# taz.de -- 30. Todestag des Rockkritikers Lester Bangs: Wenn Freuds Frau deine Mutter wäre
       
       > Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll. Auf diesen
       > Begriff brachte Greil Marcus die Arbeit des US-Rockkritikers Lester
       > Bangs.
       
 (IMG) Bild: Iggy Pop, der Superstar, als der er von Lester Bangs schon in den Siebzigern gesehen wurde.
       
       „Es gibt Erlebnisse, an die man sich sein ganzes Leben lang erinnert, wie
       der erste richtige Orgasmus. Und der ganze Sinn dieser absurden,
       mechanischen Beschäftigung mit aufgenommener Musik ist das Streben nach
       diesem unbezahlbaren Moment.“ Wer nicht glaubt, dass die Beschäftigung mit
       Musik zu Momenten führen kann, an die man sich erinnert wie an den ersten
       Orgasmus, der ist falsch bei Lester Bangs.
       
       Der Ekstatiker des Augenblicks wird fündig. Bei „Black Saint and the Sinner
       Lady“, ein Album von Charles Mingus aus dem Jahr 1963. Auch John Coltrane
       verschafft dem Suchenden unbezahlbare Momente. Van Morrisons „Astral
       Weeks“, Captain Beefheart, das Debütalbum von The Clash, so weit, so Kanon.
       
       Aber auch „Wooly Bully“, „ein unbeschreibliches Stück, das von ein paar
       Turban tragenden Typen aufgenommen worden war, die in einem Leichenwagen in
       der Gegend rumfuhren“. 1965er Kirmes-Tex-Mex von Sam The Sham & The
       Pharaohs. „Wild Thing“ von den Troggs, Steinzeithöhlen-Beat 1966.
       
       ## Humor und Autoscooter
       
       Man braucht Humor, um Lester Bangs zu verstehen. „Life is Not Worth Living
       (But Suicide’s a Waste of Time)“ ist der Titel seines einzigen Albums, bei
       Celine geborgt, erschienen ein Jahr vor dem frühen Tod am 30. April 1982,
       mit 33, Tabletten. Humor heißt, sich an Autoscooter-Musik zu erfreuen. An
       einem Songtitel von Mingus: „All the Things You Could Be By Now If Sigmund
       Freud’s Wife Was Your Mother.“
       
       All die Dinge, die du jetzt sein könntest, wenn Sigmund Freuds Frau deine
       Mutter wäre? Bangs borgt den Titel für eines seiner unvollendeten
       Buchprojekte: „All the Things You Could Be By Now If Iggy Pop’s Wife Was
       Your Mother“. Von Iggy war er besessen, wie von Lou Reed. Beide verfolgte
       er mit einer stalkerhaften Hassliebe, ein Fan, der die Widersprüche seines
       Idols nicht erträgt, aber noch viel weniger erträgt, zu den Widersprüchen
       zu schweigen.
       
       ## Vielleicht wird Iggy der Superstar
       
       Aus der Konzertkritik eines Iggy-Auftritts, erschienen in der Village Voice
       1977: „Er war so nackt in seiner Verletzlichkeit, dass es einem das Herz
       zerriss. Genau in diesem Moment realisierte ich, dass dieser Mann nicht
       wusste, was er tat, und vielleicht war es genau deswegen das Lebendigste,
       das ich je erlebt habe, ebenso wie die Show auf ’Metallic K.O.‘ zappelnd
       und obszön lebendig ist und die Person, die auf ’The Idiot‘ singt, wie ein
       Toter klingt.
       
       Vielleicht wird Iggy der Superstar, an den wir alle geglaubt haben. Über
       den Punkrock, den er praktisch mit links ins Leben rief, ist er längst
       hinaus, aber es gibt noch unbeantwortete Fragen und ein Leben, das von den
       Antworten abhängt, wobei ich mir noch nicht mal sicher bin, ob diese
       Antworten überhaupt existieren.“
       
       Das Lebendigste kursiv! Dabei weiß Bangs um die Konstruiertheit des
       Lebendigen, die Gemachtheit des Authentischen, den Glam des Fake. „Wie
       Richard Hell sagt, Rock ’n’ Roll ist eine Arena, in der man sich neu
       erschafft, und dieses Geschwafel über Authentizität ist nur ein Haufen
       Schrott. The Clash sind authentisch, weil ihre Musik brutale Überzeugung
       vermittelt, nicht weil sie edle Wilde sind.“
       
       ## Hochtouriger Vitalismus
       
       Typisch für Bangs’ hochtourigen Vitalismus, die selbstquälerische Suche
       nach Wahrheit. Die treibt ihn in Widersprüche, er treibt die Widersprüche
       weiter. Das Geschwafel über Authentizität. Aber The Clash dann doch
       authentisch?
       
       So genau, zweifelnd und skrupulös schreibt heute keiner mehr. Auch weil es
       keine Orte gibt, wo sich einer wie Bangs austoben könnte. Ein
       Berserkermoralist mit todsicherem Radar für Doppelmoral. So einer musste
       wohl früh sterben.
       
       30 Apr 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Walter
       
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