# taz.de -- Anstand und Stil im tazlab: Voll helles Bewusstsein
       
       > Auf dem taz.lab 2012 diskutierte die Philosophin Birgit Recki Haltungen,
       > Anstand und Stil in der politischen Krise. Dokumentation ihres Vortrags.
       
 (IMG) Bild: Auch politische Gestaltung hat mit Stil zu tun und wirkt so als Türöffner zum guten Leben.
       
       Es kann nicht ausbleiben, dass die Fragestellung, so wie wir sie im Titel
       zu dieser Veranstaltung formuliert haben, auch wie eine Fußnote zu der
       nunmehr zwei Monate zurückliegenden Affäre anmutet, die zum Rücktritt des
       vorletzten Bundespräsidenten geführt hat. Oder dass sie Assoziationen
       auslöst an unsere vorletzte Affäre, an die Plagiatsaffäre Guttenberg, die
       nun schon ein gutes Jahr hinter uns liegt. Inaktuell ist sie aber deshalb
       auf keinen Fall, nur weil diese Affären jetzt durch ihr – in beiden Fällen
       viel zu lange hinausgezögertes – Ende schon wieder der Vergangenheit
       angehören.
       
       Ich nutze die Gelegenheit, mit diesem Hinweis schon von Anfang an auf eine
       unerlssliche Bedingung des guten Lebens aufmerksam zu machen: volle
       Bewussteinshelle in allen Fragen, die von Belang sind – und zu dieser
       Bewusstseinshelle gehört die kompetente Erinnerung, gehört auch eine
       Erinnerungskultur, die uns wenigstens die Chance gibt, aus schon einmal
       vorgekommenen Fehlern zu lernen; und zwar auf beiden Seiten: auf der Seite
       derer, die die Subjekte dieser Fehler und auf der Seite derer, die die
       Adressaten einer Strategie waren, welche sich dann als Fehler erwiesen hat.
       
       Ich gehe also davon aus, dass die Probleme, die vor kurzem akut waren,
       weiterhin aktuell bleiben, auch wenn sie im aktuellen Fall erst einmal
       gelöst zu sein scheinen. Denn welcher erwachsene Zeitgenosse würde
       angesichts des Zustandes unserer politischen Kaste und angesichts der
       Strukturschwäche des politischen Lebens wohl jetzt erwarten, dass es die
       letzte Krise dieser Art war, die wir zu unseren Lebzeiten erlebt haben
       werden? Mit anderen Worten: Die nächste Krise dieser Art kommt bestimmt –
       nach dem Skandal ist vor dem Skandal, und deshalb dürfte es sich durchaus
       lohnen, im Interesse an den (privaten wie politischen) Bedingungen des
       guten Lebens (noch) einmal über das Syndrom nachzudenken, das in dieser
       Situation auffällig geworden ist.
       
       Dass in der politischen Auseinandersetzung und Repräsentation, dass
       namentlich in politischen Krisen eine Herausforderung nicht nur an das
       sachliche Standing und die demokratische Redlichkeit, die Belastbarkeit und
       den Einfallsreichtum, also: die Kreativität der Akteure ergeht, sondern
       gerade auch an ihren Anstand und ihr Stilempfinden, dürfte unmittelbar
       einleuchten; ebenso, dass wir uns gerade in politischen Krisen Anstand und
       Stil in besonderem Maße wünschen, damit zu den Sachproblemen nicht auch
       noch unnötig Porzellan in den menschlichen Beziehungen zerschlagen wird.
       
       ## Krisen sind Orientierungskrisen
       
       Krisen sind, egal worum es in der Sache geht, immer auch
       Orientierungskrisen, und die haben es an sich, dass eben nicht zu jedem
       Zeitpunkt feststeht, was und wie viel des Guten zu tun ist. Da dürfte
       Haltung, anständiger Umgang miteinander, guter Stil das konventionelle und
       individuell einzulösende Minimalprogramm sein, auf das nicht verzichtet
       werden darf – ein Medium gewissermaßen, in dem man es mindestens, solange
       die Orientierungsnot andauert, miteinander aushalten kann. Wie dramatisch
       die Krise ist, wie tief die Orientierungsnot reicht, wird dann allerdings
       häufig erst daran erkennbar, dass nicht einmal dieses Minimalprogramm
       eingelöst wird.
       
