# taz.de -- Der Trendbegriff „Nachhaltigkeit“: Der Kampf um die Zukunft der Zukunft
       
       > Nächste Woche feiert die Bundesregierung den 10. Geburtstag ihrer
       > Nachhaltigkeitsstrategie. Der Begriff hat Konjunktur – allerdings anders,
       > als er mal gedacht war.
       
 (IMG) Bild: Nachhaltigkeit ist… für jeden Baum, den man fällt, einen neuen zu pflanzen.
       
       Keiner hat’s gemerkt. Aber seit dem 12. Juni 2009 ist in Deutschland
       Nachhaltigkeit offizielle Staatsdoktrin. Denn an diesem Tag stimmte nach
       zwei Dritteln der Bundestagsabgeordneten auch der Bundesrat für eine
       Änderung des Grundgesetzes. Seitdem gilt für die öffentlichen Haushalte die
       „Schuldenbremse“, die besagt, dass der Staat in einigen Jahren kaum noch
       neue Kredite aufnehmen darf. Ein schönes Beispiel dafür, dass die heutige
       Politik die Spielräume der Zukunft nicht allzu sehr beschneiden darf.
       
       Und ein schönes Beispiel dafür, dass Nachhaltigkeit inzwischen salonfähig
       ist – sofern sie den Regeln der herrschenden Ökonomie folgt. Es gibt kein
       größeres wirtschaftliches Unternehmen, das keinen „Nachhaltigkeitsbericht“
       vorlegt. Dieser sperrige Begriff hat sich in Politik, Verwaltung und
       Zivilgesellschaft endlich breitgemacht. Er ist en vogue. Eine Dekade hat es
       gedauert.
       
       Dazu passt das Jubiläum: Die Bundesregierung samt Expertenrat,
       Parlamentarierbeirat und „grünem Kabinett“ der Staatssekretäre feiert das
       zehnjährige Bestehen der offiziellen deutschen „Nachhaltigkeitsstrategie“,
       die am 17. April 2002 beschlossen wurde.
       
       Wer sich die Mühe macht, den dreihundertseitigen aktuellen
       „Fortschrittsbericht“ der Bundesregierung zum Stand der Zukunftsrettung zu
       lesen, der sieht: Wenn es um die wirtschaftliche Entwicklung geht, sieht es
       ins Sachen nachhaltiger Entwicklung gut aus. Was das Soziale betrifft, ist
       die Bilanz gemischt. Geht es jedoch um die Umwelt, weist der Trend mit
       wenigen Ausnahmen in die falsche Richtung.
       
       Trotzdem oder gerade deswegen hat die Nachhaltigkeitsidee Karriere gemacht.
       Sie leuchtet ja auch ein: Wer einen Wald erhalten will, darf nicht mehr
       Holz schlagen, als nachwächst. Also lebt der kluge Forstwirt vom Ertrag,
       nicht von der Substanz. So einfach das klingt, so abgelutscht ist jedoch
       der Begriff.
       
       ## Vom Joghurt bis zur Geldanlage
       
       Das Publikumsinteresse sinkt schon, bevor man „nachhal…“ zu Ende gesprochen
       hat. Da kann man leicht zynisch werden. Denn als nachhaltig wird alles
       verkauft, was die PR-Branche gerade darunter verstehen will, ob Joghurt
       oder Geldanlage. Der Begriff ist so unscharf, dass niemand wegen
       irreführender Hinweise auf Nachhaltigkeit abgemahnt werden kann.
       
       Ob das nur Zufall ist oder ob die Wirtschaft hier gezielt einen Begriff
       verwässert, bis sich seine Substanz völlig auflöst und das allgemeine
       Interesse an ihm erlahmt, das sollen Verschwörungstheoretiker diskutieren.
       Tatsache ist: Die Nachhaltigkeit war trotz Radfahrdemos, umfangreicher
       Gutachten und UN-Konferenzen bis vor ein paar Jahren zwischen Aktendeckeln
       eingeschläfert und sorgfältig zu Tode verwaltet worden.
       
       Denn dummerweise kam der Begriff auch international als sustainability
       gerade zu einer Zeit groß in Mode, als die Vorzeichen andere waren:
       Angesagt waren in den zwanzig Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges
       Globalisierung, Expansion und Wirtschaftswachstum um jeden Preis. Die
       neoliberale Idee des grenzenlosen Marktes war für die Länder des Ostens und
       Südens mit ihrem ökonomischen Nachholbedürfnis so attraktiv, dass sie auf
       Nachhaltigkeit pfiffen.
       
