# taz.de -- Die Rückkehr des Punkrock: Ich! Bin! Wütend!
       
       > Punkrock ist wieder voll da. Mit Slime, den Toten Hosen und den Ärzten in
       > den deutschen Albumcharts und weltweit sowieso. Über die Aktualität der
       > musikalischen Wut.
       
 (IMG) Bild: Würdiger Ausdruck pubertären Verlangens: Punkfestival in Rangun, Birma.
       
       Die geschlechtslosen Beatles und ihre feministischen Jüngerinnen hatten mit
       ihrem ätherischem Pilzkopf-Geklampfe in den Sechzigern die Erotik
       abgeschafft, die jungsenilen 68er entwickelten sich zu lustfeindlichen
       Ökofaschisten und zogen sich in ihre vergilbten Lehrerzimmer zurück.
       
       Dies war die Geburtsstunde des Punk: 1976. Der US-Schriftsteller T. C.
       Boyle, auch er mit Wurzeln in der kalifornischen Punkszene, beschrieb
       diesen verlogenen Lebensreform-Lifestyle trefflich in seinem Roman
       „Willkommen in Welville“.
       
       Was Punk dann in Europa auslöste, das schafften zehn Jahre zuvor die Black
       Panthers in den USA mit ihrer Bezugnahme auf Hipster und Hustler der
       1920er: Es ging um das Recht des Körpers gegen die Zumutungen der
       Gesellschaft. Was bei „Shaft“ und Pam Grier als „Foxy Brown“ Lederkostüme
       und Muscle-Shirts waren, waren bei den Sex Pistols Bondage-Hosen und
       Nieten-Halsbänder.
       
       Die impertinente Form war der Inhalt: Spaßgesellschaft gegen
       Besinnlichkeitswahn, die masturbierende Nina Hagen gegen die grüne Heulsuse
       Petra Kelly. Hedonismus gegen Protestantismus. Punk war die triebhafte
       Rache am blutleeren Beat-Music-Appeasement der Sechziger.
       
       Wichtiger als aller Agitprop war an Punk aber der bedingungslose Rückbezug
       auf den antirationalen Körper. Die Texte zu den voluminösen Riffs wären oft
       gar nicht nötig gewesen, so viel Energie transportierten sie in den
       Thatcher-, Reagan- und Kohl-Jahren. Und doch waren Songs wie „5, 6, 7, 8,
       Bullenstaat“ (Die Ärzte) damals notwendig. Der wütende Track „Goldene
       Türme“ der Hamburger Polit-Punks von Slime ist bis heute gültig als Kritik
       an der unmenschlichen Asylpolitik Europas.
       
       Diese guten, alten Zeiten des Punk beschrieb der Mitbegründer der Toten
       Hosen, Trini Trimpop, kürzlich in seinem Romandebüt „Exzess all areas“. Es
       ist ein Parforceritt durch die drei Akkorde des 80er-Tournee-Suffs mit
       „biografischen Zügen“ und reichlich Selbstreflexion. „Man reißt sich den
       Arsch auf und dann bricht man zusammen und dann ist man von heute auf
       morgen einfach weg vom Fenster. Einfach so, ausgetauscht gegen einen
       Amateur, dem man eben selbst noch den Weg geebnet hat. Oder lag das alles
       an mir?“
       
       ## Politische Korrektheit
       
       Die Stärke von Trimpops Buch liegt darin, die wahnwitzigen Anmaßungen
       politischer Korrektheit zu beschreiben. Den sozialpädagogischen
       Spaßverboten der neuen Hippie-Spießer setzten Combos wie PVC (Westberlin)
       oder Tollwut (München, mit dem taz-Autor Michael Sailer) in ihren
       Auftritten im legendären Kreuzberger KZ36 eine nihilistische Attitüde der
       stilistischen Übertreibung entgegen. Und doch war es der verzweifelte
       Versuch, Politik und emanzipatorischen Style wieder zu versöhnen, in der
       Tradition der Boheme der Jahrhundertwende.
       
       Und nun? 30 Jahre nach der Geburt des deutschen Punk bewirbt der
       rotgefärbte Freelance-Irokese Sascha Lobo Vodafone, die Sparkasse und die
       SPD. Die Piraten sind für das „bedingungslose Grundeinkommen“, was die
       Anarchistische Pogo-Partei (APPD) schon seit 15 Jahren fordert. Und die
       Vogue empfiehlt ihren LeserInnen den „Punk-Chic“ der schwedischen
       Kino-Rebellin Lisbeth Salander mit Nieten-Accessoires und Outlaw-Boots.
       
