# taz.de -- „Radikalenerlass“ vor 40 Jahren: Zu "rot"? Ab zur Kosmetikschule
       
       > In den 70er Jahren hatte der heutige Ministerpräsident Baden-Württembergs
       > Winfried Kretschmann Berufsverbot. Jetzt fordern die Opfer
       > Rehabilitation.
       
 (IMG) Bild: Von Kretschmann gelernt?
       
       STUTTGART taz | Vor 40 Jahren haben die Ministerpräsidenten den
       „Radikalenerlass“ beschlossen. Heute ist in Baden-Württemberg mit Winfried
       Kretschmann einer der Betroffenen selbst Landeschef. Jetzt hoffen die Opfer
       der Berufsverbote, dass ihr Wunsch nach Rehabilitierung bald erfüllt wird.
       
       Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt sie dabei
       genauso wie die Bundestagsfraktionen der Linken und der Grünen. Es wäre
       „ein anständiger Zug“, fordert die grüne Bundestagsabgeordnete Ingrid
       Hönlinger, „sich für das Unrecht, das durch den Radikalenerlass begangen
       wurde, zu entschuldigen“. Sie plädiert dafür, dass die Betroffenen
       rehabilitiert und die Unterlagen des Verfassungsschutzes zugänglich gemacht
       werden. Das will auch Wolfgang Gehrcke (Linke), seinen Antrag hat der
       Bundestag allerdings abgelehnt.
       
       Der Radikalenerlass habe „das Leben zahlreicher Menschen massiv
       beeinträchtigt, ihnen Berufs- und Lebenschancen genommen“, erklärte Ulrich
       Thöne, GEW-Bundesvorsitzender jüngst bei der GEW-Veranstaltung „40 Jahre
       Radikalenerlass“ in Göttingen. Der Hauptvorstand der Gewerkschaft fordert
       deshalb neben der Rehabilitierung auch eine Entschädigung der Opfer. Dabei
       beruft sich die LehrerInnengewerkschaft unter anderem auf den Europäischen
       Gerichtshof für Menschenrechte, der die deutsche Berufsverbotspraxis 1995
       als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verurteilt
       hatte. Große Hoffnung setzen die PädagogInnen jetzt auf Winfried
       Kretschmann, der selbst seit Jahrzehnten GEW-Mitglied ist.
       
       Kretschmann war in der Ära von Ministerpräsident Hans Karl Filbinger (CDU)
       als Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland gleich zweimal von
       einem Berufsverbot bedroht. Da konnten auch zahlreiche Unterschriften von
       LehrerInnen nichts ausrichten. Sie beschrieben Kretschmann als „ruhigen,
       zurückhaltenden, vernünftigen und in keiner Weise ’radikalen‘ Kollegen“. Er
       habe zudem versichert, „dass er nicht einer der von den Behörden als
       ’verfassungsfeindlich‘ eingestuften Organisationen angehört“. Trotz allem:
       Dem heutigen Ministerpräsidenten blieb nichts anderes übrig, als an einer
       privaten Kosmetikschule zu unterrichten.
       
       Die Schülerinnen damals seien begeistert von ihm gewesen, erinnert sich
       Brigitte Brüggestrat, Inhaberin der Schule: „Kretschmann war so rot, wie es
       nur ging. Doch er war der beste Pädagoge, den ich je hatte.“
       
       Dem Oberschulamt lagen neben den Verfassungsschutzberichten und der
       Resolution der Lehrer auch zwei Stellungnahmen bedeutender Persönlichkeiten
       vor: Waldemar Bauer (FDP), Leiter des Studienseminars in Esslingen und
       Liberaler der alten Schule, setzte sich für seinen ehemaligen Referendar
       ein. George Turner, Präsident der Universität Stuttgart-Hohenheim, hatte
       mit Kretschmann Anfang der 70er Jahre als Vorsitzendem des Allgemeinen
       Studentenausschusses (AStA) häufig zu tun. Er sagt: „Ich habe Kretschmann
       als sehr zuverlässig kennengelernt.“ 1978 schaffte „Kretsch“ doch noch den
       Sprung in ein staatliches Gymnasium. Jetzt erwarten die Opfer von ihm, dass
       er das Thema auf die politische Tagesordnung setzt.
       
       10 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Hermann G. Abmayr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rechtsanwalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachruf auf Heinrich Senfft: Einer, der keine Hexenjagden mochte
       
       Der Anwalt Heinrich Senfft vertrat Wallraff, Gysi, „Stern“ und „Zeit“. Nun
       ist der Vorkämpfer des Rechtsstaats 88-jährig verstorben.
       
 (DIR) Lehrer in Baden-Württemberg: Geheimdienst findet Gericht belanglos
       
       Ein Lehrer klagt erfolgreich gegen sein Berufsverbot. Der Verfassungsschutz
       beobachtet ihn trotzdem weiter. Angeblich werde er von Linksextremen
       unterstützt.
       
 (DIR) Berufsverbote wegen Radikalenerlass: Hoffen auf Winfried Kretschmann
       
       Vom Radikalenerlass vor 40 Jahren war auch Winfried Kretschmann betroffen.
       Die Opfer des Erlasses fordern nun Rehabilitation und hoffen auf den
       Landeschef von Baden-Württemberg.
       
 (DIR) Winfried Kretschmann über Macht: „Ich wollte mein Amt aufgeben“
       
       Er hatte sich schon einen Nachfolger ausgeguckt. Nur weil der abhanden kam,
       machte Kretschmann weiter – und wurde erster Regierungschef der Grünen.
       
 (DIR) OB-Kandidat Kuhn über Stuttgart: „Ich bin ein Wertkonservativer“
       
       Fritz Kuhn, grüner Oberbürgermeisterkandidat für Stuttgart, über die
       Öko-Modernisierung der Schwabenmetropole, Heimatverbundenheit und Ernst
       Bloch.