       ## Gier war gut
       
       Und die Industrieländer nutzten das Konzept, das eigentlich eine breite
       Debatte der Bevölkerung über eine bessere Zukunft („Agenda 21“) vorsah, zum
       größten Teil als Feigenblatt für den grün angepinselten
       Raubtierkapitalismus. Gier war gut. Und Maßhalten galt nur in der
       Fastenpredigt. Oder als Ratschlag an die Gewerkschaften bei
       Lohnforderungen.
       
       Dann kam die Finanzkrise.
       
       Sie zeigte erneut: Geld wächst nicht auf Bäumen. Auch ökonomische Systeme
       haben eine Grenze. Es war kein Kompliment für die Nachhaltigkeit, dass ihr
       Wert erst dann allgemein anerkannt wurde, als ihre Konkurrentin krachend
       gegen die Wand gefahren war. Aber immerhin: Plötzlich waren die Tugenden
       der „schwäbischen Hausfrau“ wieder gefragt: Solidität. Vernunft. Augenmaß.
       Die mecklenburgische Hausfrau an der Spitze der deutschen Regierung
       trichterte es der Welt, Europa und den Griechen ein: Man kann eine Weile
       lang mehr Geld ausgeben, als man einnimmt. Aber das geht nicht auf Dauer
       gut.
       
       Nicht zufällig sind die Deutschen die Zuchtmeister der Nachhaltigkeit. Der
       Begriff wurde hier erfunden, und als stärkste Wirtschaftsmacht in Europa
       haben wir am meisten zu verlieren, wenn das Finanzsystem zerbröckelt. Es
       ist aber noch mehr: Wir lieben das Seriöse, Bewahrende, Konservative,
       deshalb leuchtet uns das Konzept der Nachhaltigkeit ein. Wir trennen Müll,
       sparen Geld und Energie, lieben die übrig gebliebene Natur, suchen den
       Konsens statt den Konflikt, wir arbeiten solide und planen langfristig.
       
       Es gibt keine andere große Wirtschaftsmacht weltweit, die so reich und so
       grün ist – und ihre Angst vor der Zukunft durch möglichst viel
       Zukunftsfähigkeit lindern will. Die Energiewende wäre ohne die Jahrzehnte
       des Nachhaltigkeitsdiskurses nicht möglich. Wir sind bei dem Thema weiter,
       als wir denken.
       
       ## Aufgabe für zehn Jahre
       
       Aber leider nur im Denken. Denn der Schritt zur Umsetzung ist noch lange
       nicht geschafft. Das ist die große Aufgabe für mindestens die nächsten zehn
       Jahre der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie: die Papiere mit Leben zu
       füllen und aus dem konservativem Bewahren eine Strategie der aktiven
       Selbstbeschränkung zu entwickeln.
       
       Das wird extrem schwierig: Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
       nicht dem simplen Wachstum zu huldigen, sondern nach der Lebensqualität zu
       fragen – unseren Lebensstil zu ändern und unsere Konsummuster gleich mit.
       Es ist kein gutes Zeichen für die Zukunft der Zukunft, dass sich im Streit
       über diese Frage gerade eine Enquetekommission des Bundestages aufreibt.
       
       Um Deutschland auf Nachhaltigkeitskurs zu bekommen, müssen wir wissen, wann
       das Maß voll ist, und dann auch tatsächlich bewusst und selbstbewusst
       Grenzen ziehen. Die Nachhaltigkeit muss aus dem Finanzministerium wieder in
       die Ressorts Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft und Umwelt.
       
       Das heißt: die Energiewende mutig zu realisieren und weltweit dafür zu
       werben; die europäische Landwirtschafts- und Verkehrspolitik auf die
       Zukunft auszurichten; die Schwellenländer für die Vorzüge einer konkreten
       „grünen Wirtschaft“ zu gewinnen. Und die Idee der Schuldenbremse zu
       erweitern: auf einen Mechanismus, der verhindert, dass wir jeden Tag
       ökologische und soziale Hypotheken bei unseren Nachkommen aufnehmen, die
       wir niemals zurückzahlen können.
       
       14 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernhard Pötter
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Klimawandel
 (DIR) tazlab 2012: „Das gute Leben“
       
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