       Punk ist beileibe nicht tot, er spielt sich vor allem in Stil-Zitaten ab,
       könnte man meinen und leicht melancholisch werden: Als er 1976 begann,
       stellten die Protagonisten dagegen noch Fragen, ohne gleich konstruktive
       Antworten mitzuliefern.
       
       Aber „No future – das war gestern / seitdem ist viel passiert“,
       konstatieren die Ärzte in ihrem aktuellen Song „Ist das noch Punkrock?“ und
       reagieren damit notwendig ironisch auf Ausverkaufsvorwürfe. Laut
       Verlagswerbung zum Trimpop-Buch geht es jetzt sogar um das „würdevolle
       Altern von Jugendbewegungen“ und „die Rolle des neuen Mannes“.
       
       Wirklich? Da sind die Pillen, die Trimpops Protagonist sich einschmeißt,
       wohl die einzig richtige Antwort. Denn Punk, und das ist der Unterschied zu
       fast allen anderen Jugendkulturen, war immer eine Impuls-Bewegung – eine,
       die nicht groß nachdachte, das war ihr „Markenkern“, wie man heute so sagt.
       
       ## „Trau keinem über Dreißig!“
       
       „Sich fügen heißt lügen“, so lautet die konservative Antwort von Slime. Ihr
       gleichnamiges neues Album ist soeben erschienen – zeitgleich mit den
       Jubiläums-Alben zu den 30. Geburtstagen der Toten Hosen und der Ärzte. Die
       Hosen sind mit ihrem neuen Album „Ballast der Republik“ gerade an der
       Spitze der deutschen Charts. „Trau keinem über Dreißig!“ – der alte
       Sponti-Spruch ist so richtig und falsch zugleich.
       
       Natürlich entzieht eine „Kommerzialisierung“ von Jugendkultur immer Wucht
       aus den Proberäumen im Keller, andererseits will doch jedes Solikonzert in
       linken Jugendzentren so viel Geld einnehmen wie möglich und jede noch so
       linke Band aus dem Kreuzberger Tommy-Weisbecker-Haus ihr Hobby zum Beruf
       machen. Die reine Lehre von der künstlerisch unberührten Punk-Szene ist
       schließlich nichts anderes als ein umgedrehtes Verkaufsargument mit
       aufgesetzter Street Credibility.
       
       Das herausragend Neue am Punk war schließlich nicht die reine Lehre des
       seminaristischen Gutmenschentums, sondern die körperlich artikulierte,
       unbändige Wut über den Wahnsinn der gesellschaftlichen Normalität, dem sich
       niemand entziehen kann. Und auch über Dreißig kann es da noch abgehen.
       
       Vor dem Kreuzberger Punkplattenladen Core Tex treffe ich die beiden Punks
       Pete und Lucas. Sie erzählen mir, für sie hätte Fun-Punk demgemäß die
       gleiche Berechtigung wie Bands mit politischen Texten: „Es geht darum, der
       Jugend ’ne Stimme zu geben. Punk geht voll in die Emotionen, schnell, wild
       und heftig. Komischerweise gibt es heute so viele Verbote zu allem
       möglichen, aber die Ungerechtigkeiten verbietet niemand. Punk versucht,
       diesem Verlogenen was Hartes und Lautes entgegenzusetzen. Es hilft einfach,
       wenn gegen diesen ganzen Fuck, den alle glauben, ein paar Leute mal Kontra
       geben. Das reißt aus der Lethargie, in der alle gefangen sind.“
       
       ## Vielleicht war Punk nie modern
       
       Punk revolutionierte tatsächlich nicht nur Popmusik, sondern auch die
       Kultur. Und bis heute erinnert er an das Versprechen einer anderen
       Gesellschaft, die weder menschen- noch lustfeindlich ist. Slime versuchen
       diese Assoziation zu erhalten mit ihrer aktuellen Vertonung der Texte von
       Erich Mühsam: „Niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind.“
       Vielleicht war Punk also nie so modern und werteverachtend wie sein
       werbeträchtiges Klischee, sondern er war immer eine romantische und
       materialistische Antwort auf reaktionäre Trendsetter, auch und vor allem
       von links.
       
       Bands wie die Kreuzberger Terrorgruppe rezitieren diesen Anspruch noch nach
       2001 mit dem „Fun“-damentalismus ihres Skatecore und forderten „Sex-Bomben
       gegen Terrorismus“. Die APPD setzt dem schizophrenen Arbeitsfetisch unter
       Hartz IV ihr dekadentes Motto „Saufen, saufen, saufen“ entgegen.
       