       Das Ausmaß der Krise fällt den Beteiligten und Betroffenen nicht selten
       daran auf, dass mit einemmal der bestürzende Eindruck entstehen kann, die
       Kultur wäre nur eine ganz dünne Schicht Politur, mit der sich die Akteure
       für kurze Zeit ein bisschen Oberflächenglanz zu verschaffen suchten – und
       vergeblich. In solchen Situationen kann man dann sogar von erwachsenen
       Profis Sätze hören, bei denen einem die Ohren abfallen möchten: Ich kann
       deine Fresse nicht mehr sehen. Solche politischen Akteure haben – wie man
       in der Weltgegend sagt, aus der ich komme – „nichts zuzusetzen“. Das muss
       man ins Hochdeutsche ungefähr übersetzen mit: da ist keine menschliche
       Substanz, auf die man zurückgreifen könnte.
       
       Es ist aber sogar die Frage, ob die Problematisierung bis hierhin ausreicht
       – ob man nicht vielmehr weiter gehen und wahrnehmen muss, dass auch in der
       Entstehung der politischen Krise häufig bereits ein Mangel an Haltung, an
       Anstand und an Stil eine Rolle spielt, womöglich sogar ursächlich ist?
       Hätte sich die Affäre Wulff jemals so hochgeschaukelt, wäre sie jemals
       ernsthaft zur Krise geworden, wenn ihr Subjekt/Objekt nicht an der
       entscheidenden Stelle versagt hätte, an der Stelle, als es einen Satz auf
       die Mailbox eines Chefredakteurs sprach, den jeder kompetente
       Gesprächspartner als eine Drohgebärde aufgefasst hätte?
       
       Auch wenn der Satz: „Wenn der Artikel so erscheint, dann wird das
       Konsequenzen haben“ nicht im juristisch belastbaren Sinne als Versuch der
       Behinderung der Pressefreiheit erwiesen ist – er ist ein Lapsus, ein
       Aussetzen im Konsens des Diskurses, eine unanständige Zumutung allererster
       Sorte, angesichts derer, so behaupte ich – jeder sich gesagt hätte: `Oho!
       Da wollen wir doch mal weitersehen ́.
       
       ## Erwiesene Fehler
       
       Und ganz offenbar hat das auch nicht nur der direkte Adressat gedacht,
       sondern eine Menge Kollegen über die verschiedensten Redaktionswände
       hinweg, so dass man eigentlich sehr schnell wissen konnte, was bei aller
       Offenheit im Ausgang der Ermittlungen der eigentliche, vor allen
       Ermittlungsergebnissen erwiesene Fehler gewesen war – ein Fehler, in dem
       sich mangelnde Gediegenheit der demokratischen Grundintuition und mangelnde
       Sicherheit im Stil der verbalen Performance auf das unschönste miteinander
       paarten.
       
       Soviel nur zur Stützung der Option, von der ich hier ausgehe: dass schon im
       Entstehen von politischen Krisen auch Stilfragen eine Rolle spielen können.
       Doch das ist nichts alles. Der schlechte Stil, das Sichvergreifen in der
       Form des Agierens, spielt vor allem im Zentrum des Problems eine Rolle.
       Wenn ich mich nicht sehr vertue, dann hat die Krise um den verflossenen
       Bundespräsidenten Wulff mit anderen Skandalen und Affären im politischen
       Leben dieses Landes eine strukturelle Gemeinsamkeit, und die ist es, die
       ich gern unter den Stichwörtern Haltung, Anstand, Stil genauer betrachten
       möchte.
       
