, suchte Gauck seinen Weg, „in der Wahrheit zu leben“. Anders
       als viele andere, auch in den Kirchen, bekannte sich Gauck offen und
       öffentlich zu einem Leben in Freiheit und Demokratie, als längst noch nicht
       absehbar war, dass das System zu Ende gehen würde.
       
       ## Er verkörpert „Antipolitik“
       
       Er gehörte, auch in den Augen des MfS, zu jenen, die sich für Bürgerrechte
       in einem Land ohne Bürgerrechte einsetzten. Auf dem Rostocker Kirchentag
       1988 sagte er vor Tausenden ZuhörerInnen, er wolle ein Land, in dem er
       bleiben möchte, wenn er gehen darf. Muss ein Bundespräsident eigentlich der
       mutigste, entschiedenste Bürger sein? Wohl genauso wenig, wie er als
       Ostdeutscher überhaupt zur Opposition gezählt haben muss.
       
       Dass Gauck mit Preisen überhäuft wird, die ihn in die Nähe zur
       organisierten Opposition stellen, mag man kritisieren, aber eigentlich
       sollte man die (westdeutschen) Jurys in die Pflicht nehmen. Jedenfalls ist
       nicht bekannt, dass es in unserer politischen Kultur sonderlich üblich ist,
       angesehene oder gut dotierte Ehrungen auszuschlagen.
       
       Die Kritik an Gauck hat oft noch einen anderen Grund. Denn eigentlich ist
       seine zehnjährige Amtszeit als Bundesbeauftragter für die MfS-Unterlagen
       gemeint. Viele Ostdeutsche sehen in ihm den Großinquisitor. Damit konnte er
       immer gut leben, dieses fest eingeschriebene Feindbild wird die Zukunft
       nicht überleben. Andere sehen in ihm den Hauptverantwortlichen für den
       Umstand, dass seit nunmehr 20 Jahren in der Behörde einstige hauptamtliche
       MfS-Offiziere arbeiten. Dafür trägt er die politische Verantwortung. Nötig
       war dies damals keinesfalls, so wie es auch nicht nötig ist, diesen Umstand
       immer wieder aufs Neue zu skandalisieren.
       
       ## Die Strahlkraft liegt in der Unabhängigkeit
       
       Ob Joachim Gauck ein idealer oder nur guter Bundespräsident werden wird,
       weiß zurzeit niemand. Er verkörpert das, was in der ostmitteleuropäischen
       Opposition mit „Antipolitik“ beschrieben wurde – ein politisches
       Verständnis, das sich weniger an Strukturen und Hierarchien, sondern
       stärker an der eigenen Emanzipation und Partizipation, wie auch immer die
       obwaltenden Umstände aussehen, orientiert. Seine Strahlkraft in den
       vergangenen Jahren lag in seiner Unabhängigkeit und seiner Botschaft.
       
       Jetzt braucht er viele Botschaften. Ich freue mich darauf – vor allem auf
       jene, die mich ärgern werden, wütend machen. Und von solchen erwarte ich
       viele. Hoffentlich enttäuscht mich der künftige Bundespräsident nicht. Und
       wenn, dann ist es eigentlich auch egal – denn, mal bei Licht betrachtet:
       Von seinen meisten Amtsvorgängern blieb kaum mehr als die Tinte unter
       unzähligen Gesetzen.
       
       2 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilko-Sascha Kowalczuk
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Beate Klarsfeld
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gaucks verzerrtes Geschichtsbild: Der Rückfall
       
       Der Leiter des Simon Wiesenthal Centers in Jerusalem erklärt, warum er
       Gauck für den falschen Bundespräsidenten hält. Es geht um dessen Deutung
       des Holocausts.
       
 (DIR) Bürgerrechtler kritisieren Joachim Gauck: Eine andere „Freiheit“ gemeint
       
       Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR wollen Joachim Gauck sehr genau
       beobachten, sollte er Bundespräsident werden. Sie kritisieren, Gaucks
       Verständnis von Freiheit gehe nicht weit genug.
       
 (DIR) Debatte Joachim Gauck: Gänsehaut bei Gauck
       
       Joachim Gauck nutzt Emotionen und Erinnerungen als rhetorische Waffen.
       Einige Anmerkungen zur viel gerühmten Redekunst des
       Präsidentschaftskandidaten.
       
 (DIR) Antisemitismus-Forscher über Gauck: „Man darf konservativ sein“
       
       Das Geschichtsbild von Gauck ist nicht reaktionär, sondern spiegelt eine
       Durchschnittsmeinung wider, findet Wolfgang Benz. Gespräch über Atheisten,
       den Holocaust und Sarrazin.
       
 (DIR) Kommentar Beate Klarsfeld: Die gerettete Wahl
       
       Es ist richtig, dass die Linkspartei, die mal wieder außen vor gelassen
       wurde, trotzdem mitzuspielt. Auch die Zweifler bei SPD und Grüne haben nun
       eine Alternative.
       
 (DIR) Gauck und die Muslime: "Er spaltet und grenzt aus"
       
       Gaucks Gerede von "Überfremdung" grenzt Migranten aus, sagt Aylin Selcuk.
       Seine Teilnahme an der Trauerfeier für Neonazi-Opfer habe sie aber positiv
       überrascht.
       
 (DIR) Joachim Gauck startet Parteienbesuche: NRW-CDU findet Gefallen an Gauck
       
       Bei der CDU in Nordrhein-Westfalen hat Gauck seine Parteienbesuche
       gestartet. Die Konservativen sind begeistert und verzichten auf kritische
       Nachfragen.
       
 (DIR) Kommentar Gauck: Gauck und der Holocaust
       
       Was der künftige Bundespräsident wirklich gesagt und was er gemeint hat.
       Und wie er den Holocaust verharmlost. Eine Antwort auf die Kritik an der
       Gauck-Kritik.