# taz.de -- Debatte Klimaschutz: Mit Negawatt in die Zukunft
       
       > Wenn die Energiewende nicht scheitern soll, braucht es neue Ideen – eine
       > Abschaltprämie für die Industrie bei Windflaute gehört dazu. Ökonomisch
       > ist das vernünftig.
       
       Neuerdings ist in deutschen Medien von einer Blackout-Prämie die Rede. Wie
       bitte? Eine Prämie für den Blackout? Natürlich nicht! Korrekt müsste das
       Wort Anti-Blackout-Prämie heißen. Und darum geht es: Unternehmen werden in
       Zukunft Geld dafür bekommen, wenn sie in Situationen knappen Stromangebots
       – etwa bei Windflaute – ihre Produktion zeitweise drosseln oder gar
       stoppen. Auf diese Weise lässt sich das Netz trotz schwankender
       Ökostromerzeugung sicher ausregeln.
       
       Im ersten Moment klingt das Ansinnen bizarr. Schließlich hat man sich über
       Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt, dass Strom stur gemäß Nachfrage erzeugt
       wird. Und so überrascht es auch nicht, dass Kritiker von Energiewende und
       Atomausstieg ein solches Instrument als Indiz einer maroden
       Energiewirtschaft, mithin als politisches Versagen deuten. Und sie
       polemisieren: Ist unser Land schon so weit heruntergekommen, dass Firmen
       ihre Produktion wegen Strommangels reduzieren müssen?
       
       Es ist die pure Rabulistik. Denn die Steuerung der Industrieproduktion nach
       Gesichtspunkten des Netzes ist mitnichten ein Zeichen politischen
       Missmanagements. Der Ansatz ist vielmehr ökonomisch vernünftig. Denn die
       Frage, die sich bei der Regelung eines Stromnetzes zu jedem Zeitpunkt aufs
       Neue stellt, ist doch diese: Ist es billiger, ein Kraftwerk bereitzuhalten,
       um den aktuell benötigten Strom zu erzeugen? Oder ist es billiger, einen
       Verbraucher dafür zu entschädigen, dass er bei knappem Stromangebot
       vorübergehend keinen oder weniger Strom bezieht?
       
       Eingebettet werden können solche Modelle in sogenannte Kapazitätsmärkte.
       Dieses Modell, das in Politik, Wissenschaft und Energiewirtschaft gerade
       intensiv diskutiert wird, muss man erklären: Kohlekraftwerke, die über
       Jahrzehnte hinweg mit Laufzeiten von 6.000 bis 7.000 Stunden pro Jahr
       kalkuliert wurden, dürften in einigen Jahren kaum mehr als 4.000 bis 4.500
       Stunden im Jahr schaffen, weil Windstrom und Sonne sie immer wieder
       stundenweise aus dem Markt drängen. Damit rechnen sich neue Kraftwerke
       nicht mehr.
       
       Gleichwohl kann es aber gelegentlich Zeiten geben, in denen eine
       zusätzliche Erzeugungsleistung nötig ist. Um diesem Dilemma zu entkommen,
       denkt man daran, Kraftwerke schon allein dafür zu bezahlen, dass sie
       bereitstehen, selbst wenn sie nicht laufen – einfach um die Investitionen
       zu ermöglichen. Ist ein solcher Kapazitätsmarkt aber solide konzipiert,
       werden die Anbieter von Erzeugungsleistung mit Anbietern von
       Abschaltkapazitäten im Preiswettbewerb stehen. Und wenn es dann für einen
       Industriebetrieb billiger ist, eine Elektrolyse für einige Stunden zu
       stoppen, als für den Energieversorger, die gleiche Leistung an Strom zu
       liefern, dann kommt die Abschaltung zum Zuge.
       
       ## Sündhaft teure Reserven
       
       Nun werden dafür zwar Entschädigungszahlungen an die betroffenen
       Unternehmen fällig, die über die Netzentgelte auf die Stromkunden umgelegt
       werden. Doch darüber kann sich niemand wirklich grämen, weil ja der Einsatz
       von sündhaft teuren Reservekraftwerken entfällt – und auch deren Kosten
       wären selbstredend umgelegt worden.
       
       In der Theorie sind solche Konzepte nicht neu: Der amerikanische Physiker
       und Energievordenker Amory Lovins prägte dafür bereits 1989 den Begriff
       „Negawatt“. Im Deutschen kennt man die Bezeichnungen „Einsparkraftwerk“ und
       „Least-Cost Planning“. Viele Namen für immer die gleiche Idee: Wenn Strom
       sparen billiger ist als Strom produzieren, wird gespart.
       
