# taz.de -- Debatte China: Unterschätzte Presse
       
       > Es heißt, die deutsche Presse versäume es prinzipiell, die politischen
       > Vorgänge im Riesenreich präzise abzubilden. Das ist Unfug. Eine Replik.
       
 (IMG) Bild: Die deutsche Berichterstattung über China ist weniger romantisch als die Bilder, die China gerne liefert.
       
       „Kennen Sie China?“ Wenn nicht, sollten Sie das in Ihrem eigenen Interesse
       ändern – das empfiehlt Lydia Haustein, Professorin für Kunstgeschichte, den
       LeserInnen der taz. In ihrem kürzlich hier erschienenen Essay begründet
       Haustein ihren Appell, sich intensiver mit dem bevölkerungsreichsten Land
       der Welt zu beschäftigen, mit den absehbaren „gravierenden Auswirkungen“
       des Geschehens in China auf unser Leben. Und damit hat sie recht.
       
       Wir in Deutschland und in Europa tun gut daran, uns so gut und so viel wie
       möglich darüber zu informieren, was im Fernen Osten geschieht, der immer
       näher rückt. Schon heute berühren uns die Geschehnisse in China stärker als
       je zuvor in der Geschichte – im Positiven wie im Negativen.
       
       Geht es etwa der chinesischen Wirtschaft prächtig, laufen auch die
       Geschäfte in Deutschland besser. Die Abgase chinesischer Kohlekraftwerke
       beeinflussen auch unser Klima. Ist China politisch friedlich, weil seine
       1,34 Milliarden Bewohner zufrieden mit sich, der Regierung und ihren
       Zukunftsaussichten sind – dann kann sich nicht nur die asiatische Region
       sicher fühlen, sondern auch der Rest der Welt.
       
       Doch Frau Haustein, die häufig nach China reist, ist unzufrieden. Der
       Informationsstand der Deutschen über China sei schlecht, behauptet sie.
       Chinesische Gesprächspartner hätten ihr das bestätigt und erklärt, woran
       das liegt: Schuld sei die „hiesige Presse“, die höchst vorurteilsvoll über
       Politik berichte und wichtige Debatten in der chinesischen KP über die
       künftige Richtung schlicht ignorierte. Denn: „Vielen Beobachtern passt es
       offenbar nicht, dass die Chinesen das Nachdenken über den Sozialismus noch
       nicht aufgegeben haben.“
       
       ## Menschenrechte, Dissidenten, Regimekritiker und Ai Weiwei
       
       Haustein wirft „der Presse“ in Deutschland vor, China „stets nur an den
       hier hochgehaltenen Spielregeln von Demokratie und Partizipation“ zu
       messen. „Menschenrechte, Dissidenten, Regimekritiker und Ai Weiwei“
       dominierten die Themenagenda. Frau Haustein zählt die Namen chinesischer
       Politologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler auf, die um ein
       „chinesisches Verständnis von Freiheit“ rängen und zugleich mit einer neuen
       Rechten konfrontiert seien, die „wie die Fraktion der Technokraten gerade
       Geschmack am Raubtierkapitalismus findet“.
       
       Diese Argumentation ist ärgerlich. Haustein belegt ihre Vorwürfe nicht.
       Welche Zeitungen liest sie? Frau Haustein, nicht „die Presse“ pflegt
       Vorurteile. Kein Wunder: China gehört zu den Ländern, die seit vielen
       Jahren als Projektionsfläche für ideologische Debatten in Deutschland
       populär sind. Die sind besonders ermüdend, weil sie in der Regel wenig mit
       dem Leben in China, dafür umso mehr mit politischen Vorlieben derjenigen zu
       tun haben, die sich gerne ereifern.
       
       Dazu gehört es, einen Gegensatz zwischen „westlichem“ und „chinesischem“
       Denken zu konstruieren. Wenn vom Ringen um ein „chinesisches Verständnis
       der Freiheit“ die Rede ist, dann klingt da die Vorstellung an, dass
       „chinesische“ irgendwie sozial gerechter und irgendwie anders als
       „westliche“ Konzepte sind.
       