       Wir alle kennen die nahezu gesetzmäßige Verlaufsform, die der Prozess der
       Beschuldigung und Exkulpation politischer Akteure regelmäßig nimmt, sobald
       Zweifel an der Rechtmäßigkeit, Redlichkeit, der Unverfänglichkeit, der
       unzweifelhaften Distanz zu allem, was korrumpieren und kompromittieren
       könnte, und dann immer auch an der Transparenz des Agierens aufkommen,
       sobald also die Ansprüche, unter denen verantwortliche Amtspersonen nun
       einmal stehen, zu Vorwürfen werden.
       
       Diese Verlaufsform ist ausnahmslos immer dieselbe, meines Wissens haben wir
       (zumindest in der Politik) noch keinen einzigen Fall erlebt, der als
       Ausnahme namhaft gemacht werden könnte, es scheint sich geradezu um eine
       jener Eigendynamiken zu handeln, für die wir den Ausdruck „Sachzwang“
       reservieren, aber wir haben gute Gründe, die Intuition ernstzunehmen, dass
       es doch kein Sachzwang sein muss, dass die Eigendynamik, die da vor uns
       abläuft, eben nicht zwangsläufig ist.
       
       ## Appell zur Taktik
       
       Es gibt Alternativen. Und weil es dann doch wieder einmal so abläuft, wie
       wir es schon zigmal in vorangegangenen Fällen erlebt haben, geraten so
       viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Bürger inzwischen an den Rand der
       Verzweiflung oder doch zumindest an die Grenze ihrer Toleranz, und der
       Ausdruck „Politikverdrossenheit“ ist jedem, der ihn hört, sofort
       verständlich.
       
       Ich spreche davon, dass der Träger von Verantwortung im politischen
       Prozess, sobald seine Redlichkeit in Zweifel gezogen ist, seinen Ehrgeiz
       darin sieht, so gut wie möglich aus der Sache herauszukommen, und dieses
       Programm als Lizenz, womöglich sogar als Appell zu der Taktik begreift,
       immer soviel und genauso viel zuzugeben und zu erklären, wie ihm im Prozess
       der Vorwürfe und der Anschuldigungen bereits positiv nachgewiesen werden
       konnte. Und kein Stück mehr.
       
       `Salamitaktik ́ ist die gebräuchliche Metapher für dieses scheibchenweise
       Abschneiden von Portionen der ganzen Wahrheit, und die Haltung, in der
       diese Taktik ausgeübt wird, ist gerade nicht die der Wahrhaftigkeit –
       dieses Vorgehen ist vielmehr genauso wahrheitswidrig wie die absichtsvolle
       flächendeckende Lüge. Ein entscheidender Anteil an dieser Haltung der
       Unredlichkeit besteht gerade darin, dass in diesem Verfahren eine Taktik zu
       sehen ist, die insofern im Unterschied zu einer Strategie steht, als diese
       dazu taugt, ein ganzes Feld effektiv, da langfristig zu organisieren,
       während die Taktik nur ein kurzfristiges Manöver darstellt: Doch haben
       Taktik und Strategie immerhin eine signifikante Gemeinsamkeit – den
       instrumentalisierenden Umgang mit den Menschen und mit der Wahrheit, auf
       die die Menschen einen Anspruch haben.
       
       ## Zeichen der Stunde
       
       Was wir uns stattdessen nicht nur wünschen, sondern auch für richtig und
       sogar für möglich halten, wäre ein taktik- und strategiefreies Agieren:
       dass die Zeichen der Stunde erkannt und daraufhin die Karten offen auf den
       Tisch gelegt werden. (Der Ministerpräsident Kretschmann hat in seinem
       Podiumsgespräch auf dem tazlab m.E. zu Recht darauf insistiert, dass es
       tendenziell fanatisierend und politikwidrig sei, wenn in der politischen
       Auseinandersetzung das Unterliegen der Minderheit als Unterdrückung der
       Wahrheit durch die Mehrheit denunziert wird; mit anderen Worten: die
       Meinungsbildung und Entscheidung unter dem Mehrheitsprinzip darf nicht
       unter das Modell von Wahrheit und Lüge subsumiert werden.
       
