# taz.de -- Kontroverse Habermas-Tagung in Wuppertal: Sich im Unbehaglichen einrichten
       
       > Seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ ist auch im Zeitalter der
       > Globalisierung noch aktuell: In Wuppertal wurde der Philosoph Jürgen
       > Habermas mit einer Tagung geehrt.
       
 (IMG) Bild: Unbehaglich? Jürgen Habermas 1981.
       
       Wenn Hegel damit recht hat, dass Philosophie ihre Zeit in Gedanken gefasst
       ist, konnte es für diesen Kongress keinen besseren Ort als Wuppertal geben.
       Wuppertal, eine der ärmsten, von Abwanderung wie sonst nur ostdeutsche
       Regionen getroffenen westdeutschen Städte, besitzt eine Universität, die
       den Namen „Bergische Universität“ trägt und doch eigentlich „Friedrich
       Engels Universität“ heißen müsste. „Habermas und der historische
       Materialismus“ – unter diesem Titel verhandelten an drei Tagen in einem
       bonbonfarbenen Breitwandhörsaal der „Bergischen Universität“ Philosophen
       und Soziologen das Werk von Jürgen Habermas, der – die ganze Zeit anwesend
       – die Deutungen seines Werkes kommentierte.
       
       Sein Sammelband „Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus“
       erschien 1976. Es war Friedrich Engels, nicht Marx, der den Begriff des
       „Historischen Materialismus“ prägte und darunter eine empirisch
       unterfütterte, Praxis anleitende Theorie der Geschichte verstand. Engels
       sah in Produktion und Austausch der Produkte die Grundlage aller
       Gesellschaftsordnung und ihrer Aufspaltung in Klassen, weshalb „die letzten
       Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen
       nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die
       ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions-
       und Austauschweise“ zu suchen seien.
       
       Spätestens 1976 – die Sowjetunion existierte noch, und sogar scharfe
       Kritiker der despotischen Parteidiktatur meinten, dass dort zumindest ein
       in nuce nichtkapitalistischer Vergesellschaftungsmodus existiere – hatte
       Habermas diese Annahmen verworfen und durch eine evolutionäre Theorie
       strukturellen, moralischen Lernens wenn nicht ersetzt, so doch ergänzt.
       
       Habermas’ Stellung zu Marx ist in der Zunft noch immer streitig, weshalb
       ihm nach einem fairen Eingangsreferat des Briten William Outhwaite ein
       Vertreter der Schulphilosophie, Manfred Baum, eine systematisch
       überflüssige Übernahme von Gedanken Max Webers nachweisen wollte, während
       sich die weiteren Beiträge von Smail Rapic und Ingo Elbe spiegelbildlich
       ergänzten: Während jener Habermas als Ideologiekritiker in der Tradition
       der älteren Kritischen Theorie rehabilitieren wollte, kanzelte ihn Elbe im
       Tonfall eines Oberlehrers als Autor ab, der Marx schon immer falsch
       dargestellt, seine Theorie des „Wertes“ nicht kapiert und sogar ideologisch
       behauptet habe, dass „Geld“ ein neutrales Steuerungsmedium sei. Freilich
       war Elbe nicht in der Lage, die politische Konsequenz seiner Kritik zu
       artikulieren: zu dem, was aus seiner orthodoxen Lektüre von Marx praktisch
       folgt, war ihm kein Wort zu entlocken.
       
       ## Marx als Streitfall
       
       Regina Kreide und Stefan Müller-Dohm demonstrierten im Gegenzug, welches
       Potenzial Habermas’ Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ von
       1981 zumal im Zeitalter des globalen Kapitalismus hat. Während Müller-Dohm
       die Bemühungen um ein demokratisch geeintes Europa als Schritt zu einer
       demokratisch verfassten Weltordnung würdigte, skizzierte Kreide die
       analytische Kraft seiner Krisenanalyse: Mit Habermas’ Begriff der
       „Kolonialisierung der Lebenswelt“ sei es möglich, die im globalen
       Kapitalismus überall auf der Welt auftretenden Formen emotionaler
       Ausbeutung, der Instrumentalisierung der Kultur, der fortschreitenden
       Ökonomisierung der Arbeitsbeziehungen und vor allem einer transnationalen,
       nicht mehr demokratisch legitimierten Verrechtlichung in den Blick zu
       bekommen.
       