       Die Latzhosen-Piraten beschreibt ein konservativen Beobachter wie Arnulf
       Baring als „Teil der Infantilisierung der Gesellschaft“, im Gegensatz dazu
       war und ist Punk aber der würdige Ausdruck pubertären Verlangens. Sein
       spielerisches Verhältnis zum Körper lebt heute weiter im melodiöseren
       Emocore und seinem cosplay. Dieses private Verlangen nach
       „Selbstverwirklichung“ schafft immer noch seine Feinde.
       
       ## Punk als „soziale Krankheit"
       
       Das sieht man spätestens, wenn man über Deutschland hinausblickt. In Bagdad
       kommt es seit Monaten zu Lynchmorden an Emos durch islamistische Milizen.
       Auch in China und Indonesien gab es in letzter Zeit Hetzkampagnen gegen
       Emos und Punks. Nach einer Massenfestnahme in Aceh erklärte der örtliche
       Polizeichef, Punk sei eine „soziale Krankheit wider den Islam“.
       
       Gerade in Indonesien ist Punk tatsächlich Teil einer engagierten
       Jugendbewegung und der politischen Opposition. Viele Punks dort bezeichnen
       sich offensiv als moderate Muslime und klagen in ihren Songs nicht nur
       Korruption an, sondern auch die Lebensfeindlichkeit des politisierten
       Islam.
       
       Sowohl in Jakarta als auch in den Regenwald-Provinzen gibt es regelmäßig
       Punkkonzerte, auch von Frauen-Hardcore-Bands wie Supernana, deren
       Mitglieder teilweise Hidschab tragen. In Malaysia hat es die Girlpunkband
       Shh… Diam! (Halt’s Maul!) zu Bekanntheit gebracht. Ihr Programm lautet:
       Privatismus und Aneignung des Lebens.
       
       Die aktuelle Bandbreite der globalen Punkszene von den antiislamistischen
       conservative punks in den USA über den migrantischen Taqwa-Core von London,
       über obdachlose Straßen-Punks am Berliner Alex und die Anarcho-Crusties von
       Athen und Rom bis zu den Underground-Bands im Maghreb oder im Iran verweist
       gerade nicht auf die Unterschiede, sondern auf eine Gemeinsamkeit des
       persönlichen Impulses: das uneingeschränkte Recht der Individualität gegen
       jedwede Form kollektivistischer Kujonierung.
       
       25 May 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Marcel Malachowski
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Slime
 (DIR) Popmusik
 (DIR) Madonna
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) AfD versucht Slime-Konzert zu verhindern: „Ganz Hamburg hasst die AfD!“
       
       Die AfD wollte das Slime-Konzert beim Hafengeburtstag per Antrag in der
       Bürgerschaft verbieten lassen. Damit ist sie nicht durchgekommen.
       
 (DIR) Sachbuch über Unhöflichkeit: Die Königin ist kein Mensch
       
       Verwüstete Hotelzimmer gehörten im Pop einst zum guten Ton. Thomas
       Mießgangs „Scheiß drauf!“ ist eine Kulturgeschichte der Unhöflichkeit.
       
 (DIR) Sängerinnen und Sirenen: Zum Sterben schön
       
       Bei Homer wurden die Sirenen eingeführt, diese Zwitterwesen aus Vogel und
       Frau. Was ist aus ihnen geworden?
       
 (DIR) Urvater des Punk verkauft sich im Netz: Iggy Pop ist leicht zu haben
       
       Iggy, bist du’s? Was ist mit dir passiert, was hat dich bloß so ruiniert?
       Du, Urvater des Punk, zierst die Startseite von Vente-privee.com – einer
       teuren Online-Resterampe.
       
 (DIR) 30. Todestag des Rockkritikers Lester Bangs: Wenn Freuds Frau deine Mutter wäre
       
       Rock'n'Roll als Literatur und Literatur als Rock'n'Roll. Auf diesen Begriff
       brachte Greil Marcus die Arbeit des US-Rockkritikers Lester Bangs.
       
 (DIR) 30 Jahre Die Toten Hosen: „Ich hab das alles im Herzen“
       
       Walter November war dabei, als alles anfing bei den Toten Hosen. Ein
       Gespräch über Bommerlunder, zerstörte Platten und wie man in Ruhe ein
       Rebell bleibt.