       Dass es im Prozess der politischen Entscheidung in diesem Sinne nicht um
       Wahrheit, sondern um Interessenvertretung geht, diese Zurückweisung des
       Wahrheitsanspruchs für die Politik ist übrigens eine der Positionen, die
       Hannah Arendt in ihrer politischen Theorie vertritt. – Damit ist aber nicht
       gemeint, dass Wahrheit in der Politik überhaupt keine Rolle spielte.
       Selbstverständlich gibt es in der Politik eine Ebene – die Ebene, auf der
       man sich gegenseitig Rede und Antwort steht, und auf der es auch hier einen
       ebensogroßen Unterschied macht wie im privaten alltäglichen Leben, ob man
       die Wahrheit sagt oder lügt.)
       
       Warum geschieht das nicht, dass Politiker, wenn sie unter Verdacht und
       Vorwurf geraten, die Zeichen der Stunde erkennen und daraufhin die Karten
       offen auf den Tisch legen? Warum ziehen die Akteure aus den Schiffbrüchen
       ihrer Vorgänger nicht diese einfache Lehre, sich im Ernstfall, wenn man
       schon unter Verdacht und Vorwurf steht, so nicht zu blamieren, wie man sich
       nur blamieren kann, wenn man sich von der langsamen aber zwangsläufigen
       Aufdeckung der Wahrheit durch eine misstrauisch und ehrgeizig gewordene
       kompetente Öffentlichkeit vorführen lässt?
       
       Der Grund, warum noch kein in die Krise geratener Politiker gemäß diesem
       Wunsch des Publikums gehandelt und im Augenblick der Anklage (wegen
       Vorteilsnahme, wegen Nepotismus, wegen Bestechlichkeit u.ä.) die ganze
       Wahrheit offenbart hat, scheint zum einen ganz simpel zu sein: Der über
       institutionellen Einfluss und über Macht verfügende, durch die Dignität des
       Amtes prominente Akteur traut sich zu, die Fäden auch nach Beginn der Krise
       zumindest soweit in der Hand zu behalten, dass er das Ausmaß der
       kompromittierenden Informationen noch ultimativ kontrollieren kann.
       
       Das heißt aber nichts anderes als: Er fühlt sich selbst per se dem Rest der
       Menschheit überlegen, weil er sich für schlauer hält. Und das ist es dann,
       was sich mit dankenswerter Häufigkeit als Illusion erweist.
       
       ## Schwerer Denkfehler
       
       Abgesehen davon, dass hier ein schwerer Denkfehler liegt oder vielleicht
       sogar ein Mangel an Intelligen, da es ja gerade nicht besonders schlau,
       sondern im Gegenteil eine schwere Dummheit ist, sich dieser Illusion der
       Überlegenheit über den Rest der Welt hinzugeben, das Fatale daran nicht zu
       durchschauen – abgesehen davon liegt in dieser verkehrten Haltung auch der
       beklagte Verlust an Anstand und Stil. Es ist eine verkehrte Haltung, den
       Rest der Menschheit für dümmer zu halten als man selbst es ist; und
       abgesehen davon, dass es unmoralisch ist, andere Menschen durch taktischen
       Umgang zu instrumentalisieren, ist es schlechter Stil.
       
       Doch das ist nicht das einzige, das man an diesem fatalen Muster: nicht
       mehr zuzugeben, als die anderen bereits wissen, festhalten muss. Der
       markanteste Punkt, der an dieser Struktur auffällt, ist doch dieser: Wer so
       vorgeht, handelt entsprechend den Regeln eines Strafrechtsprozesses. In
       einem Strafrechtsprozess gilt für die Verteidigung des Angeklagten mit der
       methodischen und methodisch sehr sinnvollen Unschuldsvermutung auch die
       Maxime, ihn so gut wie möglich dastehen zu lassen, und das beinhaltet, dass
       dem Angeklagten nicht zugemutet werden kann, etwas zu sagen oder zu tun,
       das ihn selbst belastet.
       