       Letztendlich ist die Abschaltprämie für Unternehmen nichts anderes als das
       „Smart Grid“ für Privathaushalte. Dieses sieht vor, dass Waschmaschinen
       künftig vor allem dann laufen, wenn der Strom gerade üppig zur Verfügung
       steht. Weil aber solche Ideen im Haushalt hohe Transaktionskosten durch den
       Aufbau der technischen Infrastruktur mit sich bringen, ist es sinnvoller,
       in der Industrie anzufangen. Die rhetorische Frage des Verbandes der
       Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft sagt alles zu diesem Thema: „Was
       ist einfacher zu organisieren – die Abschaltung von 40.000 Waschmaschinen
       oder die Abschaltung einer Elektrolyse?“
       
       Es sind zahlreiche Prozesse in der Industrie, die abhängig vom Stromangebot
       gesteuert werden können. Ein Beispiel: Carbid ist ein Vorprodukt
       verschiedener chemischer Substanzen und es ist lagerfähig. Da die
       Stromkosten 40 Prozent der Produktionskosten ausmachen, kann es sinnvoll
       sein, diesen Stoff auf Vorrat zu erzeugen – dann nämlich, wenn es gerade
       viel Strom im Netz gibt. Bei knappem Angebot von Strom kann im Gegenzug die
       Carbidproduktion ruhen. So wird das Produktlager zu einem hocheffizienten
       Stromspeicher.
       
       ## Smart Grid als Imagewerbung
       
       Es gibt einige Branchen, die hier mitspielen können: Zementfabriken
       erzeugen in einem stromintensiven Prozess Klinker als Vorprodukt, auch der
       lässt sich lagern. Ebenso lässt sich die stromfressende Elektrolyse in
       Aluminiumfabriken bei Bedarf ohne Probleme für ein bis zwei Stunden vom
       Netz nehmen. Die Aluminiumschmelze Trimet in Hamburg zum Beispiel hat
       bereits mit ihrem Übertragungsnetzbetreiber Abschaltungen bis zu einer
       Stunde unter Vertrag genommen. Immerhin verschlingt die Hütte 400 Megawatt
       – da steckt also echtes Regelpotenzial drin.
       
       Die Smart Grids im Haushalt kann man im Vergleich dazu fürs Erste getrost
       vergessen. Denn sie sind zumindest bislang weit davon entfernt, sich für
       die Kunden zu rechnen. So sieht auch die Stromwirtschaft derzeit im Smart
       Grid im Privathaushalt vor allem eine Imagewerbung und keinen wirklichen
       Nutzen für das Netz. Folglich hat mit Ausnahme der Gerätehersteller und
       Softwareanbieter im Moment auch kaum jemand ernsthaftes Interesse am Einzug
       dieser Technik in die Haushalte.
       
       Anders in der Industrie. Dort gibt es enorme Kapazitäten, den
       Stromverbrauch mit wenig Aufwand zeitlich zu flexibilisieren.
       Branchenkenner gehen von etwa 8.000 Megawatt aus. Dieses Potenzial zu
       erschließen ist in jeder Hinsicht sinnvoll – obwohl die Idee ganz eklatant
       gegen jahrzehntealte Gewohnheiten verstößt.
       
       26 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernward Janzing
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Reiseland Deutschland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Solarfirma schließt deutsche Standorte: Die nächste Sonnenfinsternis
       
       Das US-Unternehmen First Solar schließt seine deutschen Standorte. Neuer
       Höhepunkt der Krise in der Fotovoltaikindustrie. Politiker fordern, die
       heimische Industrie zu stützen.
       
 (DIR) Emissionshandel: Eon will mehr zahlen
       
       Von höheren Preisen für CO2-Zertifikate würde der Energiekonzern
       profitieren. Eon-Chef Teyssen fordert Koordination von
       Klimaschutz-Fördermaßnahmen und EU-Emissionshandel.
       
 (DIR) Finanzexperte über Wind- und Solarenergie: „Man braucht Wall-Street-Banken“
       
       Die Solarbranche geht nach China, Windkraft bleibt europäisches
       Hoheitsgebiet, sagt Finanzexperte Michael Liebreich vom Nachrichtendienst
       Bloomberg New Energy Finance.
       
 (DIR) Reiseführer für Solarfans: Den blauen Zellen hinterher
       
       Auf den Spuren der Energiewende durchs Land reisen? Unser Autor hat es
       ausprobiert. Nach vielen hundert Kilometern kommt er enttäuscht zurück.
       Viel neues hat er nicht gesehen.
       
 (DIR) Ökosteuer-Schonkurs für Unternehmen: Grüner Rabatt ohne Gegenleistung
       
       Die deutsche Industrie wird bei der Ökosteuer weiter bevorzugt. Das
       Finanzministerium will die seit über einem Jahrzehnt geltenden Privilegien
       verlängern.