       Die wichtigste Aufgabe von Journalisten in China – wie überall auf der Welt
       – ist es nicht, einen „korrekten Blick“ zu liefern. Sie sollen beschreiben,
       was gerade im Land geschieht, was die Menschen denken, welche Probleme sie
       mit sich tragen. Sie sollen der Realität so nahe wie möglich kommen. Wenn
       Frau Haustein genau hingeschaut hätte, dann wäre es ihr nicht entgangen,
       dass in der deutschen Presse immer wieder chinesische Funktionäre,
       Wissenschaftler, Künstler und Ökonomen zitiert werden – um abzubilden, wie
       die Bewohner des Landes mit ihrer Vergangenheit umgehen und welche Zukunft
       sie sich ersehnen.
       
       Der Blogger und Rennfahrer Han Han, der Ökonom Hu Angang und der Politologe
       Wang Hui zum Beispiel sind vielfach in der deutschen Presse interviewt und
       porträtiert worden, so wie der Künstler Ai Weiwei. Zu Wort kamen
       Neokonfuzianer, Nationalisten, alte wie junge KP-Funktionäre,
       Schriftsteller, Cineasten, Musiker.
       
       ## Die unterschätzte Zensur
       
       Was die Arbeit von chinesischen und ausländischen Journalisten in der
       Volksrepublik behindert, sind nicht deren ideologische Scheuklappen. In
       diesem Jahr ist es der Traum eines jeden Korrespondenten, chinesische
       Politiker, Wissenschaftler und Künstler darüber zu interviewen, worüber
       genau sich die Männer an der Spitze des Landes streiten (Frauen sind wenige
       darunter).
       
       Im Herbst soll eine neue Führungsmannschaft die wichtigsten Posten
       übernehmen. Welche Interessen vertritt der designierte Parteichef Xi
       Jinping, unterscheidet er sich politisch von seinem Vorgänger, was will er
       verändern? Oder: Warum ist Bo Xilai, der populistische KP-Chef der
       Metropole Chongqing, gestürzt worden, und wo steckt er? Wer hat seine
       Absetzung beschlossen und warum?
       
       Doch diese Informationen gibt es nicht, weder für die Chinesen noch für die
       ausländische Presse. Der Grund dafür ist einfach: Der Spielraum für eine
       freie öffentliche Debatte fehlt. Das heißt: Allgemeine Forderungen – nach
       mehr Gerechtigkeit, weniger Korruption, einer Landreform etwa oder
       Abschaffung unsozialer Steuern – sind okay. Doch wer es wagt, aus dem
       Inneren der KP-Flügelstreitigkeiten zu berichten, gefährdet sich selbst.
       
       Viele Gesprächspartner, mit denen Journalisten der taz und anderer
       deutscher Zeitungen in den letzten Jahren gesprochen haben, sind inzwischen
       im Gefängnis, ins Exil geflüchtet oder stehen unter Hausarrest. Manche von
       ihnen wurden gefoltert, viele mit Drohungen eingeschüchtert. Dazu gehört
       der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, der eine offene Debatte über die
       Zukunft Chinas und die Rolle der KP anstoßen wollte.
       
       Mit dem Vorwurf, es passe vielen Beobachtern nicht, dass die Chinesen das
       „Nachdenken über den Sozialismus“ nicht aufgegeben haben, wird der Eindruck
       erweckt, es gäbe in China eine lebhafte Debatte über die Zukunft des
       Landes. Verschwiegen wird dabei, dass diese Diskussionen eine Grenze haben:
       Der Führungsanspruch der Partei darf niemals in Frage gestellt werden.
       
       Frau Haustein erwähnt dies mit keinem Wort. Merkwürdig. Vielleicht würde es
       ihren vermeintlich unverzerrten Blick auf China stören.
       
       9 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jutta Lietsch
       
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