       Er hat das Recht, nicht mehr zu sagen, als ihm vorgeworfen wird, und er hat
       das Recht, nicht mehr zuzugeben, als ihm nachgewiesen werden kann. Was wir
       regeläßig in unseren politischen Skandalen erleben müssen, ist also die
       keineswegs selbstverständliche Übertragung dieses Modells vom
       Gerichtsprozess auf den zivilen, unter wechselseitigen moralischen
       Ansprüchen stehenden Umgang miteinander, wie er in der politischen
       Öffentlichkeit stattfindet. Darin hat man zunächst einen Kategorienfehler
       zu erkennen: Die bürgerliche Öffentlichkeit, das politische Leben ist kein
       Strafrechtsprozess und überhaupt kein Tribunal.
       
       Wer in der Öffentlichkeit die Rolle des Angeklagten performiert,
       verwechselt etwas. Und es ist diese Verwechslung, in der mit dem Problem
       der Selbstdemontage auch das Problem des Anstands- und Stilverlustes
       entspringt. So unverzichtbar, wie das Recht als institutioneller Rahmen des
       politischen Prozesses ist – es wäre dringend erforderlich, dass die
       politischen Akteure aufhörten, das Modell des Strafrechtsprozesses immer
       dann zu missbrauchen, wenn sie in die Krise geraten und im Vorfeld
       verhindern wollen, dass man ihnen den Prozess macht.
       
       ## Rolle der Urteilskraft
       
       Was damit aber in den Horizont der Überlegung kommt, ist die Rolle der
       Urteilskraft im politischen – und wie man gleich ergänzen darf: übrigens
       auch im privaten – alltäglichen Leben. Urteilskraft ist das Vermögen,
       Unterschiede zu machen, der Distinktion und Differenzierung, das
       intellektuelle wie emotionale Organ der Angemessenheit, der Angemessenheit
       unserer Reaktion auf die Herausforderungen der Situation.
       
       Schon Aristoteles hat die Urteilskraft als die entscheidende Kapazität der
       praktischen Vernunft begriffen, als die abwägende Klugheit, mit der wir im
       Handeln das richtige Maß treffen, Kant hat die Urteilskraft sowohl in der
       Erkenntnis wie im Geschmacksurteil betont, als die Fähigkeit, etwas als das
       zu erkennen, was es ist, es weder zu überschätzen noch zu unterschätzen, es
       vor allem nicht in die falsche Schublade einzuordnen; aber auch: auf dieser
       Basis einer richtigen Zuordnung in reflektierter Weise darauf einzugehen
       und damit umzugehen.
       
       Damit bin ich auch an dem Punkt, an dem die Erinnerung an Hannah Arendt
       angezeigt ist. Hannah Arendt (1906-1975), die große Dame der politischen
       Philosophie des 20. Jahrhunderts, geht über ihre beiden großen Vorgänger
       noch einen entscheidenden Schritt hinaus und sie setzt zudem ihren eigenen
       Akzent, indem sie – wie wir ihren Studien der 60er Jahre entnehmen – die
       Politik insgesamt in der Urteilskraft begründet sieht, und daran die
       Fähigkeit zur anteilnehmenden Reflexion auf die Befindlichkeit und die
       Interessenlage der Anderen betont.
       