       Es war der Münsteraner Hegelforscher Michael Quante, der – er erörterte
       Prinzipien biomedizinischer Ethik – die Lage auf den Begriff brachte: Worum
       es heute gehe, das sei „ein Sich-Einrichten-im-Unbehaglichen“. Tatsächlich:
       In einer Replik bekannte sich Habermas zu dem, was ihm orthodoxe Marxisten
       von jeher vorwerfen: zu einem radikalen Reformismus, der sich eingestehen
       müsse, dass nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, so Habermas
       wörtlich, „jeder revolutionäre Gedanke a priori zum Scheitern verurteilt“
       sei.
       
       Doch waren es nicht nur Jüngere, sondern auch GenerationsgenossInnen, die
       Stellung nahmen: sein soeben 90 Jahre alt gewordener Weggefährte Karl-Otto
       Apel und die ungarische Philosophin Ágnes Heller. Auch sie ergänzten sich
       spiegelbildlich. Apel, der vor dem Hintergrund des totalen Zusammenbruchs
       aller Moral im Nationalsozialismus eine zwar nicht mehr metaphysische, wohl
       aber kognitiv zwingende, auf der Pragmatik der Sprache beruhende Ethik, wie
       er sagte, „pedantisch“ begründen will, warf Habermas vor, durch
       Empirisierung den Unbedingtheitsanspruch der Moral preiszugeben. Heller
       hingegen, Jahrgang 1929, sie war zunächst Assistentin von Lukács im Ungarn
       des „realen Sozialismus“, votierte dafür, Philosophie als Genre der
       Literatur, als „Daseinsanalyse“ zu verstehen, bei der verbindliche Maßgaben
       gar nicht wünschenswert seien.
       
       Schließlich wurde erörtert, in welcher Hinsicht Habermas als legitimer Erbe
       idealistischer Geschichtsphilosophie gelten kann. Während Klaus Erich
       Kaehler penibel nachzeichnete, wie sich aus Hegels spekulativen Begriffen
       eine nachmetaphysische, die Endlichkeit, Sinnlichkeit und Individualität
       betonende Sozialphilosophie nicht nur bei Marx entwickelt hat, entfaltete
       Hauke Brunkhorst eine evolutionstheoretisch reformulierte Theorie von Marx’
       Diktum: „Alle Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“
       
       Aktuell sei die apodiktische These dann, wenn man unter „Klassenkampf“ eben
       nicht nur Auseinandersetzungen über materielle Güter und Lebensumstände
       versteht, sondern alle Konflikte um die Gestaltung der Gesellschaft im
       Rahmen einander widersprechender ideeller und materieller Interessen. Dann
       erweisen sich alle Revolutionen als Rechtsrevolutionen und die Entwicklung
       des Rechts, das immer auch das Recht der jeweils Herrschenden ist, als
       Motor gerichteter gesellschaftlicher Evolution.
       
       Georg Lohmann ging endlich auf Habermas’ Dissertation zur
       Geschichtsphilosophie Schellings zurück und fragte, ob dem jugendlichen
       Rausch jener Schrift später eine Art hellsichtiger philosophischer Kater
       mit dem Ergebnis einer ernüchterten Geschichtsphilosophie gefolgt sei.
       
       ## Illusionslos und ernüchtert
       
       Habermas, der die Schriften von Marx und Engels als Schüler in einer
       kommunistischen Buchhandlung in Gummersbach kennengelernt hatte, räumte
       ein, nach seiner Dissertation an der Philosophie verzweifelt zu sein, indes
       sei der geschichtsphilosophische Impuls nicht verschwunden: „Gegen die
       Verzweiflung anzudenken“, so Habermas emphatisch, „das ist kein Motiv,
       sondern Verpflichtung!“
       
       Die Verpflichtung aber, die heute ergeht, bestehe darin, so Habermas und
       Brunkhorst, das Zeit-und Handlungsfenster, das durch das Versagen des
       Neoliberalismus aufgestoßen worden sei, zu nutzen. Illusionslos,
       ernüchtert, ohne Seitenblicke auf ausgetretene „Dritte Wege“, aber doch
       entschieden gehe es heute darum, „Bankenkomplexe zu zerschlagen, eine
       Transaktionssteuer einzuführen, Investitions- und Geschäftsbanken zu
       trennen“ sowie die demokratische Konstitutionalisierung Europas zu
       erkämpfen.
       
       Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst. Jürgen Habermas, der zum
       ersten Mal in Wuppertal war, bekannte dennoch, in seine Heimat, das
       „Bergische Land“, zurückgekehrt zu sein – jenes Land der frühen
       kapitalistischen Industrialisierung, der evangelischen Freikirchen und eben
       des Sozialdemokraten Friedrich Engels, dessen Geist irgendwie über dieser
       Tagung schwebte.
       
       26 Mar 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
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