       Durch diese Fähigkeit kann die Einstellung auf die Gemeinsamkeit zwischen
       den Menschen und auf die praktische Solidarität mit den Anderen zum
       verbindlichen Gedanken und zum belastbaren Element gemeinsamer Praxis
       werden. Arendt beruft sich nachdrücklich auf Kant, um diesen Grundgedanken
       ihrer eigenen politischen Theorie zu erläutern: Es gibt tatsächlich bei
       Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) eine Überlegung, die dazu
       angetan ist, die Funktion des reflektierenden, die Gemeinsamkeit mit den
       Anderen herstellenden Urteilens im Zusammenhang des praktischen Handelns zu
       klären.
       
       ## Operation der Reflexion
       
       Wir versetzen uns in einer „Operation der Reflexion“ an die Stelle jedes
       anderen, wenn wir herauskriegen wollen, ob unser Handeln allgemein
       zumutbar, also: gerechtfertigt ist, wir überwinden auf diese Weise das
       Partikulare unseres eigenen Interessenstandpunktes, indem wir unsere
       Vernunft gewissermaßen an die der ganzen Menschheit halten. Dass diese
       „Operation der Reflexion“ Stationen machen muss in den Standpunkten
       bestimmter anderer Individuen, dass wir m.a.W. nicht ganz und gar abstrakt
       von unserer eigenen Position den Zugang zur ganzen Menschheit haben, liegt
       auf der Hand.
       
       Aber im Grunde finden wir auf diese Weise heraus, was allgemein verlangt
       und zugemutet werden kann. Sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen –
       das trägt einen elementaren Impetus der Anerkennung, es trägt ein
       egalitäres Ethos des Agierens auf gleicher Augenhöhe und ist insofern auch
       der Nukleus eines demokratischen Selbstverständnisses, an dem zugleich eine
       Dimension der Empathie erkennbar wird, dadurch, dass eine solche Reflexion
       für Arendt nicht anders zu leisten ist als unter Einsatz unserer ganzen
       Phantasie, mit der wir uns in den Anderen und in seine Lage
       hineinversetzen.
       
       An der Stelle des Anderen denken, das bedeutet die Bereitschaft, eine ganze
       Staffel der Empathie zu durchlaufen: allem voran die Bereitschaft, sich
       vorzustellen, dass der Andere dieselben berechtigten Ansprüche auf Wahrung
       seiner Integrität, seiner Interessen, auf Erfüllung seiner Wünsche hat wie
       ich selbst; dann aber auch, sich mithilfe der eigenen Phantasie (also
       anschaulich nund konkret) vorzustellen, wie es ihm zumute ist, wenn er die
       Folgen meines Handelns zu erleiden hat.
       
       Hannah Arendt zweckentfremdet diesen Gedanken Kants im Grunde, wenn sie ihn
       von vornherein als Grundlegung des Politischen begreift, zumindest spitzt
       sie ihn auf die politische Praxis zu, während er laut Kant schlechthin
       alles menschliche Agieren betrifft, also viel allgemeiner gefasst ist. Das
       hat immerhin der Vorzug der Deutlichkeit, wenn wir uns fragen, worin sie
       die Grundlage des Politischen sehen will: in der Urteilskraft, im
       reflektierenden Urteil, in dem wir mitdenken und uns in den Anderen
       hineinzuversetzen suchen. Nach meiner Auffassung spricht vieles dafür, die
       so betonte Funktion der Urteilskraft wie Kant nicht ausschließlich für die
       Politik reservieren zu wollen, sondern sie vielmehr weiter zu fassen, indem
       man sie auch im alltäglichen privaten Leben wahrnimmt.
       
       Es spricht aber gleichwohl vieles für Arendts kritische Diagnose, dass es
       diese Fähigkeit und Bereitschaft ist, die ausfällt, wo immer politische
       Akteure den berechtigten kommunikativen Anspruch der Anderen auf Achtung,
       auf Rechenschaft: auf Transparenz und volle Wahrheit, in seinem elementaren
       Status missachten, indem sie ihn nach dem Modell des Strafrechtsprozesses
       mit taktischer Informationsdosierung wie in einem institutionellen
       Schlagabtausch zwischen Staatsanwalt und Rechtsanwalt abfertigen.
       
       Was dann vorliegt, ist ein doppeltes Defizit: Zum einen ist es bereits ein
       Mangel an reflektierender Urteilskraft, die Anderen für dumm zu halten,
       anstatt sich an die Stelle jedes Anderen zu versetzen, wodurch man in der
       Unterstellung gleichrangiger und gleichwertiger Intelligenz immer schon auf
       einen eigenen Überlegenheitsvorbehalt verzichtet, sondern sich vielmehr auf
       gleiche Augenhöhe mit ihnen begibt. Zum anderen zeigt sich ein weiteres
       Defizit an Urteilskraft in der Verwechslung der normativen Charaktere
       unserer Diskurse: Die Mitbürger und Mitmenschen haben – ceterum censeo –
       einen ganz anders bemessenen Anspruch auf Wahrheit, als ihn der Ankläger in
       einem Strafrechtsprozess geltend machen kann.
       
       Zum Schluss würde ich gern einen Einwand vorwegnehmen und entkräften, der
       zwar in dem Maße schon gegenstandslos geworden sein könnte, indem es mir
       womöglich gelungen ist, mit meinen soeben angestellten Überlegungen etwas
       deutlich zu machen, der aber nach meiner Erfahrung gerade den kritischen
       Zeitgenossen nahe liegt. Haltungen, Anstand und Stil – insbesondere die
       letzte Kategorie: Stil, dürften sich diesem Einwand ausgesetzt sehen: Gibt
       es für den problembewussten Zeitgenossen nicht etwas Wichtigeres als
       Stilfragen?
       
       Gerade den großen Titel „Das gute Leben – Es gibt Alternativen“ könnte man
       so verstehen, als ob damit doch drängende Fragen von einiger Größenordnung
       angegangen werden sollen, drängende Menschheitsfragen in Theorie und
       Praxis. Nun gilt ebenso für die Probleme der harten Realität wie für die
       großen philosophischen Menschheitsfragen nach unserer Stellung in Raum und
       Zeit, nach Ich und Welt, nach Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit (und Kant
       zufolge: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?) – für
       alle damit angeschnittenen Probleme, dass sie sich nicht auf Stilfragen
       zurückführen lassen, sondern schwerer wiegen.
       
       ## Vom Wesentlichen ablenken
       
       Nach diesem Befund könnte es so aussehen, als ob die Beschäftigung mit
       Stilfragen – ob absichtlich oder ungewollt – geradezu die Funktion hätte,
       vom Wesentlichen abzulenken. Anders ausgedrückt: Stilprobleme ernstzunehmen
       wäre ein Form der Ideologie. Einen solchen Einwand muss man nicht erst
       erfinden, er begegnet einem tatsächlich. Nicht wenige Zeitgenossen dürften
       ihn einleuchtend finden.
       
       Dagegen ist vor allem eines zu sagen: Die Einstellung von Menschen auf die
       Wirklichkeit und ihre Probleme ist ein „Inklusivpaket“, in dem Begriffe,
       Gedanken, gedankliche Auseinandersetzung, Konzeptbildung dazugehören. Zur
       menschlichen Praxis gehört das Denken, auch das Nachdenken; damit aber auch
       der Abstand, die Reflexionsdistanz, die dazu erforderlich ist, die
       geschützten, auch institutionell geschützten Räume, in denen das Denken und
       das Nachdenken als Methode kultiviert wird. Mit der Anerkennung der
       Notwendigkeit dieses Distanzmediums der Reflexion ist man aber immer schon
       auch in Distanz zu den Problemen der harten Realität.
       
       Der Dogmatismus des Sichverpflichtens auf die harte Realität und die
       Bewältigung ihrer Probleme ist von daher nur um den Preis der Schizophrenie
       (man kann auch deutlicher sagen: der Verlogenheit), nämlich um den Preis
       des Ausblendens von elementaren Tatsachen zu haben, die schlichtweg
       dazugehören, die nicht per Dekret ausgeschaltet werden können. Wenn man
       versuchen würde, ihn ernsthaft zu vertreten, dann müsste man nicht erst bei
       Stilfragen und Anstandsfragen den Ideologieverdacht (oder Luxusverdacht)
       geltend machen, sondern auch schon in den Fragen, die ich gerade als die
       großen philosophischen Menschheitsfragen angeführt habe, und konsequent
       auch schon gegenüber allen Veranstaltungen, mit denen man sich überhaupt
       die Zeit nimmt, gründlich methodisch und das heißt immer auch: mit Abstand
       von den realen Problemen und in geschützten Räumen über diese nachzudenken.
       
       Wenn der Einwand gegen das Ernstnehmen von Stilfragen somit durch den
       Hinweis entkräftet werden kann, dass er sich per se nicht konsequent
       aufrechterhalten lässt, dass er m.a.W. inkonsistent ist, dann heißt das
       aber nicht, dass man auch schon ein Argument hätte, sich mit Fragen von
       Stil und Anstand auseinanderzusetzen; keinen Einwand gegen etwas zu haben –
       daraus folgt schlichtweg nicht, auch schon einen guten Grund dafür zu
       haben. Deshalb bleibt immer noch die Frage: Weshalb sollen wir uns damit
       befassen, und nicht lieber mit etwas anderem?
       
       ## Beschädigung der Lebensperspektive
       
       Wenn der Hinweis auf die Instrumentalisierung der Öffentlichkeit soeben
       noch nicht drastisch klar gemacht hat, welche Verfälschung, ja:
       Beschädigung unserer Lebensperspektiven auch in dem schlechten Stil
       politischer Akteure auf dem Spiel steht, dann muss man eigens auf den
       Horizont hinweisen, in dem er steht. Es gibt allerdings eine große
       Menschheitsfrage, bei der man durchaus ins Nachdenken kommen und finden
       kann, dass sie auch das Ernstnehmen von Stilfragen mit abdeckt. Das ist das
       Glück der Menschen, auf das die Idee des guten Lebens immer auch
       hinauslaufen soll.
       
       Im Begriff des guten Lebens, in dem der Anspruch auf Selbstbestimmung
       artikuliert ist, auf Handeln nach eigener Einsicht, auf einen Lebensplan,
       in dem man zu sich selber und zu seinen Verhältnissen stehen und sie
       bejahen kann, geht es um das menschliche Glück. Damit ist „das gute Leben“
       ein Begriff, der aufs Ganze geht und den ganzen Menschen erfasst. Dazu
       gehören nicht nur ethische und politische Bewertungen.
       
       Der Anspruch auf ein gutes Leben schließt immer auch die ästhetischen
       Qualitäten der Welt und des Lebens und des eigenen Agierens mit ein, ja er
       läuft zwangsläufig auf einen Gestaltungsanspruch hinaus, der nicht nur
       einzelne stationäre Probleme betrifft, sondern sich auf das Ganze der
       Lebensführung und den ganzen Menschen erstreckt. Ihn einzulösen, beinhaltet
       immer auch das Achten auf die angemessene Form seiner Realisierung. Das
       heißt: Das gute Leben hat auch eine ästhetische (und damit übrigens immer
       auch eine technisch-pragmatische) Dimension!
       
       Denn Gestaltung hat es immer auch mit Formfragen zu tun, und auf diese
       Weise deutet sich vielleicht an, dass und wie der Begriff des Stils als
       Exponent eines wie sehr auch immer individuell geprägten Anspruchs auf
       angemessene Form mit dazu gehört, wenn es um das gute Leben geht. Wenn man
       im Einzelnen erläutern soll, was denn ein Leben wäre, dann wird man immer
       auch ein schönes Leben im Sinn haben. Stil darf insofern als Kategorie des
       Überganges zwischen ästhetischer und ethischer Bewertung gelten.
       
       17 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Birgit Recki
       
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